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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Das Geschlecht Textor, Goethes mütterlicher Stammbaum.

die schöne, zum Teil vom Vater ererbte Bibliothek am meisten anzog, war die
Tochter neun Jahre jünger als er, der älteste Sohn erst 1760 geboren.
Aber Wolfgang war zeitlebens ein großer Kinderfreund; seine Lehrhaftigkeit, ja
Lehrseligkeit ist neuerdings durch seine Leipziger Briefe an die Schwester auf¬
fällig bestätigt worden. Noch deutlicher würde sie hervortreten, wenn Vettinens
Bericht über sein Benehmen beim Tode des drei Jahre jüngern Bruders Hermann
Jakob auf Wahrheit beruhte. Im Hause des Großvaters, das ihm noch immer
ein lieber Aufenthalt blieb, zog ihn die noch keine volle sechs Jahre ältere, durch
Schönheit ausgezeichnete ledige Tante Anna Christine an, die an dem feurigen,
talentvollen Knaben lebhaften Anteil genommen zu haben scheint, wogegen der
fast zehn Jahre ältere Oheim, dessen drei Studienjahre und dessen Auftreten
als Advokat in diese Zeit fallen, ihm kaum nahe getreten sein wird.

Textor fühlte sich nach dem Abzüge der Franzosen, obwohl sie ihn als
Stadtschnltheißen geehrt, auch seinem Hause eine Wache zugeteilt hatten, von
einem schweren Drucke befreit, da ihm das Wohl der Stadt, wie sehr dies auch
die ihn des Verrath beschuldigende Menge verkannte, warm am Herzen lag.
Schon stand der Friede in naher Aussicht, der auch in Textors und Goethes
Hause, wie in ganz Frankfurt, jubelnd gefeiert wurde. Aber der immer bös¬
williger auftretende Erasmus Senckenberg, den der Rat endlich ausstieß, machte
ihm viele besorgte Stunden, besonders da sein Bruder, der Reichshofrat in Wien,
diesen in Schutz nahm. Dazwischen erlebte Textor eine neue Krönung, doch
gerade damals quälte ihn die bekannte Geschichte seines Lieblingsenkels, welche
diesen einige Zeit in schlimmen Ruf brachte. Zwei neue Enkel wurden ihm
1764 geboren, Gottfried Wilhelm starck und Friedrich Karl Stephan Mekher,
von denen der letzte nur das folgende Jahr erlebte. Textors Bruder ward in
demselben Jahre Oberst und Stadtkommandant, aber schon am 2. Juli 1766
starb er kinderlos, neun Jahre nach seiner Gattin. Wolfgang scheint zu dem
Kriegsmanne keine nähere Beziehung gehabt zu haben.

Als dieser im Herbste 1765 auf drei Jahre nach Leipzig reiste, waren der
Oheim und die jüngste Tante noch unvermählt. Um letztere scheint sich der am
24. Mai 1762 als Advokat aufgenommene, im sechsundzwanzigsten Jahre
stehende Dr. Johann Georg Schlosser, der jüngere Sohn des ältern Schöffen
und wirklichen kaiserlichen Rates Erasmus Schlosser, beworben zu haben;
wenigstens besuchte er, vielleicht infolge seiner Bekanntschaft mit dem Advokaten
Johann Jost Textor, häufig das Haus des Schultheißen, wo ihn Goethe kennen
lernte. Die ledige Tante war außer Vater und Schwester die einzige Verwandte,
mit welcher der Leipziger Student eine briefliche Verbindung verabredet hatte.
Auch an Schlosser schrieb er. Anfangs 1766 Verlobte sich der Oheim mit der
elf Jahre jüngern Tochter des Buchhändlers Eustachius Möller, die, wie seine
Mutter, Maria Margaretha hieß. Dem von Weisheit triefenden Studenten, der
sich ganz eigne hohe Ansichten von weiblicher Bildung geschaffen hatte, schien


Das Geschlecht Textor, Goethes mütterlicher Stammbaum.

die schöne, zum Teil vom Vater ererbte Bibliothek am meisten anzog, war die
Tochter neun Jahre jünger als er, der älteste Sohn erst 1760 geboren.
Aber Wolfgang war zeitlebens ein großer Kinderfreund; seine Lehrhaftigkeit, ja
Lehrseligkeit ist neuerdings durch seine Leipziger Briefe an die Schwester auf¬
fällig bestätigt worden. Noch deutlicher würde sie hervortreten, wenn Vettinens
Bericht über sein Benehmen beim Tode des drei Jahre jüngern Bruders Hermann
Jakob auf Wahrheit beruhte. Im Hause des Großvaters, das ihm noch immer
ein lieber Aufenthalt blieb, zog ihn die noch keine volle sechs Jahre ältere, durch
Schönheit ausgezeichnete ledige Tante Anna Christine an, die an dem feurigen,
talentvollen Knaben lebhaften Anteil genommen zu haben scheint, wogegen der
fast zehn Jahre ältere Oheim, dessen drei Studienjahre und dessen Auftreten
als Advokat in diese Zeit fallen, ihm kaum nahe getreten sein wird.

Textor fühlte sich nach dem Abzüge der Franzosen, obwohl sie ihn als
Stadtschnltheißen geehrt, auch seinem Hause eine Wache zugeteilt hatten, von
einem schweren Drucke befreit, da ihm das Wohl der Stadt, wie sehr dies auch
die ihn des Verrath beschuldigende Menge verkannte, warm am Herzen lag.
Schon stand der Friede in naher Aussicht, der auch in Textors und Goethes
Hause, wie in ganz Frankfurt, jubelnd gefeiert wurde. Aber der immer bös¬
williger auftretende Erasmus Senckenberg, den der Rat endlich ausstieß, machte
ihm viele besorgte Stunden, besonders da sein Bruder, der Reichshofrat in Wien,
diesen in Schutz nahm. Dazwischen erlebte Textor eine neue Krönung, doch
gerade damals quälte ihn die bekannte Geschichte seines Lieblingsenkels, welche
diesen einige Zeit in schlimmen Ruf brachte. Zwei neue Enkel wurden ihm
1764 geboren, Gottfried Wilhelm starck und Friedrich Karl Stephan Mekher,
von denen der letzte nur das folgende Jahr erlebte. Textors Bruder ward in
demselben Jahre Oberst und Stadtkommandant, aber schon am 2. Juli 1766
starb er kinderlos, neun Jahre nach seiner Gattin. Wolfgang scheint zu dem
Kriegsmanne keine nähere Beziehung gehabt zu haben.

Als dieser im Herbste 1765 auf drei Jahre nach Leipzig reiste, waren der
Oheim und die jüngste Tante noch unvermählt. Um letztere scheint sich der am
24. Mai 1762 als Advokat aufgenommene, im sechsundzwanzigsten Jahre
stehende Dr. Johann Georg Schlosser, der jüngere Sohn des ältern Schöffen
und wirklichen kaiserlichen Rates Erasmus Schlosser, beworben zu haben;
wenigstens besuchte er, vielleicht infolge seiner Bekanntschaft mit dem Advokaten
Johann Jost Textor, häufig das Haus des Schultheißen, wo ihn Goethe kennen
lernte. Die ledige Tante war außer Vater und Schwester die einzige Verwandte,
mit welcher der Leipziger Student eine briefliche Verbindung verabredet hatte.
Auch an Schlosser schrieb er. Anfangs 1766 Verlobte sich der Oheim mit der
elf Jahre jüngern Tochter des Buchhändlers Eustachius Möller, die, wie seine
Mutter, Maria Margaretha hieß. Dem von Weisheit triefenden Studenten, der
sich ganz eigne hohe Ansichten von weiblicher Bildung geschaffen hatte, schien


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[0379] Das Geschlecht Textor, Goethes mütterlicher Stammbaum. die schöne, zum Teil vom Vater ererbte Bibliothek am meisten anzog, war die Tochter neun Jahre jünger als er, der älteste Sohn erst 1760 geboren. Aber Wolfgang war zeitlebens ein großer Kinderfreund; seine Lehrhaftigkeit, ja Lehrseligkeit ist neuerdings durch seine Leipziger Briefe an die Schwester auf¬ fällig bestätigt worden. Noch deutlicher würde sie hervortreten, wenn Vettinens Bericht über sein Benehmen beim Tode des drei Jahre jüngern Bruders Hermann Jakob auf Wahrheit beruhte. Im Hause des Großvaters, das ihm noch immer ein lieber Aufenthalt blieb, zog ihn die noch keine volle sechs Jahre ältere, durch Schönheit ausgezeichnete ledige Tante Anna Christine an, die an dem feurigen, talentvollen Knaben lebhaften Anteil genommen zu haben scheint, wogegen der fast zehn Jahre ältere Oheim, dessen drei Studienjahre und dessen Auftreten als Advokat in diese Zeit fallen, ihm kaum nahe getreten sein wird. Textor fühlte sich nach dem Abzüge der Franzosen, obwohl sie ihn als Stadtschnltheißen geehrt, auch seinem Hause eine Wache zugeteilt hatten, von einem schweren Drucke befreit, da ihm das Wohl der Stadt, wie sehr dies auch die ihn des Verrath beschuldigende Menge verkannte, warm am Herzen lag. Schon stand der Friede in naher Aussicht, der auch in Textors und Goethes Hause, wie in ganz Frankfurt, jubelnd gefeiert wurde. Aber der immer bös¬ williger auftretende Erasmus Senckenberg, den der Rat endlich ausstieß, machte ihm viele besorgte Stunden, besonders da sein Bruder, der Reichshofrat in Wien, diesen in Schutz nahm. Dazwischen erlebte Textor eine neue Krönung, doch gerade damals quälte ihn die bekannte Geschichte seines Lieblingsenkels, welche diesen einige Zeit in schlimmen Ruf brachte. Zwei neue Enkel wurden ihm 1764 geboren, Gottfried Wilhelm starck und Friedrich Karl Stephan Mekher, von denen der letzte nur das folgende Jahr erlebte. Textors Bruder ward in demselben Jahre Oberst und Stadtkommandant, aber schon am 2. Juli 1766 starb er kinderlos, neun Jahre nach seiner Gattin. Wolfgang scheint zu dem Kriegsmanne keine nähere Beziehung gehabt zu haben. Als dieser im Herbste 1765 auf drei Jahre nach Leipzig reiste, waren der Oheim und die jüngste Tante noch unvermählt. Um letztere scheint sich der am 24. Mai 1762 als Advokat aufgenommene, im sechsundzwanzigsten Jahre stehende Dr. Johann Georg Schlosser, der jüngere Sohn des ältern Schöffen und wirklichen kaiserlichen Rates Erasmus Schlosser, beworben zu haben; wenigstens besuchte er, vielleicht infolge seiner Bekanntschaft mit dem Advokaten Johann Jost Textor, häufig das Haus des Schultheißen, wo ihn Goethe kennen lernte. Die ledige Tante war außer Vater und Schwester die einzige Verwandte, mit welcher der Leipziger Student eine briefliche Verbindung verabredet hatte. Auch an Schlosser schrieb er. Anfangs 1766 Verlobte sich der Oheim mit der elf Jahre jüngern Tochter des Buchhändlers Eustachius Möller, die, wie seine Mutter, Maria Margaretha hieß. Dem von Weisheit triefenden Studenten, der sich ganz eigne hohe Ansichten von weiblicher Bildung geschaffen hatte, schien

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/379>, abgerufen am 01.09.2024.