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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Tolstoi und Jhering.

ihn nicht kümmere; ich lasse ihn verhungern und verhalte mich dabei voll¬
kommen rechtlich, aber nicht -- moralisch. Die Moral verlangt, daß ich
(vorausgesetzt, daß ich es kann, und selbst wenn ich mir dadurch ein Opfer
auferlege) meinen Nebenmenschen nicht verhungern lasse. Also selbst unter einer
so günstigen, den thatsächlichen Verhältnissen keineswegs entsprechenden Voraus¬
setzung vermöchte man mit dem Rechte allein ohne Moral nicht auszukommen.
Wie erst, wenn dieser Voraussetzung die Wirklichkeit jeden Tag Hohn spricht!

Niemand hat für den Unterschied zwischen Recht und Moral einen tiefern
Blick gehabt als Christus; er steht demgemäß fast immer auf dem Standpunkte
der Moral und nicht auf dem des Rechts. Das zeigt sein Verhalten gegen
die Wechsler, das zeigt die Geschichte von der Ehebrecherin, die Geschichte vom
verlorenen Sohn, das zeigen mehrere andre Gleichnisse und Parabeln, und ganz
unmittelbar und unverhüllt verkündet es die Bergpredigt. Von Rechts wegen
hätte er die Wechsler nicht aus dem Tempel hinausjagen dürfen, von Rechts
wegen durfte er die Ehebrecherin nicht freisprechen. Das Evangelium hat eine
neue moralische Empfindung in die Welt gebracht. Sie ist formulirt in den
beiden Forderungen: Widerstrebet nicht dem Übel! Liebet eure Feinde! In
den Urchristengemeindcn war diese Empfindung auch wirklich lebendig. So
lange die Christen wegen ihres Glaubens verfolgt wurden, erquickten sie das
Herz an den erhabenen Lehren der neuen Moral, von welcher die Völker um
sie her nichts wußten; sie beeiferten sich, der Lehre Jesu nachzuleben und Böses
mit Gutem zu vergelten. Aber schon zur Zeit Konstantins hatte der Duft dieser
schönen Empfindung sich verflüchtigt, und was davon zurückblieb, war eine --
Idee, eine Lehre, die man als erhaben anerkannte, ja sogar bewunderte, aber
nicht mehr befolgte. Und so ist es im wesentlichen geblieben bis auf den heu¬
tigen Tag.

"Ich habe -- so erzählt Tolstoi -- unlängst mit einem jüdischen Rabbiner
das fünfte Kapitel Matthäi gelesen. Fast bei jedem Satze sagte der Rabbiner:
Dies steht in der Bibel, dies steht im Talmud, und zeigte mir in der Bibel
und im Talmud sehr ähnliche Stellen, wie wir sie in der Bergpredigt besitzen.
Als wir jedoch zu dem Verse gelangten: Widerstrebet nicht dem Übel, sagte er
nicht: Auch das steht im Talmud, sondern fragte mich nur spöttisch: Und die
Christen erfüllen dies? bieten sie den andern Backen?"

Tolstoi macht nun Ernst mit dem Evangelium, er will die evangelische
Moral wieder lebendig mache", er will ein praktisches Christentum im evan¬
gelischen Sinne, er will die Auferstehung der von Jesus gepredigten Sitten¬
lehre. Tolstoi setzt die in den Archiven der Kirche ",c1 g-vo gelegte Liebe und
Demut der evangelischen Moral von neuem auf die Tagesordnung, und darum
wird er nicht müde, uns zuzurufen: Widerstrebet nicht dem Übel! Auf der
andern Seite ermuntert uns ebenso unermüdlich Jhering zum Kampf ums Recht,
gleich als ob wir in dieser Beziehung bisher viel zu saumselig gewesen wären,


Tolstoi und Jhering.

ihn nicht kümmere; ich lasse ihn verhungern und verhalte mich dabei voll¬
kommen rechtlich, aber nicht — moralisch. Die Moral verlangt, daß ich
(vorausgesetzt, daß ich es kann, und selbst wenn ich mir dadurch ein Opfer
auferlege) meinen Nebenmenschen nicht verhungern lasse. Also selbst unter einer
so günstigen, den thatsächlichen Verhältnissen keineswegs entsprechenden Voraus¬
setzung vermöchte man mit dem Rechte allein ohne Moral nicht auszukommen.
Wie erst, wenn dieser Voraussetzung die Wirklichkeit jeden Tag Hohn spricht!

Niemand hat für den Unterschied zwischen Recht und Moral einen tiefern
Blick gehabt als Christus; er steht demgemäß fast immer auf dem Standpunkte
der Moral und nicht auf dem des Rechts. Das zeigt sein Verhalten gegen
die Wechsler, das zeigt die Geschichte von der Ehebrecherin, die Geschichte vom
verlorenen Sohn, das zeigen mehrere andre Gleichnisse und Parabeln, und ganz
unmittelbar und unverhüllt verkündet es die Bergpredigt. Von Rechts wegen
hätte er die Wechsler nicht aus dem Tempel hinausjagen dürfen, von Rechts
wegen durfte er die Ehebrecherin nicht freisprechen. Das Evangelium hat eine
neue moralische Empfindung in die Welt gebracht. Sie ist formulirt in den
beiden Forderungen: Widerstrebet nicht dem Übel! Liebet eure Feinde! In
den Urchristengemeindcn war diese Empfindung auch wirklich lebendig. So
lange die Christen wegen ihres Glaubens verfolgt wurden, erquickten sie das
Herz an den erhabenen Lehren der neuen Moral, von welcher die Völker um
sie her nichts wußten; sie beeiferten sich, der Lehre Jesu nachzuleben und Böses
mit Gutem zu vergelten. Aber schon zur Zeit Konstantins hatte der Duft dieser
schönen Empfindung sich verflüchtigt, und was davon zurückblieb, war eine —
Idee, eine Lehre, die man als erhaben anerkannte, ja sogar bewunderte, aber
nicht mehr befolgte. Und so ist es im wesentlichen geblieben bis auf den heu¬
tigen Tag.

„Ich habe — so erzählt Tolstoi — unlängst mit einem jüdischen Rabbiner
das fünfte Kapitel Matthäi gelesen. Fast bei jedem Satze sagte der Rabbiner:
Dies steht in der Bibel, dies steht im Talmud, und zeigte mir in der Bibel
und im Talmud sehr ähnliche Stellen, wie wir sie in der Bergpredigt besitzen.
Als wir jedoch zu dem Verse gelangten: Widerstrebet nicht dem Übel, sagte er
nicht: Auch das steht im Talmud, sondern fragte mich nur spöttisch: Und die
Christen erfüllen dies? bieten sie den andern Backen?"

Tolstoi macht nun Ernst mit dem Evangelium, er will die evangelische
Moral wieder lebendig mache», er will ein praktisches Christentum im evan¬
gelischen Sinne, er will die Auferstehung der von Jesus gepredigten Sitten¬
lehre. Tolstoi setzt die in den Archiven der Kirche »,c1 g-vo gelegte Liebe und
Demut der evangelischen Moral von neuem auf die Tagesordnung, und darum
wird er nicht müde, uns zuzurufen: Widerstrebet nicht dem Übel! Auf der
andern Seite ermuntert uns ebenso unermüdlich Jhering zum Kampf ums Recht,
gleich als ob wir in dieser Beziehung bisher viel zu saumselig gewesen wären,


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[0412] Tolstoi und Jhering. ihn nicht kümmere; ich lasse ihn verhungern und verhalte mich dabei voll¬ kommen rechtlich, aber nicht — moralisch. Die Moral verlangt, daß ich (vorausgesetzt, daß ich es kann, und selbst wenn ich mir dadurch ein Opfer auferlege) meinen Nebenmenschen nicht verhungern lasse. Also selbst unter einer so günstigen, den thatsächlichen Verhältnissen keineswegs entsprechenden Voraus¬ setzung vermöchte man mit dem Rechte allein ohne Moral nicht auszukommen. Wie erst, wenn dieser Voraussetzung die Wirklichkeit jeden Tag Hohn spricht! Niemand hat für den Unterschied zwischen Recht und Moral einen tiefern Blick gehabt als Christus; er steht demgemäß fast immer auf dem Standpunkte der Moral und nicht auf dem des Rechts. Das zeigt sein Verhalten gegen die Wechsler, das zeigt die Geschichte von der Ehebrecherin, die Geschichte vom verlorenen Sohn, das zeigen mehrere andre Gleichnisse und Parabeln, und ganz unmittelbar und unverhüllt verkündet es die Bergpredigt. Von Rechts wegen hätte er die Wechsler nicht aus dem Tempel hinausjagen dürfen, von Rechts wegen durfte er die Ehebrecherin nicht freisprechen. Das Evangelium hat eine neue moralische Empfindung in die Welt gebracht. Sie ist formulirt in den beiden Forderungen: Widerstrebet nicht dem Übel! Liebet eure Feinde! In den Urchristengemeindcn war diese Empfindung auch wirklich lebendig. So lange die Christen wegen ihres Glaubens verfolgt wurden, erquickten sie das Herz an den erhabenen Lehren der neuen Moral, von welcher die Völker um sie her nichts wußten; sie beeiferten sich, der Lehre Jesu nachzuleben und Böses mit Gutem zu vergelten. Aber schon zur Zeit Konstantins hatte der Duft dieser schönen Empfindung sich verflüchtigt, und was davon zurückblieb, war eine — Idee, eine Lehre, die man als erhaben anerkannte, ja sogar bewunderte, aber nicht mehr befolgte. Und so ist es im wesentlichen geblieben bis auf den heu¬ tigen Tag. „Ich habe — so erzählt Tolstoi — unlängst mit einem jüdischen Rabbiner das fünfte Kapitel Matthäi gelesen. Fast bei jedem Satze sagte der Rabbiner: Dies steht in der Bibel, dies steht im Talmud, und zeigte mir in der Bibel und im Talmud sehr ähnliche Stellen, wie wir sie in der Bergpredigt besitzen. Als wir jedoch zu dem Verse gelangten: Widerstrebet nicht dem Übel, sagte er nicht: Auch das steht im Talmud, sondern fragte mich nur spöttisch: Und die Christen erfüllen dies? bieten sie den andern Backen?" Tolstoi macht nun Ernst mit dem Evangelium, er will die evangelische Moral wieder lebendig mache», er will ein praktisches Christentum im evan¬ gelischen Sinne, er will die Auferstehung der von Jesus gepredigten Sitten¬ lehre. Tolstoi setzt die in den Archiven der Kirche »,c1 g-vo gelegte Liebe und Demut der evangelischen Moral von neuem auf die Tagesordnung, und darum wird er nicht müde, uns zuzurufen: Widerstrebet nicht dem Übel! Auf der andern Seite ermuntert uns ebenso unermüdlich Jhering zum Kampf ums Recht, gleich als ob wir in dieser Beziehung bisher viel zu saumselig gewesen wären,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/412>, abgerufen am 28.07.2024.