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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Ricks Lyhne.

nennt. Dieser Sturmwind, der all das Gesetzte, all das Anerkannte, all das
Erworbene bei dem Menschen im Wirbel mit sich fortführt, als wären es welke
Blätter! Darnach strebte er nicht. Diese prasselnde Flamme, die sich in ihrem
eignen Rauch verzehrt -- nein, er wollte langsamer brennen.

Und doch, es war so kläglich, dies Dahinleben mit halber Kraft, in stillen
Gewässern, ohne die Küste aus den Augen zu verlieren; wenn es doch nur
lieber mit Strom und Sturm kommen wollte! -- wenn er nur wüßte, wie!

Er wollte mit vollen Segeln die Fahrt über das Meer des Lebens wagen.
Lebt Wohl, ihr langsam dahinschleppenden Tage; lebt wohl, ihr glücklichen, kleinlichen
Augenblicke; lebt Wohl, ihr matten Stimmungen, die man mit Poesie aufputzen
mußte, um ihnen Glanz zu verleihen; ihr lauen Gefühle, die man in warme
Träume kleiden mußte, und die trotzdem erfroren. Ich überlasse euch euerm
Schicksal! Ich secure einem Strande zu, wo sich die Stimmungen gleich üppigen
Ranken um alle Fibern des Herzens schlingen, ein undurchdringlicher Wald;
auf jede welkende Ranke kommen dort zwanzig in voller Blüte, und auf jede
blühende Ranke hundert mit jungen, frischen Trieben. Ach, daß ich dort wäre!

Seine Sehnsucht ermüdete ihn, er war seiner selbst überdrüssig. Er be¬
dürfte der Menschen. Aber Erik war natürlich nicht zu Hause. Mit Frithjof
war er am Vormittag zusammen gewesen, und um ins Theater zu gehen, war
es bereits zu spät.

Trotzdem ging er ins Freie und schlenderte mißmutig in den Straßen
umher.

Vielleicht war Frau Voye zu Hause? Es war freilich heute nicht ihr
Empfangsabend, und reichlich spät war es auch schon. Den Versuch konnte er
ja doch einmal wagen.

Frau Boye war zu Hause.

Sie war allein; die Frühlingsluft hatte sie zu sehr ermüdet, um mit der
Nichte zu einem Diner zu gehen, sie hatte es vorgezogen, sich auf das Ruhe¬
bett zu legen, starken Thee zu trinken und Heine zu lesen; nun aber hatte sie
genug von der Poesie und hätte am liebsten Lotto gespielt.

Und so spielten sie denn Lotto mit einander. Fünfzehn, zwanzig, sieben-
undfünfzig und eine lange Reihe von Zahlen -- das Rasseln der hölzernen
Nummern in dem Beutel, und ein unablässiges Rollen und Kugeln in der Woh¬
nung über ihnen.

Es ist nicht amüsant, sagte Frau Boye, als sie nach einer Weile noch
keine einzige Karte besetzt hatten. Wie? -- Nein, antwortete sie sich selber und
schüttelte mißmutig den Kopf. Aber was können wir denn sonst nur spielen?

Sie faltete die Hände über den Zahlen vor sich und sah Ricks verzweiflungs-
voll an.

Ricks wußte wirklich gar nichts.

Sagen Sie um Gottes Willen nicht Musik! Sie beugte ihr Antlitz über


Ricks Lyhne.

nennt. Dieser Sturmwind, der all das Gesetzte, all das Anerkannte, all das
Erworbene bei dem Menschen im Wirbel mit sich fortführt, als wären es welke
Blätter! Darnach strebte er nicht. Diese prasselnde Flamme, die sich in ihrem
eignen Rauch verzehrt — nein, er wollte langsamer brennen.

Und doch, es war so kläglich, dies Dahinleben mit halber Kraft, in stillen
Gewässern, ohne die Küste aus den Augen zu verlieren; wenn es doch nur
lieber mit Strom und Sturm kommen wollte! — wenn er nur wüßte, wie!

Er wollte mit vollen Segeln die Fahrt über das Meer des Lebens wagen.
Lebt Wohl, ihr langsam dahinschleppenden Tage; lebt wohl, ihr glücklichen, kleinlichen
Augenblicke; lebt Wohl, ihr matten Stimmungen, die man mit Poesie aufputzen
mußte, um ihnen Glanz zu verleihen; ihr lauen Gefühle, die man in warme
Träume kleiden mußte, und die trotzdem erfroren. Ich überlasse euch euerm
Schicksal! Ich secure einem Strande zu, wo sich die Stimmungen gleich üppigen
Ranken um alle Fibern des Herzens schlingen, ein undurchdringlicher Wald;
auf jede welkende Ranke kommen dort zwanzig in voller Blüte, und auf jede
blühende Ranke hundert mit jungen, frischen Trieben. Ach, daß ich dort wäre!

Seine Sehnsucht ermüdete ihn, er war seiner selbst überdrüssig. Er be¬
dürfte der Menschen. Aber Erik war natürlich nicht zu Hause. Mit Frithjof
war er am Vormittag zusammen gewesen, und um ins Theater zu gehen, war
es bereits zu spät.

Trotzdem ging er ins Freie und schlenderte mißmutig in den Straßen
umher.

Vielleicht war Frau Voye zu Hause? Es war freilich heute nicht ihr
Empfangsabend, und reichlich spät war es auch schon. Den Versuch konnte er
ja doch einmal wagen.

Frau Boye war zu Hause.

Sie war allein; die Frühlingsluft hatte sie zu sehr ermüdet, um mit der
Nichte zu einem Diner zu gehen, sie hatte es vorgezogen, sich auf das Ruhe¬
bett zu legen, starken Thee zu trinken und Heine zu lesen; nun aber hatte sie
genug von der Poesie und hätte am liebsten Lotto gespielt.

Und so spielten sie denn Lotto mit einander. Fünfzehn, zwanzig, sieben-
undfünfzig und eine lange Reihe von Zahlen — das Rasseln der hölzernen
Nummern in dem Beutel, und ein unablässiges Rollen und Kugeln in der Woh¬
nung über ihnen.

Es ist nicht amüsant, sagte Frau Boye, als sie nach einer Weile noch
keine einzige Karte besetzt hatten. Wie? — Nein, antwortete sie sich selber und
schüttelte mißmutig den Kopf. Aber was können wir denn sonst nur spielen?

Sie faltete die Hände über den Zahlen vor sich und sah Ricks verzweiflungs-
voll an.

Ricks wußte wirklich gar nichts.

Sagen Sie um Gottes Willen nicht Musik! Sie beugte ihr Antlitz über


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/389>, abgerufen am 27.07.2024.