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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Tolstoi und Jhering.

das eine wie an das andre Prinzip zu halten. Ergiebt sich für meine Person
in einem solchen Falle die Unmmöglichkeit der Anwendung des einen oder des
andern Prinzips, so habe ich für meine Person die gesuchte Grenzlinie ge¬
funden.

Nehmen wir also an, es versetzt mir jemand einen Schlag. Nach Jhering
werde ich mir dies nicht gefalle" lassen, nach Tolstoi werde ich wegen der Sache
kein Aufhebens machen und thu", als ob nichts geschehen wäre. Praktisch
möglich ist das eine wie das andre. Gesetzt aber, ich sehe, daß er meiner
Mutter einen Schlag versetzen will. Soll ich da ruhig sitzen bleiben und das
Übel geschehen lassen, oder wenn es geschehen wäre, soll ich mich dazu ruhig
verhalten, als ob nichts geschehen wäre? Mag dies, wer es kann, ich könnte
es nicht. Oder: jemand behandelt mich mit Geringschätzung. Ich könnte es
ihn, vergelten und gelegentlich heimzahlen, ich kann darüber auch schweigend
hinweggehen, beides ist möglich. Ich sehe aber, daß er auch meinen Vater mit
Geringschätzung behandelt, soll ich es ruhig dulden? Mag dies, wer es kann,
ich kann es nicht. Oder: jemand bestellt mich auf dem Sterbebette zum Vor¬
munde seines Kindes. Wenn nun diesem Kinde von irgend einer Seite, sei es
aus Bosheit, sei es ans Unverstand, ein Übel droht, soll ich dem Übel nicht
widerstreben? Entschieden werde ich es. Oder: jemand ist mir eine Summe
Geldes schuldig und leugnet es. Nach Jhering werde ich meine Forderung
mit alleu rechtlichen Mitteln geltend machen, uach Tolstoi werde ich ihn laufen
lassen. Beides ist praktisch möglich. Er fügt dieses Übel aber nicht mir, son¬
dern meinem Freunde zu, und mein Freund kann das ihn betreffende Übel
nicht anders beseitigen, als dadurch, daß ich, der ich von der Schuldsumme
weiß, bei Gericht ein Zeugnis ablege. Werde ich da schweigend das Übel ge¬
schehen lassen? Gewiß nicht. Oder endlich: ein Dieb bestiehlt mich. Nach
Jhering werde ich sofort die nötigen Schritte zur Wiedererlangung meines
Eigentums einleiten; nach Tolstoi werde ich auf mein Eigentum verzichten;
beides ist möglich. Allein das gestohlene Gut gehört gar nicht mir; ein Freund
hat es nur vor seiner Abreise zur Aufbewahrung übergeben. Werde ich nicht
alles anwenden, um das Gestohlene wieder zu erlangen? Ganz unzweifelhaft.

Wenn ich mich nun frage, was in allen diesen Füllen mein Verhalten be¬
stimmt, so zeigt sich mir ein gemeinsames Merkmal meiner Willensbestimmung.
So lange das Übel mich persönlich trifft, kann ich verzichten, also kann mir
in allen diesen Füllen Tolstois Prinzip zur Richtschnur dienen; sobald aber
das Übel nicht mich, sondern einen andern trifft, hört meinerseits jeder Verzicht
auf. Auf mein Recht kaun ich verzichten, auf das Recht eines andern zu ver¬
zichten, dazu habe ich kein Recht.

Tolstoi hat einmal eine Erzählung geschrieben, die jedem, der sich für das
hier behandelte Thema interessirt, empfohlen sei; sie heißt: "Luzern." In
dieser ergreifenden Geschichte schildert der Verfasser nnter andern in nachdrück-


Tolstoi und Jhering.

das eine wie an das andre Prinzip zu halten. Ergiebt sich für meine Person
in einem solchen Falle die Unmmöglichkeit der Anwendung des einen oder des
andern Prinzips, so habe ich für meine Person die gesuchte Grenzlinie ge¬
funden.

Nehmen wir also an, es versetzt mir jemand einen Schlag. Nach Jhering
werde ich mir dies nicht gefalle» lassen, nach Tolstoi werde ich wegen der Sache
kein Aufhebens machen und thu», als ob nichts geschehen wäre. Praktisch
möglich ist das eine wie das andre. Gesetzt aber, ich sehe, daß er meiner
Mutter einen Schlag versetzen will. Soll ich da ruhig sitzen bleiben und das
Übel geschehen lassen, oder wenn es geschehen wäre, soll ich mich dazu ruhig
verhalten, als ob nichts geschehen wäre? Mag dies, wer es kann, ich könnte
es nicht. Oder: jemand behandelt mich mit Geringschätzung. Ich könnte es
ihn, vergelten und gelegentlich heimzahlen, ich kann darüber auch schweigend
hinweggehen, beides ist möglich. Ich sehe aber, daß er auch meinen Vater mit
Geringschätzung behandelt, soll ich es ruhig dulden? Mag dies, wer es kann,
ich kann es nicht. Oder: jemand bestellt mich auf dem Sterbebette zum Vor¬
munde seines Kindes. Wenn nun diesem Kinde von irgend einer Seite, sei es
aus Bosheit, sei es ans Unverstand, ein Übel droht, soll ich dem Übel nicht
widerstreben? Entschieden werde ich es. Oder: jemand ist mir eine Summe
Geldes schuldig und leugnet es. Nach Jhering werde ich meine Forderung
mit alleu rechtlichen Mitteln geltend machen, uach Tolstoi werde ich ihn laufen
lassen. Beides ist praktisch möglich. Er fügt dieses Übel aber nicht mir, son¬
dern meinem Freunde zu, und mein Freund kann das ihn betreffende Übel
nicht anders beseitigen, als dadurch, daß ich, der ich von der Schuldsumme
weiß, bei Gericht ein Zeugnis ablege. Werde ich da schweigend das Übel ge¬
schehen lassen? Gewiß nicht. Oder endlich: ein Dieb bestiehlt mich. Nach
Jhering werde ich sofort die nötigen Schritte zur Wiedererlangung meines
Eigentums einleiten; nach Tolstoi werde ich auf mein Eigentum verzichten;
beides ist möglich. Allein das gestohlene Gut gehört gar nicht mir; ein Freund
hat es nur vor seiner Abreise zur Aufbewahrung übergeben. Werde ich nicht
alles anwenden, um das Gestohlene wieder zu erlangen? Ganz unzweifelhaft.

Wenn ich mich nun frage, was in allen diesen Füllen mein Verhalten be¬
stimmt, so zeigt sich mir ein gemeinsames Merkmal meiner Willensbestimmung.
So lange das Übel mich persönlich trifft, kann ich verzichten, also kann mir
in allen diesen Füllen Tolstois Prinzip zur Richtschnur dienen; sobald aber
das Übel nicht mich, sondern einen andern trifft, hört meinerseits jeder Verzicht
auf. Auf mein Recht kaun ich verzichten, auf das Recht eines andern zu ver¬
zichten, dazu habe ich kein Recht.

Tolstoi hat einmal eine Erzählung geschrieben, die jedem, der sich für das
hier behandelte Thema interessirt, empfohlen sei; sie heißt: „Luzern." In
dieser ergreifenden Geschichte schildert der Verfasser nnter andern in nachdrück-


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[0416] Tolstoi und Jhering. das eine wie an das andre Prinzip zu halten. Ergiebt sich für meine Person in einem solchen Falle die Unmmöglichkeit der Anwendung des einen oder des andern Prinzips, so habe ich für meine Person die gesuchte Grenzlinie ge¬ funden. Nehmen wir also an, es versetzt mir jemand einen Schlag. Nach Jhering werde ich mir dies nicht gefalle» lassen, nach Tolstoi werde ich wegen der Sache kein Aufhebens machen und thu», als ob nichts geschehen wäre. Praktisch möglich ist das eine wie das andre. Gesetzt aber, ich sehe, daß er meiner Mutter einen Schlag versetzen will. Soll ich da ruhig sitzen bleiben und das Übel geschehen lassen, oder wenn es geschehen wäre, soll ich mich dazu ruhig verhalten, als ob nichts geschehen wäre? Mag dies, wer es kann, ich könnte es nicht. Oder: jemand behandelt mich mit Geringschätzung. Ich könnte es ihn, vergelten und gelegentlich heimzahlen, ich kann darüber auch schweigend hinweggehen, beides ist möglich. Ich sehe aber, daß er auch meinen Vater mit Geringschätzung behandelt, soll ich es ruhig dulden? Mag dies, wer es kann, ich kann es nicht. Oder: jemand bestellt mich auf dem Sterbebette zum Vor¬ munde seines Kindes. Wenn nun diesem Kinde von irgend einer Seite, sei es aus Bosheit, sei es ans Unverstand, ein Übel droht, soll ich dem Übel nicht widerstreben? Entschieden werde ich es. Oder: jemand ist mir eine Summe Geldes schuldig und leugnet es. Nach Jhering werde ich meine Forderung mit alleu rechtlichen Mitteln geltend machen, uach Tolstoi werde ich ihn laufen lassen. Beides ist praktisch möglich. Er fügt dieses Übel aber nicht mir, son¬ dern meinem Freunde zu, und mein Freund kann das ihn betreffende Übel nicht anders beseitigen, als dadurch, daß ich, der ich von der Schuldsumme weiß, bei Gericht ein Zeugnis ablege. Werde ich da schweigend das Übel ge¬ schehen lassen? Gewiß nicht. Oder endlich: ein Dieb bestiehlt mich. Nach Jhering werde ich sofort die nötigen Schritte zur Wiedererlangung meines Eigentums einleiten; nach Tolstoi werde ich auf mein Eigentum verzichten; beides ist möglich. Allein das gestohlene Gut gehört gar nicht mir; ein Freund hat es nur vor seiner Abreise zur Aufbewahrung übergeben. Werde ich nicht alles anwenden, um das Gestohlene wieder zu erlangen? Ganz unzweifelhaft. Wenn ich mich nun frage, was in allen diesen Füllen mein Verhalten be¬ stimmt, so zeigt sich mir ein gemeinsames Merkmal meiner Willensbestimmung. So lange das Übel mich persönlich trifft, kann ich verzichten, also kann mir in allen diesen Füllen Tolstois Prinzip zur Richtschnur dienen; sobald aber das Übel nicht mich, sondern einen andern trifft, hört meinerseits jeder Verzicht auf. Auf mein Recht kaun ich verzichten, auf das Recht eines andern zu ver¬ zichten, dazu habe ich kein Recht. Tolstoi hat einmal eine Erzählung geschrieben, die jedem, der sich für das hier behandelte Thema interessirt, empfohlen sei; sie heißt: „Luzern." In dieser ergreifenden Geschichte schildert der Verfasser nnter andern in nachdrück-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/416>, abgerufen am 28.07.2024.