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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die Unpopularität der Jurisprudenz.

dem vollen Bürgerrechte beschenkt worden waren. Die allgemeine Wehrpflicht,
die strenge Sitte und Gewissenspflege der alten Zeit waren verschwunden, ein
Ersatz war nicht vorhanden. Die Prätorianerheere, welche Rom allein schützten,
wollten es auch beherrschen. Die Gewaltherrschaft steigerte sich von Tag zu
Tage. Papinian, der erste römische Jurist, wurde enthauptet, weil er nicht
den Brudermord verteidigen wollte, den Caracalla verübt hatte. Der Sol¬
datenkaiser zerstörte die alten Prozeßformen und damit den Hauptschutz gegen
obrigkeitliche Willkür. Die Söhne Konstantins beseitigten alle Formulare und da¬
durch den Einfluß des hochgebildeten heidnischen Juristenstandes. Nach Theodosius
dem Zweiten wird das Verfahren heimlich und somit von dem Gutbefinden der
Gewalthaber abhängig. Die einflußreiche Geistlichkeit des byzantinischen Hofes
duldete keine schöpferische Wissenschaft mehr. Die Zersplitterung der Geister und
Herzen war so groß geworden, daß man vor einer erzwungenen Einigung nicht
zurückschreckte. Justinian ließ die Philosophenschulen von Athen schließen, um
die gefährlichsten Gegner der höfischen Geistlichkeit zu vernichten. Aber auch
schon lange vor ihm finden wir auf den Hochschulen eine außerordentliche Un¬
wissenheit der Rechtslehrer, um wieviel mehr der Lernenden. Die Meisterwerke
der klassischen Juristen schimmelten in den Bibliotheken. Da faßte Kaiser
Justinian, stolz auf die siegreichen Schlachten, welche seine Feldherren in seiner
Abwesenheit geschlagen hatten, den Plan, ein Gesetzbuch herzustellen, das seiner
Sophienkirche als Wunderwerk ebenbürtig sein sollte. Leider kann man die
guten Gesetzgeber nicht aus der Erde stampfen, am wenigsten in einer Zeit, in
der es lebensgefährlich ist, eine selbständige Meinung zu haben. Zwar besaß
Justinian in seinem Minister Tribonian einen vielseitig gebildeten Gelehrten und
trefflichen Gesetzgeber, jedoch einen Mann ohne geschichtliche Kenntnisse und daher
ohne tieferes Verständnis für die Ziele der klassischen römischen Jurisprudenz,
welche damals bereits mehr als 30V Jahre alt war. Die vorliegenden juri¬
stischen Schriften zu einem Ganzen zu verarbeiten, war Tribonian so wenig wie
irgend einer seiner Zeitgenossen imstande. Nun sollte aber doch ein Gesetz¬
buch auf alle Fälle hergestellt werden. Man verfiel daher auf diejenige Me¬
thode, nach der noch jetzt in manchen Zeitungsredaktionen verfahren wird, man
arbeitete statt mit dem Kopfe mit der Papierscheere. Nach dem Satze "Wer
vieles bringt, wird manchem etwas bringen" nahm man aus einer Menge teil¬
weise veralteter theoretischer und praktischer Werke, sowie aus ältern Gesetz¬
sammlungen in großer Eile eine Masse von Bruchstücken heraus, stellte sie nach
einem mittelmäßigen Plane zusammen und beseitigte diejenigen Widersprüche,
die bei oberflächlicher Lektüre in die Augen sprangen -- die andern zu sehen
war man unfähig. Dies Werk, das man später dorxus Mris genannt hat,
besaß zwei offenbare Mängel: ohne Geschichtskenntnisse ist es unverständlich,
und außerdem wimmelt es von Widersprüchen. Man durfte daher besorgen,
daß griechische und orientalische Auslegungskünstler, welche man in Byzanz mehr


Die Unpopularität der Jurisprudenz.

dem vollen Bürgerrechte beschenkt worden waren. Die allgemeine Wehrpflicht,
die strenge Sitte und Gewissenspflege der alten Zeit waren verschwunden, ein
Ersatz war nicht vorhanden. Die Prätorianerheere, welche Rom allein schützten,
wollten es auch beherrschen. Die Gewaltherrschaft steigerte sich von Tag zu
Tage. Papinian, der erste römische Jurist, wurde enthauptet, weil er nicht
den Brudermord verteidigen wollte, den Caracalla verübt hatte. Der Sol¬
datenkaiser zerstörte die alten Prozeßformen und damit den Hauptschutz gegen
obrigkeitliche Willkür. Die Söhne Konstantins beseitigten alle Formulare und da¬
durch den Einfluß des hochgebildeten heidnischen Juristenstandes. Nach Theodosius
dem Zweiten wird das Verfahren heimlich und somit von dem Gutbefinden der
Gewalthaber abhängig. Die einflußreiche Geistlichkeit des byzantinischen Hofes
duldete keine schöpferische Wissenschaft mehr. Die Zersplitterung der Geister und
Herzen war so groß geworden, daß man vor einer erzwungenen Einigung nicht
zurückschreckte. Justinian ließ die Philosophenschulen von Athen schließen, um
die gefährlichsten Gegner der höfischen Geistlichkeit zu vernichten. Aber auch
schon lange vor ihm finden wir auf den Hochschulen eine außerordentliche Un¬
wissenheit der Rechtslehrer, um wieviel mehr der Lernenden. Die Meisterwerke
der klassischen Juristen schimmelten in den Bibliotheken. Da faßte Kaiser
Justinian, stolz auf die siegreichen Schlachten, welche seine Feldherren in seiner
Abwesenheit geschlagen hatten, den Plan, ein Gesetzbuch herzustellen, das seiner
Sophienkirche als Wunderwerk ebenbürtig sein sollte. Leider kann man die
guten Gesetzgeber nicht aus der Erde stampfen, am wenigsten in einer Zeit, in
der es lebensgefährlich ist, eine selbständige Meinung zu haben. Zwar besaß
Justinian in seinem Minister Tribonian einen vielseitig gebildeten Gelehrten und
trefflichen Gesetzgeber, jedoch einen Mann ohne geschichtliche Kenntnisse und daher
ohne tieferes Verständnis für die Ziele der klassischen römischen Jurisprudenz,
welche damals bereits mehr als 30V Jahre alt war. Die vorliegenden juri¬
stischen Schriften zu einem Ganzen zu verarbeiten, war Tribonian so wenig wie
irgend einer seiner Zeitgenossen imstande. Nun sollte aber doch ein Gesetz¬
buch auf alle Fälle hergestellt werden. Man verfiel daher auf diejenige Me¬
thode, nach der noch jetzt in manchen Zeitungsredaktionen verfahren wird, man
arbeitete statt mit dem Kopfe mit der Papierscheere. Nach dem Satze „Wer
vieles bringt, wird manchem etwas bringen" nahm man aus einer Menge teil¬
weise veralteter theoretischer und praktischer Werke, sowie aus ältern Gesetz¬
sammlungen in großer Eile eine Masse von Bruchstücken heraus, stellte sie nach
einem mittelmäßigen Plane zusammen und beseitigte diejenigen Widersprüche,
die bei oberflächlicher Lektüre in die Augen sprangen — die andern zu sehen
war man unfähig. Dies Werk, das man später dorxus Mris genannt hat,
besaß zwei offenbare Mängel: ohne Geschichtskenntnisse ist es unverständlich,
und außerdem wimmelt es von Widersprüchen. Man durfte daher besorgen,
daß griechische und orientalische Auslegungskünstler, welche man in Byzanz mehr


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[0362] Die Unpopularität der Jurisprudenz. dem vollen Bürgerrechte beschenkt worden waren. Die allgemeine Wehrpflicht, die strenge Sitte und Gewissenspflege der alten Zeit waren verschwunden, ein Ersatz war nicht vorhanden. Die Prätorianerheere, welche Rom allein schützten, wollten es auch beherrschen. Die Gewaltherrschaft steigerte sich von Tag zu Tage. Papinian, der erste römische Jurist, wurde enthauptet, weil er nicht den Brudermord verteidigen wollte, den Caracalla verübt hatte. Der Sol¬ datenkaiser zerstörte die alten Prozeßformen und damit den Hauptschutz gegen obrigkeitliche Willkür. Die Söhne Konstantins beseitigten alle Formulare und da¬ durch den Einfluß des hochgebildeten heidnischen Juristenstandes. Nach Theodosius dem Zweiten wird das Verfahren heimlich und somit von dem Gutbefinden der Gewalthaber abhängig. Die einflußreiche Geistlichkeit des byzantinischen Hofes duldete keine schöpferische Wissenschaft mehr. Die Zersplitterung der Geister und Herzen war so groß geworden, daß man vor einer erzwungenen Einigung nicht zurückschreckte. Justinian ließ die Philosophenschulen von Athen schließen, um die gefährlichsten Gegner der höfischen Geistlichkeit zu vernichten. Aber auch schon lange vor ihm finden wir auf den Hochschulen eine außerordentliche Un¬ wissenheit der Rechtslehrer, um wieviel mehr der Lernenden. Die Meisterwerke der klassischen Juristen schimmelten in den Bibliotheken. Da faßte Kaiser Justinian, stolz auf die siegreichen Schlachten, welche seine Feldherren in seiner Abwesenheit geschlagen hatten, den Plan, ein Gesetzbuch herzustellen, das seiner Sophienkirche als Wunderwerk ebenbürtig sein sollte. Leider kann man die guten Gesetzgeber nicht aus der Erde stampfen, am wenigsten in einer Zeit, in der es lebensgefährlich ist, eine selbständige Meinung zu haben. Zwar besaß Justinian in seinem Minister Tribonian einen vielseitig gebildeten Gelehrten und trefflichen Gesetzgeber, jedoch einen Mann ohne geschichtliche Kenntnisse und daher ohne tieferes Verständnis für die Ziele der klassischen römischen Jurisprudenz, welche damals bereits mehr als 30V Jahre alt war. Die vorliegenden juri¬ stischen Schriften zu einem Ganzen zu verarbeiten, war Tribonian so wenig wie irgend einer seiner Zeitgenossen imstande. Nun sollte aber doch ein Gesetz¬ buch auf alle Fälle hergestellt werden. Man verfiel daher auf diejenige Me¬ thode, nach der noch jetzt in manchen Zeitungsredaktionen verfahren wird, man arbeitete statt mit dem Kopfe mit der Papierscheere. Nach dem Satze „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen" nahm man aus einer Menge teil¬ weise veralteter theoretischer und praktischer Werke, sowie aus ältern Gesetz¬ sammlungen in großer Eile eine Masse von Bruchstücken heraus, stellte sie nach einem mittelmäßigen Plane zusammen und beseitigte diejenigen Widersprüche, die bei oberflächlicher Lektüre in die Augen sprangen — die andern zu sehen war man unfähig. Dies Werk, das man später dorxus Mris genannt hat, besaß zwei offenbare Mängel: ohne Geschichtskenntnisse ist es unverständlich, und außerdem wimmelt es von Widersprüchen. Man durfte daher besorgen, daß griechische und orientalische Auslegungskünstler, welche man in Byzanz mehr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/362>, abgerufen am 01.09.2024.