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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Neuphilologie.

Frauen Mütter (sie!) wollen um keinen Preis darauf verzichten, daß ihre Fräulein
Töchter imstande seien, einem Franzosen oder Engländer, mit dem sie ja vielleicht
einmal an einer Table d'böte zusammenkommen könnten, mit einigen Phrasen
zu antworten vermögen, falls er geruhen sollte, sie nach ihrer Meinung über
das Wetter oder ähnliche hochwichtige Dinge zu befragen. O Eitelkeit der
Eitelkeiten! Dieser Eitelkeit zuliebe werden die künftigen Gattinnen ge¬
bildeter Männer mit geistlosen, mechanischem Unterricht gequält, mit Vo¬
kabeln und Phrasen vollgestopft, mit albern zugeschnittenen Regeln ge¬
martert, grausam um einen Teil ihrer schönsten Kindheits- und Jugendjahre
gebracht. . . . Wollten doch die deutschen Frauen einmal den Mut haben, sich
zu der Erkenntnis aufzuschwingen, daß etwas Zofenhaftes und Entwürdigendes
darin liegt, die Töchter französisch und englisch radebrechen zu lassen, weil sie
das vielleicht einmal gut brauchen können, wenn sie mit einem Franzosen
und Engländer zusammengeraten. Mögen doch die Herren Ausländer, wenn
sie mit unsern Mädchen und Frauen verkehren wollen, gefälligst Deutsch lernen!"
(S. 178--179.)

Auch der Sprachunterricht der höhern Töchterschule soll demnach vor¬
nehmlich Lesefertigkeit zum Ziele haben. Zu entbehren ist er allerdings keines¬
wegs. Die weibliche Jugend der wohlhabenden Stände soll einen solchen Grad
von Bildung erwerben, daß sie in der Lage ist, dem Berufe der ebenbürtigen
Männerwelt, für die sie heranwächst, mit Verständnis zu folgen. Und als
Bildungselement können die Sprachstudien nicht entbehrt werden. Sie ver¬
mitteln die fremden Litteraturen, die Kenntnis andrer Nationen, und solche
Wissenschaft allein vermag die Erkenntnis der eignen Nation zu fördern. Nur
der Vergleich belehrt. Und hier stellt Körting eine Behauptung auf, die, wie
er sagt, zumal im Munde eines Neuphilologen ungeheuerlich klingen mag,
die aber bei näherem Zusehen sich als begründet darstellt. Er sagt: "Die
französische Litteratur ist eine solche, mit welcher sich näher zu beschäftigen
deutschen Frauen und Mädchen nicht empfohlen werden kann." Denn, führt er aus:
"nicht alles, was von dem gebildeten Manne gelesen werden kann und soll, ist
für die gebildete Frau angemessener Gegenstand der Lektüre, mindestens nicht
für die große Mehrzahl dieser Frauen; denn eine kleine Minderzahl giebt es
ja allerdings, welche durch Anlage, Neigung und Verhältnisse befähigt sind,
den gleichen Bildungs- und Erkenntniszielen nachzustreben wie der Mann, für
diese gilt selbstverständlich meine Behauptung nicht. Statt in weitläufige Er¬
örterungen einzugehen, richte ich an jeden Kenner der französischen Litteratur
die Frage: Welche klassischen Werke der neueren französischen Litteratur -- die
ältere muß ja ganz außer Betracht bleiben -- können ohne jedes Bedenken
deutschen Frauen und Mädchen zur Lektüre empfohlen werden? Ich fürchte
sehr, man wird nur wenige nennen können. Die französische Litteratur ist in
allen ihren Gattungen reich an klassischen Werken, aber zum größten Teile


Neuphilologie.

Frauen Mütter (sie!) wollen um keinen Preis darauf verzichten, daß ihre Fräulein
Töchter imstande seien, einem Franzosen oder Engländer, mit dem sie ja vielleicht
einmal an einer Table d'böte zusammenkommen könnten, mit einigen Phrasen
zu antworten vermögen, falls er geruhen sollte, sie nach ihrer Meinung über
das Wetter oder ähnliche hochwichtige Dinge zu befragen. O Eitelkeit der
Eitelkeiten! Dieser Eitelkeit zuliebe werden die künftigen Gattinnen ge¬
bildeter Männer mit geistlosen, mechanischem Unterricht gequält, mit Vo¬
kabeln und Phrasen vollgestopft, mit albern zugeschnittenen Regeln ge¬
martert, grausam um einen Teil ihrer schönsten Kindheits- und Jugendjahre
gebracht. . . . Wollten doch die deutschen Frauen einmal den Mut haben, sich
zu der Erkenntnis aufzuschwingen, daß etwas Zofenhaftes und Entwürdigendes
darin liegt, die Töchter französisch und englisch radebrechen zu lassen, weil sie
das vielleicht einmal gut brauchen können, wenn sie mit einem Franzosen
und Engländer zusammengeraten. Mögen doch die Herren Ausländer, wenn
sie mit unsern Mädchen und Frauen verkehren wollen, gefälligst Deutsch lernen!"
(S. 178—179.)

Auch der Sprachunterricht der höhern Töchterschule soll demnach vor¬
nehmlich Lesefertigkeit zum Ziele haben. Zu entbehren ist er allerdings keines¬
wegs. Die weibliche Jugend der wohlhabenden Stände soll einen solchen Grad
von Bildung erwerben, daß sie in der Lage ist, dem Berufe der ebenbürtigen
Männerwelt, für die sie heranwächst, mit Verständnis zu folgen. Und als
Bildungselement können die Sprachstudien nicht entbehrt werden. Sie ver¬
mitteln die fremden Litteraturen, die Kenntnis andrer Nationen, und solche
Wissenschaft allein vermag die Erkenntnis der eignen Nation zu fördern. Nur
der Vergleich belehrt. Und hier stellt Körting eine Behauptung auf, die, wie
er sagt, zumal im Munde eines Neuphilologen ungeheuerlich klingen mag,
die aber bei näherem Zusehen sich als begründet darstellt. Er sagt: „Die
französische Litteratur ist eine solche, mit welcher sich näher zu beschäftigen
deutschen Frauen und Mädchen nicht empfohlen werden kann." Denn, führt er aus:
„nicht alles, was von dem gebildeten Manne gelesen werden kann und soll, ist
für die gebildete Frau angemessener Gegenstand der Lektüre, mindestens nicht
für die große Mehrzahl dieser Frauen; denn eine kleine Minderzahl giebt es
ja allerdings, welche durch Anlage, Neigung und Verhältnisse befähigt sind,
den gleichen Bildungs- und Erkenntniszielen nachzustreben wie der Mann, für
diese gilt selbstverständlich meine Behauptung nicht. Statt in weitläufige Er¬
örterungen einzugehen, richte ich an jeden Kenner der französischen Litteratur
die Frage: Welche klassischen Werke der neueren französischen Litteratur — die
ältere muß ja ganz außer Betracht bleiben — können ohne jedes Bedenken
deutschen Frauen und Mädchen zur Lektüre empfohlen werden? Ich fürchte
sehr, man wird nur wenige nennen können. Die französische Litteratur ist in
allen ihren Gattungen reich an klassischen Werken, aber zum größten Teile


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/374>, abgerufen am 01.09.2024.