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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die Unpopularität der Jurisprudenz.

holt Versucht worden, allein jeder Schritt in dieser Richtung hatte die schlimmsten
Folgen. Es war dies immer nur ein Rückschritt in die alte Willkür, wie sie
im spätern byzantinischen Reiche geherrscht hatte. Hören wir auch hierüber
einen deutschen Patrioten, der mitten in protestantischen Landen für das förm¬
liche päpstliche Recht kämpft. Es ist Justus Möser. Dieser hebt in seinen
"Patriotischen Phantasien" hervor, daß der richterliche Beamte nicht mehr, wie in
alten Zeiten, ein Mann aus dem Volke sei und daß man, wie er sich ausdrückt,
den "ungenossen," das ist volksfremden Richtern, unmöglich dieselbe Macht
geben dürfe, welche ehedem die "genossen" besessen hätten. Wenn die scharfe
Kontrole des päpstlichen Prozesses wegfallen würde, so würde man bald Richter
aus der Türkei und Tatarei verschreiben und durch diese alles auf den Kopf
stellen. Friedrich der Große, in dessen Landen vom ersten Prenßenkönige ein
sehr freies Verfahren eingeführt worden war und zu großer richterlicher Willkür
Anlaß gegeben hatte, besaß dennoch die Kühnheit, mit den Grundsätzen des
päpstlichen Prozesses zu brechen. Allein seine Reform scheiterte. Es hängt
dies wohl auch damit zusammen, daß der große König den sittlichen und
geistigen Bildungsgrad seiner deutschen Zeitgenossen zu gering anschlug, und
daß Besorgnisse, welche die französische Revolution erweckte, dieselbe Denkart
bei seinem Nachfolger eher steigerten, als verminderten. Dies zeigt sich auch
in dem Grade des Mißtrauens, welches die preußische Gesetzesreform den An¬
wälten, den Richtern und den Rechtsgelehrten entgegenbrachte. Die Advokaten
schaffte Friedrich gänzlich ab. Freilich wurden sie bald wieder eingeführt.
Im preußischen Landrechte, das unter Friedrichs Nachfolger veröffentlicht
wurde, lautet § 6 der Einleitung: "Auf Meinungen der Rechtslehrer oder ältere
Aussprüche der Richter soll bei künftigen Entscheidungen keine Rücksicht ge¬
nommen werden." Den Richtern aber gegenüber wurde das mittelalterliche
System der Beschränkung des freien Ermessens aufs neue durchgeführt, indem
sie mit einer Fülle von Einzelvocschriften überladen wurden, die den Trieb zur
freien Gesetzesauslegung, zum Nachdenken über die Ziele des Rechtes, zur
Berücksichtigung der wirklichen Lebensbedürfnisse aufs äußerste beschränken
mußten. Daneben stand ein Prozeßverfahren, das zwar großartigen Gesichts¬
punkten entsprungen war, aber dennoch nach sechzigjäriger Probe wegen Un-
brauchbarkeit in seinen Grundzügen beseitigt wurde. Man verkannte die Wahr¬
heit, daß das Gesetz nur durch den Geist des Richters hindurch zu wirken
vermag, und daß die beste Vorschrift erfolglos bleibt, wenn sie nicht die rich¬
tige Vollstreckung findet. So stand man denn noch immer im Banne des
Buchstabendienstes, in jener Knechtschaft des Gesetzes, auf welche unser Reichs¬
kanzler gelegentlich das französische Wort anwandte: I^g. I6ssMt6 <M iwus
tus. Erst unserm siegreichen Kaiser war es vorbehalten, den Grundsatz der
richterlichen Gedankenfreiheit herzustellen, den einst Luther vergeblich anstrebte,
und damit unser Recht einer höhern Kulturstufe anzupassen, welche in der


Die Unpopularität der Jurisprudenz.

holt Versucht worden, allein jeder Schritt in dieser Richtung hatte die schlimmsten
Folgen. Es war dies immer nur ein Rückschritt in die alte Willkür, wie sie
im spätern byzantinischen Reiche geherrscht hatte. Hören wir auch hierüber
einen deutschen Patrioten, der mitten in protestantischen Landen für das förm¬
liche päpstliche Recht kämpft. Es ist Justus Möser. Dieser hebt in seinen
„Patriotischen Phantasien" hervor, daß der richterliche Beamte nicht mehr, wie in
alten Zeiten, ein Mann aus dem Volke sei und daß man, wie er sich ausdrückt,
den „ungenossen," das ist volksfremden Richtern, unmöglich dieselbe Macht
geben dürfe, welche ehedem die „genossen" besessen hätten. Wenn die scharfe
Kontrole des päpstlichen Prozesses wegfallen würde, so würde man bald Richter
aus der Türkei und Tatarei verschreiben und durch diese alles auf den Kopf
stellen. Friedrich der Große, in dessen Landen vom ersten Prenßenkönige ein
sehr freies Verfahren eingeführt worden war und zu großer richterlicher Willkür
Anlaß gegeben hatte, besaß dennoch die Kühnheit, mit den Grundsätzen des
päpstlichen Prozesses zu brechen. Allein seine Reform scheiterte. Es hängt
dies wohl auch damit zusammen, daß der große König den sittlichen und
geistigen Bildungsgrad seiner deutschen Zeitgenossen zu gering anschlug, und
daß Besorgnisse, welche die französische Revolution erweckte, dieselbe Denkart
bei seinem Nachfolger eher steigerten, als verminderten. Dies zeigt sich auch
in dem Grade des Mißtrauens, welches die preußische Gesetzesreform den An¬
wälten, den Richtern und den Rechtsgelehrten entgegenbrachte. Die Advokaten
schaffte Friedrich gänzlich ab. Freilich wurden sie bald wieder eingeführt.
Im preußischen Landrechte, das unter Friedrichs Nachfolger veröffentlicht
wurde, lautet § 6 der Einleitung: „Auf Meinungen der Rechtslehrer oder ältere
Aussprüche der Richter soll bei künftigen Entscheidungen keine Rücksicht ge¬
nommen werden." Den Richtern aber gegenüber wurde das mittelalterliche
System der Beschränkung des freien Ermessens aufs neue durchgeführt, indem
sie mit einer Fülle von Einzelvocschriften überladen wurden, die den Trieb zur
freien Gesetzesauslegung, zum Nachdenken über die Ziele des Rechtes, zur
Berücksichtigung der wirklichen Lebensbedürfnisse aufs äußerste beschränken
mußten. Daneben stand ein Prozeßverfahren, das zwar großartigen Gesichts¬
punkten entsprungen war, aber dennoch nach sechzigjäriger Probe wegen Un-
brauchbarkeit in seinen Grundzügen beseitigt wurde. Man verkannte die Wahr¬
heit, daß das Gesetz nur durch den Geist des Richters hindurch zu wirken
vermag, und daß die beste Vorschrift erfolglos bleibt, wenn sie nicht die rich¬
tige Vollstreckung findet. So stand man denn noch immer im Banne des
Buchstabendienstes, in jener Knechtschaft des Gesetzes, auf welche unser Reichs¬
kanzler gelegentlich das französische Wort anwandte: I^g. I6ssMt6 <M iwus
tus. Erst unserm siegreichen Kaiser war es vorbehalten, den Grundsatz der
richterlichen Gedankenfreiheit herzustellen, den einst Luther vergeblich anstrebte,
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[0366] Die Unpopularität der Jurisprudenz. holt Versucht worden, allein jeder Schritt in dieser Richtung hatte die schlimmsten Folgen. Es war dies immer nur ein Rückschritt in die alte Willkür, wie sie im spätern byzantinischen Reiche geherrscht hatte. Hören wir auch hierüber einen deutschen Patrioten, der mitten in protestantischen Landen für das förm¬ liche päpstliche Recht kämpft. Es ist Justus Möser. Dieser hebt in seinen „Patriotischen Phantasien" hervor, daß der richterliche Beamte nicht mehr, wie in alten Zeiten, ein Mann aus dem Volke sei und daß man, wie er sich ausdrückt, den „ungenossen," das ist volksfremden Richtern, unmöglich dieselbe Macht geben dürfe, welche ehedem die „genossen" besessen hätten. Wenn die scharfe Kontrole des päpstlichen Prozesses wegfallen würde, so würde man bald Richter aus der Türkei und Tatarei verschreiben und durch diese alles auf den Kopf stellen. Friedrich der Große, in dessen Landen vom ersten Prenßenkönige ein sehr freies Verfahren eingeführt worden war und zu großer richterlicher Willkür Anlaß gegeben hatte, besaß dennoch die Kühnheit, mit den Grundsätzen des päpstlichen Prozesses zu brechen. Allein seine Reform scheiterte. Es hängt dies wohl auch damit zusammen, daß der große König den sittlichen und geistigen Bildungsgrad seiner deutschen Zeitgenossen zu gering anschlug, und daß Besorgnisse, welche die französische Revolution erweckte, dieselbe Denkart bei seinem Nachfolger eher steigerten, als verminderten. Dies zeigt sich auch in dem Grade des Mißtrauens, welches die preußische Gesetzesreform den An¬ wälten, den Richtern und den Rechtsgelehrten entgegenbrachte. Die Advokaten schaffte Friedrich gänzlich ab. Freilich wurden sie bald wieder eingeführt. Im preußischen Landrechte, das unter Friedrichs Nachfolger veröffentlicht wurde, lautet § 6 der Einleitung: „Auf Meinungen der Rechtslehrer oder ältere Aussprüche der Richter soll bei künftigen Entscheidungen keine Rücksicht ge¬ nommen werden." Den Richtern aber gegenüber wurde das mittelalterliche System der Beschränkung des freien Ermessens aufs neue durchgeführt, indem sie mit einer Fülle von Einzelvocschriften überladen wurden, die den Trieb zur freien Gesetzesauslegung, zum Nachdenken über die Ziele des Rechtes, zur Berücksichtigung der wirklichen Lebensbedürfnisse aufs äußerste beschränken mußten. Daneben stand ein Prozeßverfahren, das zwar großartigen Gesichts¬ punkten entsprungen war, aber dennoch nach sechzigjäriger Probe wegen Un- brauchbarkeit in seinen Grundzügen beseitigt wurde. Man verkannte die Wahr¬ heit, daß das Gesetz nur durch den Geist des Richters hindurch zu wirken vermag, und daß die beste Vorschrift erfolglos bleibt, wenn sie nicht die rich¬ tige Vollstreckung findet. So stand man denn noch immer im Banne des Buchstabendienstes, in jener Knechtschaft des Gesetzes, auf welche unser Reichs¬ kanzler gelegentlich das französische Wort anwandte: I^g. I6ssMt6 <M iwus tus. Erst unserm siegreichen Kaiser war es vorbehalten, den Grundsatz der richterlichen Gedankenfreiheit herzustellen, den einst Luther vergeblich anstrebte, und damit unser Recht einer höhern Kulturstufe anzupassen, welche in der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/366>, abgerufen am 01.09.2024.