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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Tolstoi und Jhering.

und rühmt als nachahmenswertes Muster "die typisch gewordene Figur des
reisenden Engländers, der dem Versuch einer Prellerei von seiten der Gastwirte
und Lohnkutscher mit einer Mannhaftigkeit entgegentritt, als gelte es, das Recht
Altenglands zu verteidigen."

Jhering ist zwar, wie er ausdrücklich erklärt, weit davon entfernt, die ge¬
meine Prozeszsucht zu billigen, er verlangt vielmehr den Kampf nur da, wo der
Angriff auf das Recht eine Mißachtung der Person enthält; Tolstoi aber er¬
mahnt uns, auch die Beschimpfung geduldig zu ertragen. Nach Jhering muß
z. B. ein Volk, dem widerrechtlich eine Quadratmeile öden, wertlosen Landes
genommen wird, den Krieg beginnen. Tolstoi hat auch in Beziehung auf diesen
Punkt eine ganz andre Empfindung; er lehrt uns auch in diesem Falle: Wider¬
strebet nicht dem Übel!

Was sich nun dem Leser zunächst aufdrängen wird, das ist die Frage, ob
denn ein solches Prinzip der völligen Verzichtleistung auch praktisch durchführ¬
bar sei, und die Thatsache, daß das Evangelium und das historisch gewordene
Christentum zwei von einander so ganz verschiedne Gesichter zeigen, verleiht
dem in jener Frage ausgedrückten Zweifel eine starke Stütze. Tolstoi war
scharfsichtig genug, diesen Zweifel vorherzusehen; er läßt aber keine Einwendung
gegen die Brauchbarkeit seines Prinzips gelten. In der That ist ein Zweifel
oder gar ein vornehmes Belächeln keine Widerlegung. Es ist nichts leichter,
als sich über einen so unbequemen Manu wie Tolstoi lustig zu macheu und
ihn der Klasse jener Sonderlinge beizuzählen, an denen es zu keiner Zeit gefehlt
hat; es ist bequemer zu spotten, als mit Beweisgründen zu kämpfen; man muß
aber nicht glauben, Beweisgründe, weil man sie zur Seite schiebt, darum auch
wirklich beseitigt zu haben. Daß der Angegriffene sich wehrt, daß der natür¬
liche Trieb ihn zur Abwehr des Angriffes treibt, wem braucht man das zu
sagen? Sehen wir es doch alle Tage und uicht nur im Verkehr der Menschen,
sondern auch im Leben der Tiere. Dem eingebornen Triebe gegenüber erscheint
das Erdulden des Übels ohne Kampf allerdings als etwas Unnatürliches, und
man ist leicht geneigt, das wehrlose Erdulden einer gewissen Schlaffheit des
Geistes zuzuschreiben. Das thut denn auch Jhering, und in vielen Fällen ist
das auch gewiß richtig. Aber immer? Durchaus nicht. Das freiwillige Auf¬
geben der uns von Jhering so nachdrücklich empfohlenen immerwährenden Kampf¬
bereitschaft kann ebensowohl ans Überlegung und Besinnung, wie aus Feigheit,
Stumpfsinn und Bequemlichkeit hervorgehen, und zwischen diesen beiden Stufen
besteht ein Unterschied, wie bezüglich der Erkenntnis zwischen dem Nichtswisscn
desjenigen, der nichts gelernt hat, und dem sokratischen Nichtwissen desjenigen,
der, an der Grenze des Erkennbaren angelangt, einsieht, daß wir nichts wissen.
Wer auf die Verteidigung seines Rechtes verzichtet, weil er, wie Tolstoi, in er¬
habener Betrachtung des Weltenlaufes zu der Erkenntnis gelangt, es sei besser,
dem Übel nicht zu widerstreben, ist gegen das Unrecht keineswegs stumpf, im


Tolstoi und Jhering.

und rühmt als nachahmenswertes Muster „die typisch gewordene Figur des
reisenden Engländers, der dem Versuch einer Prellerei von seiten der Gastwirte
und Lohnkutscher mit einer Mannhaftigkeit entgegentritt, als gelte es, das Recht
Altenglands zu verteidigen."

Jhering ist zwar, wie er ausdrücklich erklärt, weit davon entfernt, die ge¬
meine Prozeszsucht zu billigen, er verlangt vielmehr den Kampf nur da, wo der
Angriff auf das Recht eine Mißachtung der Person enthält; Tolstoi aber er¬
mahnt uns, auch die Beschimpfung geduldig zu ertragen. Nach Jhering muß
z. B. ein Volk, dem widerrechtlich eine Quadratmeile öden, wertlosen Landes
genommen wird, den Krieg beginnen. Tolstoi hat auch in Beziehung auf diesen
Punkt eine ganz andre Empfindung; er lehrt uns auch in diesem Falle: Wider¬
strebet nicht dem Übel!

Was sich nun dem Leser zunächst aufdrängen wird, das ist die Frage, ob
denn ein solches Prinzip der völligen Verzichtleistung auch praktisch durchführ¬
bar sei, und die Thatsache, daß das Evangelium und das historisch gewordene
Christentum zwei von einander so ganz verschiedne Gesichter zeigen, verleiht
dem in jener Frage ausgedrückten Zweifel eine starke Stütze. Tolstoi war
scharfsichtig genug, diesen Zweifel vorherzusehen; er läßt aber keine Einwendung
gegen die Brauchbarkeit seines Prinzips gelten. In der That ist ein Zweifel
oder gar ein vornehmes Belächeln keine Widerlegung. Es ist nichts leichter,
als sich über einen so unbequemen Manu wie Tolstoi lustig zu macheu und
ihn der Klasse jener Sonderlinge beizuzählen, an denen es zu keiner Zeit gefehlt
hat; es ist bequemer zu spotten, als mit Beweisgründen zu kämpfen; man muß
aber nicht glauben, Beweisgründe, weil man sie zur Seite schiebt, darum auch
wirklich beseitigt zu haben. Daß der Angegriffene sich wehrt, daß der natür¬
liche Trieb ihn zur Abwehr des Angriffes treibt, wem braucht man das zu
sagen? Sehen wir es doch alle Tage und uicht nur im Verkehr der Menschen,
sondern auch im Leben der Tiere. Dem eingebornen Triebe gegenüber erscheint
das Erdulden des Übels ohne Kampf allerdings als etwas Unnatürliches, und
man ist leicht geneigt, das wehrlose Erdulden einer gewissen Schlaffheit des
Geistes zuzuschreiben. Das thut denn auch Jhering, und in vielen Fällen ist
das auch gewiß richtig. Aber immer? Durchaus nicht. Das freiwillige Auf¬
geben der uns von Jhering so nachdrücklich empfohlenen immerwährenden Kampf¬
bereitschaft kann ebensowohl ans Überlegung und Besinnung, wie aus Feigheit,
Stumpfsinn und Bequemlichkeit hervorgehen, und zwischen diesen beiden Stufen
besteht ein Unterschied, wie bezüglich der Erkenntnis zwischen dem Nichtswisscn
desjenigen, der nichts gelernt hat, und dem sokratischen Nichtwissen desjenigen,
der, an der Grenze des Erkennbaren angelangt, einsieht, daß wir nichts wissen.
Wer auf die Verteidigung seines Rechtes verzichtet, weil er, wie Tolstoi, in er¬
habener Betrachtung des Weltenlaufes zu der Erkenntnis gelangt, es sei besser,
dem Übel nicht zu widerstreben, ist gegen das Unrecht keineswegs stumpf, im


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[0413] Tolstoi und Jhering. und rühmt als nachahmenswertes Muster „die typisch gewordene Figur des reisenden Engländers, der dem Versuch einer Prellerei von seiten der Gastwirte und Lohnkutscher mit einer Mannhaftigkeit entgegentritt, als gelte es, das Recht Altenglands zu verteidigen." Jhering ist zwar, wie er ausdrücklich erklärt, weit davon entfernt, die ge¬ meine Prozeszsucht zu billigen, er verlangt vielmehr den Kampf nur da, wo der Angriff auf das Recht eine Mißachtung der Person enthält; Tolstoi aber er¬ mahnt uns, auch die Beschimpfung geduldig zu ertragen. Nach Jhering muß z. B. ein Volk, dem widerrechtlich eine Quadratmeile öden, wertlosen Landes genommen wird, den Krieg beginnen. Tolstoi hat auch in Beziehung auf diesen Punkt eine ganz andre Empfindung; er lehrt uns auch in diesem Falle: Wider¬ strebet nicht dem Übel! Was sich nun dem Leser zunächst aufdrängen wird, das ist die Frage, ob denn ein solches Prinzip der völligen Verzichtleistung auch praktisch durchführ¬ bar sei, und die Thatsache, daß das Evangelium und das historisch gewordene Christentum zwei von einander so ganz verschiedne Gesichter zeigen, verleiht dem in jener Frage ausgedrückten Zweifel eine starke Stütze. Tolstoi war scharfsichtig genug, diesen Zweifel vorherzusehen; er läßt aber keine Einwendung gegen die Brauchbarkeit seines Prinzips gelten. In der That ist ein Zweifel oder gar ein vornehmes Belächeln keine Widerlegung. Es ist nichts leichter, als sich über einen so unbequemen Manu wie Tolstoi lustig zu macheu und ihn der Klasse jener Sonderlinge beizuzählen, an denen es zu keiner Zeit gefehlt hat; es ist bequemer zu spotten, als mit Beweisgründen zu kämpfen; man muß aber nicht glauben, Beweisgründe, weil man sie zur Seite schiebt, darum auch wirklich beseitigt zu haben. Daß der Angegriffene sich wehrt, daß der natür¬ liche Trieb ihn zur Abwehr des Angriffes treibt, wem braucht man das zu sagen? Sehen wir es doch alle Tage und uicht nur im Verkehr der Menschen, sondern auch im Leben der Tiere. Dem eingebornen Triebe gegenüber erscheint das Erdulden des Übels ohne Kampf allerdings als etwas Unnatürliches, und man ist leicht geneigt, das wehrlose Erdulden einer gewissen Schlaffheit des Geistes zuzuschreiben. Das thut denn auch Jhering, und in vielen Fällen ist das auch gewiß richtig. Aber immer? Durchaus nicht. Das freiwillige Auf¬ geben der uns von Jhering so nachdrücklich empfohlenen immerwährenden Kampf¬ bereitschaft kann ebensowohl ans Überlegung und Besinnung, wie aus Feigheit, Stumpfsinn und Bequemlichkeit hervorgehen, und zwischen diesen beiden Stufen besteht ein Unterschied, wie bezüglich der Erkenntnis zwischen dem Nichtswisscn desjenigen, der nichts gelernt hat, und dem sokratischen Nichtwissen desjenigen, der, an der Grenze des Erkennbaren angelangt, einsieht, daß wir nichts wissen. Wer auf die Verteidigung seines Rechtes verzichtet, weil er, wie Tolstoi, in er¬ habener Betrachtung des Weltenlaufes zu der Erkenntnis gelangt, es sei besser, dem Übel nicht zu widerstreben, ist gegen das Unrecht keineswegs stumpf, im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/413>, abgerufen am 28.07.2024.