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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Tolstoi und Jhering.

wollte Wohl keines von beiden; müßte ich aber eins von beiden, so würde ich
es vorziehen, lieber Unrecht zu leiden als Unrecht zu thun. Diese Moral ist
zwar von der der Bergpredigt noch weit entfernt, sie enthält ein reflektirendes
Element, welches der Meister von Nazareth in der Unbedingtheit seiner sittlichen
Forderung gänzlich ausgeschlossen hat; immerhin aber verlangt die sokratische
Sittenlehre wenigstens für den Fall einer Wahlentscheidung zwischen Unrecht
thun und Unrecht leiden entschieden das letztere. Man kann hier sogar auf
den "Kriton" hinweisen, worin der Gedanke des Nichtwiderstrebeus noch
kräftiger zum Ausdruck gelangt, als im "Gorgias." Die menschliche Natur
sträubt sich aber dagegen, Unrecht zu leiden, und der berühmte Rechtslehrer
Rudolf Jhering fordert uns geradezu auf, um unser Recht zu kämpfen; er
hält den Kampf ums Recht für eine sittliche Verpflichtung und tadelt die
Stumpfheit desjenigen, der sein Recht nicht wahrt.

Das ist ein Gegensatz der sittlichen Empfindung, ein Widerstreit der
Meinungen, der etwas mehr bedeutet, als was man sonst einen sittlichen Kon¬
flikt zu nennen pflegt, wo eine Forderung der andern gegenüber steht. Eine
sittliche Forderung ist nicht die ganze Moral; in den beiden Forderungen aber,
die von Tolstoi und Jhering aufgestellt werden, sind Prinzipien der Moral
und des Rechts ausgesprochen, also steht die ganze Moral dem gesamten Recht
gegenüber, und es handelt sich um die Frage: Recht oder Moral?

Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als ob ein Konflikt zwischen
Recht und Moral gar nicht möglich wäre; denn das Recht erscheint der Moral
gegenüber passiv. Das Recht verbietet, die Moral gebietet. Thue niemand
Unrecht! so lautet die Grundforderung des Rechts; der Moral genügt solch
passives Verhalten nicht, sie fügt hinzu: Thue jedermann Gutes! Wäre nun
das Recht in der That nichts andres als passive Moral, wäre das Recht seiner
ganzen Ausdehnung nach in der Sphäre der Sittlichkeit enthalten, so könnte
allerdings von einem Konflikt zwischen Recht und Moral nicht die Rede sein,
und man könnte den Grundsatz aufstellen: Handle moralisch! Beschränkst dn
dich auf die Forderung des Rechts, so thust du in vielen Fällen der Moral
noch nicht völlig Genüge; handelst du aber moralisch, so erfüllst du ganz gewiß
auch die Forderungen des Rechts.

So einfach steht jedoch die Sache nicht. Die Rechtssphäre ist nicht ihrer
ganzen Ausdehnung nach in die Sphäre der Moral eingeschlossen, die beiden
Sphären greifen vielmehr, wie es bei sich schneidenden Kreisen der Fall ist, in
einander über. Die im "Gorgias" vorgetragene Ethik kann noch so ziemlich
als ein das ganze Recht in sich schließender Kreis angesehen werden; die christ¬
liche Ethik nicht. Die sokratische Ethik setzt (und das ist jenes früher erwähnte
reflektirende Element) eine Alternative voraus, vor welcher ich mich nicht immer
befinde. Wenn ich wirklich keinen andern Ausweg sehe, als entweder Unrecht
zu thun oder Unrecht zu leiden, so genügt mir vielleicht die Forderung: Thue


Tolstoi und Jhering.

wollte Wohl keines von beiden; müßte ich aber eins von beiden, so würde ich
es vorziehen, lieber Unrecht zu leiden als Unrecht zu thun. Diese Moral ist
zwar von der der Bergpredigt noch weit entfernt, sie enthält ein reflektirendes
Element, welches der Meister von Nazareth in der Unbedingtheit seiner sittlichen
Forderung gänzlich ausgeschlossen hat; immerhin aber verlangt die sokratische
Sittenlehre wenigstens für den Fall einer Wahlentscheidung zwischen Unrecht
thun und Unrecht leiden entschieden das letztere. Man kann hier sogar auf
den „Kriton" hinweisen, worin der Gedanke des Nichtwiderstrebeus noch
kräftiger zum Ausdruck gelangt, als im „Gorgias." Die menschliche Natur
sträubt sich aber dagegen, Unrecht zu leiden, und der berühmte Rechtslehrer
Rudolf Jhering fordert uns geradezu auf, um unser Recht zu kämpfen; er
hält den Kampf ums Recht für eine sittliche Verpflichtung und tadelt die
Stumpfheit desjenigen, der sein Recht nicht wahrt.

Das ist ein Gegensatz der sittlichen Empfindung, ein Widerstreit der
Meinungen, der etwas mehr bedeutet, als was man sonst einen sittlichen Kon¬
flikt zu nennen pflegt, wo eine Forderung der andern gegenüber steht. Eine
sittliche Forderung ist nicht die ganze Moral; in den beiden Forderungen aber,
die von Tolstoi und Jhering aufgestellt werden, sind Prinzipien der Moral
und des Rechts ausgesprochen, also steht die ganze Moral dem gesamten Recht
gegenüber, und es handelt sich um die Frage: Recht oder Moral?

Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als ob ein Konflikt zwischen
Recht und Moral gar nicht möglich wäre; denn das Recht erscheint der Moral
gegenüber passiv. Das Recht verbietet, die Moral gebietet. Thue niemand
Unrecht! so lautet die Grundforderung des Rechts; der Moral genügt solch
passives Verhalten nicht, sie fügt hinzu: Thue jedermann Gutes! Wäre nun
das Recht in der That nichts andres als passive Moral, wäre das Recht seiner
ganzen Ausdehnung nach in der Sphäre der Sittlichkeit enthalten, so könnte
allerdings von einem Konflikt zwischen Recht und Moral nicht die Rede sein,
und man könnte den Grundsatz aufstellen: Handle moralisch! Beschränkst dn
dich auf die Forderung des Rechts, so thust du in vielen Fällen der Moral
noch nicht völlig Genüge; handelst du aber moralisch, so erfüllst du ganz gewiß
auch die Forderungen des Rechts.

So einfach steht jedoch die Sache nicht. Die Rechtssphäre ist nicht ihrer
ganzen Ausdehnung nach in die Sphäre der Moral eingeschlossen, die beiden
Sphären greifen vielmehr, wie es bei sich schneidenden Kreisen der Fall ist, in
einander über. Die im „Gorgias" vorgetragene Ethik kann noch so ziemlich
als ein das ganze Recht in sich schließender Kreis angesehen werden; die christ¬
liche Ethik nicht. Die sokratische Ethik setzt (und das ist jenes früher erwähnte
reflektirende Element) eine Alternative voraus, vor welcher ich mich nicht immer
befinde. Wenn ich wirklich keinen andern Ausweg sehe, als entweder Unrecht
zu thun oder Unrecht zu leiden, so genügt mir vielleicht die Forderung: Thue


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/410>, abgerufen am 27.07.2024.