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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die Unpopularität der Jurisprudenz.

fürchten mußte als alle Gothen und Wandalen, in diesem Buche eine willkommene
Veranlassung sehen würden, die erst kurz zuvor gewaltsam eingedämmte Wissen¬
schaft zu der frühern Freiheit zurückzuführen. Dies hätte wenig zur damaligen
Politik gepaßt. Darum verbot der Kaiser jede wissenschaftliche Kritik und jede
geschichtliche Erläuterung des Buches. Ein Staat, welcher verlangte, daß der
Mensch in seinen religiösen Überzeugungen sich nach andern richten müsse, - konnte
eine mächtige und freie Wissenschaft nicht dulden. Das erste Gesetz im Justinia-
nischen Kodex verbietet, etwas andres zu glauben als der Papst Damasus und
der Bischof Petrus von Alexandria. Das zweite befiehlt den Ketzern, ehrlich
ihren Irrglauben einzugestehen, damit man sie gehörig bestrafen könne. Daß
ein Gesetzbuch, welches mit solchen Bestimmungen beginnt, weder Luther noch
Friedrich dem Großen besondre Teilnahme einflößen konnte, ist wohl begreiflich.
Nicht der altrömische Bestandteil des Oorxus M'is, sondern die byzantinischen
und die mittelalterlichen Zuthaten erregten in Luther, wie er selbst zugiebt, seine
Abneigung gegen das fremde Rechtsbuch. Um aber auch hier dem byzantinischen
Kaiser gerecht zu werden, müssen wir die Dinge im Zusammenhange betrachten.
Wir dürfen nicht glauben, daß der Befehl des Kaisers, nach dem neuen
Sammelwerk zu lehren und zu richten, allzu ernst befolgt worden sein könne.
Es dürfte überhaupt bei dieser Gesetzgcbungsthat nicht bloß eine Befriedigung
praktischer Bedürfnisse, sondern eine nach außen hin glänzende That, ein orienta¬
lischer Prunkakt erstrebt worden sein. Mit Stolz berichtet der Kaiser, wieviel
Zeilen sein großes neues Gesetzbuch enthalte; was auf diesen Zeilen stand, er¬
schien demnach weniger wichtig. Allerdings sollte dies Buch in den fünf juri¬
stischen Studienjahren, an deren Ende übrigens keine Staatsprüfung stand,
durchgelesen und erläutert werden; aber man beschränkte sich wahrscheinlich auf
ausgewählte Stücke; daß man das schwer verständliche Werk damals ernstlich
habe geistig beherrschen und in angemessener Weise vor Gericht anwenden können,
halte ich bei dem Bildungsstande des byzantinischen Reiches für völlig un¬
denkbar. Wahrscheinlich hielt man sich in der Praxis in der Regel nur an die
kleine Einleitung der justinianischen Sammlung, die Institutionen, ein Elementar¬
lehrbuch aus guter alter Zeit, den kleinen Katechismus des römischen Rechtes.
Die andern Bände der Sammlung dürften wohl in manchen byzantinischen Ge¬
richtssälen zu allen Zeiten schwerlich eine andre Rolle gespielt haben, als die
einer Verzierung, von der nur zum Scheine hie und da die Rede war. Die
Richter brauchten damals noch keine ordentlichen Akten zu führen, sie waren
nicht verpflichtet, ihre Urteile mit Gründen auszustatten, bei Berufungen der
höhern Instanzen fand eine Einsendung der wirklich vorhandnen Akten nicht
statt. Außerdem war das Verfahren geheim, der Richter in seinem Sprengel
allmächtig und mit außergewöhnlichen Strafbefugnissen ausgestattet. Der rus¬
sische Satz: "Der Himmel ist hoch und der Zar ist weit" hatte sicherlich schon
in den byzantinischen Gerichtshöfen, den Vorbildern der russischen Rechtspflege,


Die Unpopularität der Jurisprudenz.

fürchten mußte als alle Gothen und Wandalen, in diesem Buche eine willkommene
Veranlassung sehen würden, die erst kurz zuvor gewaltsam eingedämmte Wissen¬
schaft zu der frühern Freiheit zurückzuführen. Dies hätte wenig zur damaligen
Politik gepaßt. Darum verbot der Kaiser jede wissenschaftliche Kritik und jede
geschichtliche Erläuterung des Buches. Ein Staat, welcher verlangte, daß der
Mensch in seinen religiösen Überzeugungen sich nach andern richten müsse, - konnte
eine mächtige und freie Wissenschaft nicht dulden. Das erste Gesetz im Justinia-
nischen Kodex verbietet, etwas andres zu glauben als der Papst Damasus und
der Bischof Petrus von Alexandria. Das zweite befiehlt den Ketzern, ehrlich
ihren Irrglauben einzugestehen, damit man sie gehörig bestrafen könne. Daß
ein Gesetzbuch, welches mit solchen Bestimmungen beginnt, weder Luther noch
Friedrich dem Großen besondre Teilnahme einflößen konnte, ist wohl begreiflich.
Nicht der altrömische Bestandteil des Oorxus M'is, sondern die byzantinischen
und die mittelalterlichen Zuthaten erregten in Luther, wie er selbst zugiebt, seine
Abneigung gegen das fremde Rechtsbuch. Um aber auch hier dem byzantinischen
Kaiser gerecht zu werden, müssen wir die Dinge im Zusammenhange betrachten.
Wir dürfen nicht glauben, daß der Befehl des Kaisers, nach dem neuen
Sammelwerk zu lehren und zu richten, allzu ernst befolgt worden sein könne.
Es dürfte überhaupt bei dieser Gesetzgcbungsthat nicht bloß eine Befriedigung
praktischer Bedürfnisse, sondern eine nach außen hin glänzende That, ein orienta¬
lischer Prunkakt erstrebt worden sein. Mit Stolz berichtet der Kaiser, wieviel
Zeilen sein großes neues Gesetzbuch enthalte; was auf diesen Zeilen stand, er¬
schien demnach weniger wichtig. Allerdings sollte dies Buch in den fünf juri¬
stischen Studienjahren, an deren Ende übrigens keine Staatsprüfung stand,
durchgelesen und erläutert werden; aber man beschränkte sich wahrscheinlich auf
ausgewählte Stücke; daß man das schwer verständliche Werk damals ernstlich
habe geistig beherrschen und in angemessener Weise vor Gericht anwenden können,
halte ich bei dem Bildungsstande des byzantinischen Reiches für völlig un¬
denkbar. Wahrscheinlich hielt man sich in der Praxis in der Regel nur an die
kleine Einleitung der justinianischen Sammlung, die Institutionen, ein Elementar¬
lehrbuch aus guter alter Zeit, den kleinen Katechismus des römischen Rechtes.
Die andern Bände der Sammlung dürften wohl in manchen byzantinischen Ge¬
richtssälen zu allen Zeiten schwerlich eine andre Rolle gespielt haben, als die
einer Verzierung, von der nur zum Scheine hie und da die Rede war. Die
Richter brauchten damals noch keine ordentlichen Akten zu führen, sie waren
nicht verpflichtet, ihre Urteile mit Gründen auszustatten, bei Berufungen der
höhern Instanzen fand eine Einsendung der wirklich vorhandnen Akten nicht
statt. Außerdem war das Verfahren geheim, der Richter in seinem Sprengel
allmächtig und mit außergewöhnlichen Strafbefugnissen ausgestattet. Der rus¬
sische Satz: „Der Himmel ist hoch und der Zar ist weit" hatte sicherlich schon
in den byzantinischen Gerichtshöfen, den Vorbildern der russischen Rechtspflege,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/363>, abgerufen am 01.09.2024.