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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Das Geschlecht Textor, Goethes mütterlicher Stammbcium,

Wenn auch auf eine geringe Truppenzahl beschränkten Durchzug hatte, und die
schwache zurückgebliebene Besatzung samt der Bürgergarnison mit ihren "edlen
und mannfesten Bürgerkapitäuen" keinen bedeutenden Widerstand leisten konnte.
Es fiel ihnen gar nicht ein, sich dazu die Erlaubnis von Wien zu verschaffen,
und in Wien dachte man nicht daran, den Frankfurter Magistrat zum Verrate
zu bestimmen.

Bei der am 2. Januar 1759 leicht erfolgten Überrumpelung der Stadt
war anch Textors Bruder, der sich als Major auf der Konstablerwache am
Bornheimer Thore befand, rasch überwältigt worden, ohne daß man im geringsten
ihn eines Verrates zeihen konnte. Erst als man den Druck der französischen
Besatzung immer schärfer empfand, maß Parteileidenschaft dem Schultheißen und
den Bürgermeistern alle Schuld bei; denn Frankfurt wurde von den Verbündeten
des Kaisers wie eine eroberte Stadt behandelt, die man für unermeßlich reich
hielt. Für Textor waren die nächsten Jahre umso trauriger, als er unter
dem Verdachte der Bestechung litt. Die Lage wurde immer drückender, sodaß
der Rat sich endlich entschloß, in Paris selbst Hilfe zu suchen, wobei man es
an klingenden Mitteln nicht fehlen lassen durfte. Aber auch dies fruchtete
wenig. Zu den Ungeduldigsten und Aufgeregtesten gehörte Goethes Vater,
der wütend war, daß er seine schönen neuen Zimmer einem hohen französischen
Offizier einräumen mußte. Im Anfange des Jahres 1760 richtete er an den
Rat das Gesuch, ihn endlich von der unbequemen, sein ganzes Hauswesen
störenden Einquartierung zu befreien, aber dies war eben bei dem Stande der
Dinge unmöglich, und eine Veränderung wäre wohl mit noch größern Lasten
verbunden gewesen.

Dem Prediger an Se. Katharincn ward im Jahre 1760 ein Sohn ge¬
boren, der des Großvaters Namen führte. Bei dem Taufschmause kam es
zwischen dem Schultheißen und dem Rat Goethe, der die Forderung der Be¬
freiung aufs dringendste wiederholte, zu einem Streite, den wir nur aus
dem Berichte des Arztes Seuckenberg, Textors giftigsten Feindes, kennen. Dieser
erzählt am 1. April 1760, unlängst habe sich der Streit beim Taufschmause be¬
geben. "Da redeten sie von dieser Materie ^dem französischen Druckes und Textor
gab Goethe keine guten Worte. Dieser wild sagte: er verfluche das Geld, so
Textor, die Stadt den Franzosen zu verraten, genommen habe, wolle nichts
davon ^nachträglich: "und verfluche die, so sie hereingelassen"^ Textor warf
ein Messer nach ihm, Goethe zog den Degen. Pastor starck wurde über diese
Begebenheit damals aus Schrecken krank. Pfarrer Claudi ^der dreißigjährige
Mann war vor kurzem in Frankfurt angekommen und gehörte zu den Frommen^,
so dabei war, stiftete Frieden." Darauf folgt eine so schändliche Äußerung
über, die Unsittlichkeit von Textors Gattin, daß Krieg!' sich ihre Mitteilung
versagt hat. Und wie Senckenberg es liebt, bei wichtigen Äußerungen sich der
lateinischen Sprache zu bedienen, folgt der Trumpf: "Vera, sse lüstoria, und


Grmzboicn II- 1838. 47
Das Geschlecht Textor, Goethes mütterlicher Stammbcium,

Wenn auch auf eine geringe Truppenzahl beschränkten Durchzug hatte, und die
schwache zurückgebliebene Besatzung samt der Bürgergarnison mit ihren „edlen
und mannfesten Bürgerkapitäuen" keinen bedeutenden Widerstand leisten konnte.
Es fiel ihnen gar nicht ein, sich dazu die Erlaubnis von Wien zu verschaffen,
und in Wien dachte man nicht daran, den Frankfurter Magistrat zum Verrate
zu bestimmen.

Bei der am 2. Januar 1759 leicht erfolgten Überrumpelung der Stadt
war anch Textors Bruder, der sich als Major auf der Konstablerwache am
Bornheimer Thore befand, rasch überwältigt worden, ohne daß man im geringsten
ihn eines Verrates zeihen konnte. Erst als man den Druck der französischen
Besatzung immer schärfer empfand, maß Parteileidenschaft dem Schultheißen und
den Bürgermeistern alle Schuld bei; denn Frankfurt wurde von den Verbündeten
des Kaisers wie eine eroberte Stadt behandelt, die man für unermeßlich reich
hielt. Für Textor waren die nächsten Jahre umso trauriger, als er unter
dem Verdachte der Bestechung litt. Die Lage wurde immer drückender, sodaß
der Rat sich endlich entschloß, in Paris selbst Hilfe zu suchen, wobei man es
an klingenden Mitteln nicht fehlen lassen durfte. Aber auch dies fruchtete
wenig. Zu den Ungeduldigsten und Aufgeregtesten gehörte Goethes Vater,
der wütend war, daß er seine schönen neuen Zimmer einem hohen französischen
Offizier einräumen mußte. Im Anfange des Jahres 1760 richtete er an den
Rat das Gesuch, ihn endlich von der unbequemen, sein ganzes Hauswesen
störenden Einquartierung zu befreien, aber dies war eben bei dem Stande der
Dinge unmöglich, und eine Veränderung wäre wohl mit noch größern Lasten
verbunden gewesen.

Dem Prediger an Se. Katharincn ward im Jahre 1760 ein Sohn ge¬
boren, der des Großvaters Namen führte. Bei dem Taufschmause kam es
zwischen dem Schultheißen und dem Rat Goethe, der die Forderung der Be¬
freiung aufs dringendste wiederholte, zu einem Streite, den wir nur aus
dem Berichte des Arztes Seuckenberg, Textors giftigsten Feindes, kennen. Dieser
erzählt am 1. April 1760, unlängst habe sich der Streit beim Taufschmause be¬
geben. „Da redeten sie von dieser Materie ^dem französischen Druckes und Textor
gab Goethe keine guten Worte. Dieser wild sagte: er verfluche das Geld, so
Textor, die Stadt den Franzosen zu verraten, genommen habe, wolle nichts
davon ^nachträglich: »und verfluche die, so sie hereingelassen«^ Textor warf
ein Messer nach ihm, Goethe zog den Degen. Pastor starck wurde über diese
Begebenheit damals aus Schrecken krank. Pfarrer Claudi ^der dreißigjährige
Mann war vor kurzem in Frankfurt angekommen und gehörte zu den Frommen^,
so dabei war, stiftete Frieden." Darauf folgt eine so schändliche Äußerung
über, die Unsittlichkeit von Textors Gattin, daß Krieg!' sich ihre Mitteilung
versagt hat. Und wie Senckenberg es liebt, bei wichtigen Äußerungen sich der
lateinischen Sprache zu bedienen, folgt der Trumpf: „Vera, sse lüstoria, und


Grmzboicn II- 1838. 47
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[0377] Das Geschlecht Textor, Goethes mütterlicher Stammbcium, Wenn auch auf eine geringe Truppenzahl beschränkten Durchzug hatte, und die schwache zurückgebliebene Besatzung samt der Bürgergarnison mit ihren „edlen und mannfesten Bürgerkapitäuen" keinen bedeutenden Widerstand leisten konnte. Es fiel ihnen gar nicht ein, sich dazu die Erlaubnis von Wien zu verschaffen, und in Wien dachte man nicht daran, den Frankfurter Magistrat zum Verrate zu bestimmen. Bei der am 2. Januar 1759 leicht erfolgten Überrumpelung der Stadt war anch Textors Bruder, der sich als Major auf der Konstablerwache am Bornheimer Thore befand, rasch überwältigt worden, ohne daß man im geringsten ihn eines Verrates zeihen konnte. Erst als man den Druck der französischen Besatzung immer schärfer empfand, maß Parteileidenschaft dem Schultheißen und den Bürgermeistern alle Schuld bei; denn Frankfurt wurde von den Verbündeten des Kaisers wie eine eroberte Stadt behandelt, die man für unermeßlich reich hielt. Für Textor waren die nächsten Jahre umso trauriger, als er unter dem Verdachte der Bestechung litt. Die Lage wurde immer drückender, sodaß der Rat sich endlich entschloß, in Paris selbst Hilfe zu suchen, wobei man es an klingenden Mitteln nicht fehlen lassen durfte. Aber auch dies fruchtete wenig. Zu den Ungeduldigsten und Aufgeregtesten gehörte Goethes Vater, der wütend war, daß er seine schönen neuen Zimmer einem hohen französischen Offizier einräumen mußte. Im Anfange des Jahres 1760 richtete er an den Rat das Gesuch, ihn endlich von der unbequemen, sein ganzes Hauswesen störenden Einquartierung zu befreien, aber dies war eben bei dem Stande der Dinge unmöglich, und eine Veränderung wäre wohl mit noch größern Lasten verbunden gewesen. Dem Prediger an Se. Katharincn ward im Jahre 1760 ein Sohn ge¬ boren, der des Großvaters Namen führte. Bei dem Taufschmause kam es zwischen dem Schultheißen und dem Rat Goethe, der die Forderung der Be¬ freiung aufs dringendste wiederholte, zu einem Streite, den wir nur aus dem Berichte des Arztes Seuckenberg, Textors giftigsten Feindes, kennen. Dieser erzählt am 1. April 1760, unlängst habe sich der Streit beim Taufschmause be¬ geben. „Da redeten sie von dieser Materie ^dem französischen Druckes und Textor gab Goethe keine guten Worte. Dieser wild sagte: er verfluche das Geld, so Textor, die Stadt den Franzosen zu verraten, genommen habe, wolle nichts davon ^nachträglich: »und verfluche die, so sie hereingelassen«^ Textor warf ein Messer nach ihm, Goethe zog den Degen. Pastor starck wurde über diese Begebenheit damals aus Schrecken krank. Pfarrer Claudi ^der dreißigjährige Mann war vor kurzem in Frankfurt angekommen und gehörte zu den Frommen^, so dabei war, stiftete Frieden." Darauf folgt eine so schändliche Äußerung über, die Unsittlichkeit von Textors Gattin, daß Krieg!' sich ihre Mitteilung versagt hat. Und wie Senckenberg es liebt, bei wichtigen Äußerungen sich der lateinischen Sprache zu bedienen, folgt der Trumpf: „Vera, sse lüstoria, und Grmzboicn II- 1838. 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/377>, abgerufen am 01.09.2024.