Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Unpoxularität der Jurisprudenz.

seine Geltung. So erklärt sich der allmähliche Rückgang des Inhaltes aller
spätern Sammlungen, welche im byzantinischen Reiche an die Stelle des justi-
nianischen Buches traten. Wie von dem gewaltsam zusammengeschweißten Welt¬
reiche ein Stück nach dem andern abbröckelte, so erging es auch seinem Gesetz¬
buche. Hiernach ist es auch begreiflich, daß in Italien, wo die langobardischen
Eroberer die Römer ihren eignen Gerichten überließen, das alte Recht zwar
nicht völlig in Vergessenheit geriet, aber doch nur in seinen Grundzügen be¬
kannt blieb, zumal in einer Zeit, in welcher man vielfach ein Verdienst darin
erblickte, die Hoffnung auf ein besseres Jenseits durch Vernachlässigung aller
irdischen Pflichten zu bekräftigen. Es müssen entsetzliche Rechtszustände gewesen
sein, die in Italien zur Zeit Kaiser Rotbarts herrschten. Nach den eignen
Worten des Kaisers hungerte und dürstete damals alles nach der Gerechtigkeit.
Unwissenheit, Rohheit und Gewaltthat bildeten den Grundzug der Rechtspflege.
Eine neuschöpferische Wissenschaft, die ausreichende Gesetze hätte herstellen können,
gab es nicht. Die Vergangenheit war vergessen, die Gegenwart verwildert.
Nirgends war eine Abhilfe zu finden, wenn nicht in den justinianischen Büchern,
dem einzigen größern Überreste des antiken Rechtslebens. In Bologna begann
man sie nun eingehender zu studiren, dem Wunsche des Kaisers wie des Papstes
folgend. Allein man verfuhr mit der vollen Naivität geschichtlicher Unkenntnis.
Man fand in dem Werke, das man zunächst nicht übersah, vieles offenbar Vor¬
treffliche und bewunderte demgemäß das Schlechte nicht minder wie das Gute.
Namentlich galt die Versicherung des Kaisers Justinian, daß in seinem Buche
keine Widersprüche zu finden seien, als unantastbares Evangelium. Dieser Um¬
stand war nicht ohne Einfluß auf den Aufschwung der scholastischen Philosophie.
Es begann im spätern Mittelalter eine Nachahmung der orientalischen Spitz¬
findigkeit jener Schriftgelehrten, welche so häufig neben den Pharisäern ge¬
nannt worden sind. Die Wissenschaft jener Zeit sah ihr höchstes Ziel in dem
Bestreben, vorhandene handgreifliche Widersprüche in den juristischen Texten
durch scharfsinnige Kunstgriffe wegzudeuten. Es war dies wohl nur selten ab¬
sichtliche Unehrlichkeit, es geschah aus Pflichtgefühl und in aufrichtigem Glauben
an die Unfehlbarkeit des Textes. Wie sehr aber durch dieses Treiben, das an
der Wiege der juristischen Praxis des Mittelalters stand, der Jurisprudenz der
Geist der Silbenstecherei und der Gezwungenheit aufgedrückt worden ist, kann
man leicht ermessen; die Spuren jenes Geistes zeigen sich noch in unserm Jahr¬
hundert, wenn sie auch natürlich unter dem Hauche der freien Forschung von
Tag zu Tag mehr und mehr verblassen. Auch dieser Geist mußte bei Luther
wie bei Friedrich dem Großen das höchste Widerstreben erwecken. Was aber
diesen großen Männern am meisten widerstand, das waren die Vorschriften des
päpstlichen Prozeßrechtes, dessen Grundsätze in manchen Teilen Deutschlands erst
im Jahre 1879 beseitigt worden sind. Dieses päpstliche oder kanonische Verfahren
kann man nur dann verstehen, wenn man die Gegenwart vergißt und sich klar


Die Unpoxularität der Jurisprudenz.

seine Geltung. So erklärt sich der allmähliche Rückgang des Inhaltes aller
spätern Sammlungen, welche im byzantinischen Reiche an die Stelle des justi-
nianischen Buches traten. Wie von dem gewaltsam zusammengeschweißten Welt¬
reiche ein Stück nach dem andern abbröckelte, so erging es auch seinem Gesetz¬
buche. Hiernach ist es auch begreiflich, daß in Italien, wo die langobardischen
Eroberer die Römer ihren eignen Gerichten überließen, das alte Recht zwar
nicht völlig in Vergessenheit geriet, aber doch nur in seinen Grundzügen be¬
kannt blieb, zumal in einer Zeit, in welcher man vielfach ein Verdienst darin
erblickte, die Hoffnung auf ein besseres Jenseits durch Vernachlässigung aller
irdischen Pflichten zu bekräftigen. Es müssen entsetzliche Rechtszustände gewesen
sein, die in Italien zur Zeit Kaiser Rotbarts herrschten. Nach den eignen
Worten des Kaisers hungerte und dürstete damals alles nach der Gerechtigkeit.
Unwissenheit, Rohheit und Gewaltthat bildeten den Grundzug der Rechtspflege.
Eine neuschöpferische Wissenschaft, die ausreichende Gesetze hätte herstellen können,
gab es nicht. Die Vergangenheit war vergessen, die Gegenwart verwildert.
Nirgends war eine Abhilfe zu finden, wenn nicht in den justinianischen Büchern,
dem einzigen größern Überreste des antiken Rechtslebens. In Bologna begann
man sie nun eingehender zu studiren, dem Wunsche des Kaisers wie des Papstes
folgend. Allein man verfuhr mit der vollen Naivität geschichtlicher Unkenntnis.
Man fand in dem Werke, das man zunächst nicht übersah, vieles offenbar Vor¬
treffliche und bewunderte demgemäß das Schlechte nicht minder wie das Gute.
Namentlich galt die Versicherung des Kaisers Justinian, daß in seinem Buche
keine Widersprüche zu finden seien, als unantastbares Evangelium. Dieser Um¬
stand war nicht ohne Einfluß auf den Aufschwung der scholastischen Philosophie.
Es begann im spätern Mittelalter eine Nachahmung der orientalischen Spitz¬
findigkeit jener Schriftgelehrten, welche so häufig neben den Pharisäern ge¬
nannt worden sind. Die Wissenschaft jener Zeit sah ihr höchstes Ziel in dem
Bestreben, vorhandene handgreifliche Widersprüche in den juristischen Texten
durch scharfsinnige Kunstgriffe wegzudeuten. Es war dies wohl nur selten ab¬
sichtliche Unehrlichkeit, es geschah aus Pflichtgefühl und in aufrichtigem Glauben
an die Unfehlbarkeit des Textes. Wie sehr aber durch dieses Treiben, das an
der Wiege der juristischen Praxis des Mittelalters stand, der Jurisprudenz der
Geist der Silbenstecherei und der Gezwungenheit aufgedrückt worden ist, kann
man leicht ermessen; die Spuren jenes Geistes zeigen sich noch in unserm Jahr¬
hundert, wenn sie auch natürlich unter dem Hauche der freien Forschung von
Tag zu Tag mehr und mehr verblassen. Auch dieser Geist mußte bei Luther
wie bei Friedrich dem Großen das höchste Widerstreben erwecken. Was aber
diesen großen Männern am meisten widerstand, das waren die Vorschriften des
päpstlichen Prozeßrechtes, dessen Grundsätze in manchen Teilen Deutschlands erst
im Jahre 1879 beseitigt worden sind. Dieses päpstliche oder kanonische Verfahren
kann man nur dann verstehen, wenn man die Gegenwart vergißt und sich klar


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0364" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203141"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Unpoxularität der Jurisprudenz.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1190" prev="#ID_1189" next="#ID_1191"> seine Geltung. So erklärt sich der allmähliche Rückgang des Inhaltes aller<lb/>
spätern Sammlungen, welche im byzantinischen Reiche an die Stelle des justi-<lb/>
nianischen Buches traten. Wie von dem gewaltsam zusammengeschweißten Welt¬<lb/>
reiche ein Stück nach dem andern abbröckelte, so erging es auch seinem Gesetz¬<lb/>
buche. Hiernach ist es auch begreiflich, daß in Italien, wo die langobardischen<lb/>
Eroberer die Römer ihren eignen Gerichten überließen, das alte Recht zwar<lb/>
nicht völlig in Vergessenheit geriet, aber doch nur in seinen Grundzügen be¬<lb/>
kannt blieb, zumal in einer Zeit, in welcher man vielfach ein Verdienst darin<lb/>
erblickte, die Hoffnung auf ein besseres Jenseits durch Vernachlässigung aller<lb/>
irdischen Pflichten zu bekräftigen. Es müssen entsetzliche Rechtszustände gewesen<lb/>
sein, die in Italien zur Zeit Kaiser Rotbarts herrschten. Nach den eignen<lb/>
Worten des Kaisers hungerte und dürstete damals alles nach der Gerechtigkeit.<lb/>
Unwissenheit, Rohheit und Gewaltthat bildeten den Grundzug der Rechtspflege.<lb/>
Eine neuschöpferische Wissenschaft, die ausreichende Gesetze hätte herstellen können,<lb/>
gab es nicht. Die Vergangenheit war vergessen, die Gegenwart verwildert.<lb/>
Nirgends war eine Abhilfe zu finden, wenn nicht in den justinianischen Büchern,<lb/>
dem einzigen größern Überreste des antiken Rechtslebens. In Bologna begann<lb/>
man sie nun eingehender zu studiren, dem Wunsche des Kaisers wie des Papstes<lb/>
folgend. Allein man verfuhr mit der vollen Naivität geschichtlicher Unkenntnis.<lb/>
Man fand in dem Werke, das man zunächst nicht übersah, vieles offenbar Vor¬<lb/>
treffliche und bewunderte demgemäß das Schlechte nicht minder wie das Gute.<lb/>
Namentlich galt die Versicherung des Kaisers Justinian, daß in seinem Buche<lb/>
keine Widersprüche zu finden seien, als unantastbares Evangelium. Dieser Um¬<lb/>
stand war nicht ohne Einfluß auf den Aufschwung der scholastischen Philosophie.<lb/>
Es begann im spätern Mittelalter eine Nachahmung der orientalischen Spitz¬<lb/>
findigkeit jener Schriftgelehrten, welche so häufig neben den Pharisäern ge¬<lb/>
nannt worden sind. Die Wissenschaft jener Zeit sah ihr höchstes Ziel in dem<lb/>
Bestreben, vorhandene handgreifliche Widersprüche in den juristischen Texten<lb/>
durch scharfsinnige Kunstgriffe wegzudeuten. Es war dies wohl nur selten ab¬<lb/>
sichtliche Unehrlichkeit, es geschah aus Pflichtgefühl und in aufrichtigem Glauben<lb/>
an die Unfehlbarkeit des Textes. Wie sehr aber durch dieses Treiben, das an<lb/>
der Wiege der juristischen Praxis des Mittelalters stand, der Jurisprudenz der<lb/>
Geist der Silbenstecherei und der Gezwungenheit aufgedrückt worden ist, kann<lb/>
man leicht ermessen; die Spuren jenes Geistes zeigen sich noch in unserm Jahr¬<lb/>
hundert, wenn sie auch natürlich unter dem Hauche der freien Forschung von<lb/>
Tag zu Tag mehr und mehr verblassen. Auch dieser Geist mußte bei Luther<lb/>
wie bei Friedrich dem Großen das höchste Widerstreben erwecken. Was aber<lb/>
diesen großen Männern am meisten widerstand, das waren die Vorschriften des<lb/>
päpstlichen Prozeßrechtes, dessen Grundsätze in manchen Teilen Deutschlands erst<lb/>
im Jahre 1879 beseitigt worden sind. Dieses päpstliche oder kanonische Verfahren<lb/>
kann man nur dann verstehen, wenn man die Gegenwart vergißt und sich klar</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0364] Die Unpoxularität der Jurisprudenz. seine Geltung. So erklärt sich der allmähliche Rückgang des Inhaltes aller spätern Sammlungen, welche im byzantinischen Reiche an die Stelle des justi- nianischen Buches traten. Wie von dem gewaltsam zusammengeschweißten Welt¬ reiche ein Stück nach dem andern abbröckelte, so erging es auch seinem Gesetz¬ buche. Hiernach ist es auch begreiflich, daß in Italien, wo die langobardischen Eroberer die Römer ihren eignen Gerichten überließen, das alte Recht zwar nicht völlig in Vergessenheit geriet, aber doch nur in seinen Grundzügen be¬ kannt blieb, zumal in einer Zeit, in welcher man vielfach ein Verdienst darin erblickte, die Hoffnung auf ein besseres Jenseits durch Vernachlässigung aller irdischen Pflichten zu bekräftigen. Es müssen entsetzliche Rechtszustände gewesen sein, die in Italien zur Zeit Kaiser Rotbarts herrschten. Nach den eignen Worten des Kaisers hungerte und dürstete damals alles nach der Gerechtigkeit. Unwissenheit, Rohheit und Gewaltthat bildeten den Grundzug der Rechtspflege. Eine neuschöpferische Wissenschaft, die ausreichende Gesetze hätte herstellen können, gab es nicht. Die Vergangenheit war vergessen, die Gegenwart verwildert. Nirgends war eine Abhilfe zu finden, wenn nicht in den justinianischen Büchern, dem einzigen größern Überreste des antiken Rechtslebens. In Bologna begann man sie nun eingehender zu studiren, dem Wunsche des Kaisers wie des Papstes folgend. Allein man verfuhr mit der vollen Naivität geschichtlicher Unkenntnis. Man fand in dem Werke, das man zunächst nicht übersah, vieles offenbar Vor¬ treffliche und bewunderte demgemäß das Schlechte nicht minder wie das Gute. Namentlich galt die Versicherung des Kaisers Justinian, daß in seinem Buche keine Widersprüche zu finden seien, als unantastbares Evangelium. Dieser Um¬ stand war nicht ohne Einfluß auf den Aufschwung der scholastischen Philosophie. Es begann im spätern Mittelalter eine Nachahmung der orientalischen Spitz¬ findigkeit jener Schriftgelehrten, welche so häufig neben den Pharisäern ge¬ nannt worden sind. Die Wissenschaft jener Zeit sah ihr höchstes Ziel in dem Bestreben, vorhandene handgreifliche Widersprüche in den juristischen Texten durch scharfsinnige Kunstgriffe wegzudeuten. Es war dies wohl nur selten ab¬ sichtliche Unehrlichkeit, es geschah aus Pflichtgefühl und in aufrichtigem Glauben an die Unfehlbarkeit des Textes. Wie sehr aber durch dieses Treiben, das an der Wiege der juristischen Praxis des Mittelalters stand, der Jurisprudenz der Geist der Silbenstecherei und der Gezwungenheit aufgedrückt worden ist, kann man leicht ermessen; die Spuren jenes Geistes zeigen sich noch in unserm Jahr¬ hundert, wenn sie auch natürlich unter dem Hauche der freien Forschung von Tag zu Tag mehr und mehr verblassen. Auch dieser Geist mußte bei Luther wie bei Friedrich dem Großen das höchste Widerstreben erwecken. Was aber diesen großen Männern am meisten widerstand, das waren die Vorschriften des päpstlichen Prozeßrechtes, dessen Grundsätze in manchen Teilen Deutschlands erst im Jahre 1879 beseitigt worden sind. Dieses päpstliche oder kanonische Verfahren kann man nur dann verstehen, wenn man die Gegenwart vergißt und sich klar

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/364
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/364>, abgerufen am 01.09.2024.