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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die neueste Politik Rußlands am Balkan.

am goldnen Horn, dem es schon zweimal durch Kriegszüge nahe kam, fest
im Auge und wartet nur auf Gelegenheit zu einem neuen Versuche, es zu er¬
reichen. Inzwischen bemüht es sich, sein Gelingen vorzubereiten, in den auf
seinem Wege liegenden Staaten, die ihm nur provisorische Gebilde sind, den
österreichischen und englischen Einflüssen entgegenzuwirken, seine eigne selbstsüchtige
Gönnerschaft an deren Stelle zu bringen und die Erstarkung von Rumänien,
Bulgarien und Serbien durch Schüruug und Förderung der vorhandenen Zwie¬
tracht und Erweckung neuer zu hindern.

In Rumänien, wo der russische Generalkonsul Hitrowo in Bukarest die
Netze zieht, welche über die genannten Staaten ausgebreitet sind, konnte man
bei diesen Bemühungen nicht an die Nationalität der Bevölkerung anknüpfen,
wohl aber an die agrarischen Verhältnisse und an die infolge derselben vielfach
eingetretene Notlage des Landvolkes, zu dessen Unterhalt der Ertrag des ihm
vor zwei Jahrzehnten zugeteilten Bodens nicht mehr ausreicht, da die Ein¬
wohnerzahl der Dörfer sich seitdem stark vermehrt hat. Auf Grund hiervon
und zugleich deshalb, weil im vorigen Herbst der Kukurutz, welcher die Haupt¬
nahrung der rumänischen Bauern bildet, mißraten war, litten viele Gegenden
Mangel am Notwendigsten, und die daraus hervorgegangene Unzufriedenheit
brach, von russischen Wühlern aufgestachelt, in Gestalt eines gefährlichen Auf¬
standes aus. Nicht bloß in der Umgebung der Hauptstadt, sondern fast in
allen Strichen der großen Walachei fanden Zusammenrottungen und Unruhen
statt, bei denen es zu Blutvergießen kam. Die bedeutende Stadt Kalarasch
war am 17. April in den Händen der Aufrührer, die den gegen sie entsandten
Truppen ein Gefecht lieferten, bei welchem es mehrere Tote und viele Ver¬
wundete gab und welches erst am folgenden Tage mit der Zerstreuung der
Bauern endigte. In Parisch griffen Rebellenhaufen den Bahnhof an, um dort
lagernde Getreidevorräte zu rauben. In Budeschti fand ein Gefecht statt, in
dem zwanzig Bauern auf dem Platze blieben und achtzig verwundet wurden.
An vielen andern Orten kam es zur Plünderung und Zerstörung von Eigentum.
Der Ministerpräsident Nosetti hat eine Untersuchung der Vorfälle in Aussicht
gestellt, aber schon jetzt sagen zu können geglaubt, nicht bloß die Not der
Bauern liege ihnen zu Grunde, sondern auch die Aufhetzung von Übelwollenden,
welche aus ihrer Agitation Nutzen zögen, und der Aufstand sei weniger ein
Kampf zwischen Gutsbesitzern und Pächtern einerseits und Bauern anderseits
gewesen als ein Zusammenstoß von Rumänen und Fremden. Auch der Ex¬
minister Stourdza, das fähigste Mitglied des vor kurzem zurückgetretenen kon¬
servativen Kabinetts Braticmo, suchte in einer Unterredung mit dem Korre¬
spondenten der?im68 die Ursache der Unruhen in russischen Intriguen, und
auf die Bemerkung des letztern, es habe bei so vielem Zündmatcrial leicht einen
weit gefährlicheren Brand anstiften können, erwiederte er, der Aufstand sei nach
seiner Ansicht nur ein russischer Versuch gewesen, dessen Ergebnis später in


Die neueste Politik Rußlands am Balkan.

am goldnen Horn, dem es schon zweimal durch Kriegszüge nahe kam, fest
im Auge und wartet nur auf Gelegenheit zu einem neuen Versuche, es zu er¬
reichen. Inzwischen bemüht es sich, sein Gelingen vorzubereiten, in den auf
seinem Wege liegenden Staaten, die ihm nur provisorische Gebilde sind, den
österreichischen und englischen Einflüssen entgegenzuwirken, seine eigne selbstsüchtige
Gönnerschaft an deren Stelle zu bringen und die Erstarkung von Rumänien,
Bulgarien und Serbien durch Schüruug und Förderung der vorhandenen Zwie¬
tracht und Erweckung neuer zu hindern.

In Rumänien, wo der russische Generalkonsul Hitrowo in Bukarest die
Netze zieht, welche über die genannten Staaten ausgebreitet sind, konnte man
bei diesen Bemühungen nicht an die Nationalität der Bevölkerung anknüpfen,
wohl aber an die agrarischen Verhältnisse und an die infolge derselben vielfach
eingetretene Notlage des Landvolkes, zu dessen Unterhalt der Ertrag des ihm
vor zwei Jahrzehnten zugeteilten Bodens nicht mehr ausreicht, da die Ein¬
wohnerzahl der Dörfer sich seitdem stark vermehrt hat. Auf Grund hiervon
und zugleich deshalb, weil im vorigen Herbst der Kukurutz, welcher die Haupt¬
nahrung der rumänischen Bauern bildet, mißraten war, litten viele Gegenden
Mangel am Notwendigsten, und die daraus hervorgegangene Unzufriedenheit
brach, von russischen Wühlern aufgestachelt, in Gestalt eines gefährlichen Auf¬
standes aus. Nicht bloß in der Umgebung der Hauptstadt, sondern fast in
allen Strichen der großen Walachei fanden Zusammenrottungen und Unruhen
statt, bei denen es zu Blutvergießen kam. Die bedeutende Stadt Kalarasch
war am 17. April in den Händen der Aufrührer, die den gegen sie entsandten
Truppen ein Gefecht lieferten, bei welchem es mehrere Tote und viele Ver¬
wundete gab und welches erst am folgenden Tage mit der Zerstreuung der
Bauern endigte. In Parisch griffen Rebellenhaufen den Bahnhof an, um dort
lagernde Getreidevorräte zu rauben. In Budeschti fand ein Gefecht statt, in
dem zwanzig Bauern auf dem Platze blieben und achtzig verwundet wurden.
An vielen andern Orten kam es zur Plünderung und Zerstörung von Eigentum.
Der Ministerpräsident Nosetti hat eine Untersuchung der Vorfälle in Aussicht
gestellt, aber schon jetzt sagen zu können geglaubt, nicht bloß die Not der
Bauern liege ihnen zu Grunde, sondern auch die Aufhetzung von Übelwollenden,
welche aus ihrer Agitation Nutzen zögen, und der Aufstand sei weniger ein
Kampf zwischen Gutsbesitzern und Pächtern einerseits und Bauern anderseits
gewesen als ein Zusammenstoß von Rumänen und Fremden. Auch der Ex¬
minister Stourdza, das fähigste Mitglied des vor kurzem zurückgetretenen kon¬
servativen Kabinetts Braticmo, suchte in einer Unterredung mit dem Korre¬
spondenten der?im68 die Ursache der Unruhen in russischen Intriguen, und
auf die Bemerkung des letztern, es habe bei so vielem Zündmatcrial leicht einen
weit gefährlicheren Brand anstiften können, erwiederte er, der Aufstand sei nach
seiner Ansicht nur ein russischer Versuch gewesen, dessen Ergebnis später in


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[0354] Die neueste Politik Rußlands am Balkan. am goldnen Horn, dem es schon zweimal durch Kriegszüge nahe kam, fest im Auge und wartet nur auf Gelegenheit zu einem neuen Versuche, es zu er¬ reichen. Inzwischen bemüht es sich, sein Gelingen vorzubereiten, in den auf seinem Wege liegenden Staaten, die ihm nur provisorische Gebilde sind, den österreichischen und englischen Einflüssen entgegenzuwirken, seine eigne selbstsüchtige Gönnerschaft an deren Stelle zu bringen und die Erstarkung von Rumänien, Bulgarien und Serbien durch Schüruug und Förderung der vorhandenen Zwie¬ tracht und Erweckung neuer zu hindern. In Rumänien, wo der russische Generalkonsul Hitrowo in Bukarest die Netze zieht, welche über die genannten Staaten ausgebreitet sind, konnte man bei diesen Bemühungen nicht an die Nationalität der Bevölkerung anknüpfen, wohl aber an die agrarischen Verhältnisse und an die infolge derselben vielfach eingetretene Notlage des Landvolkes, zu dessen Unterhalt der Ertrag des ihm vor zwei Jahrzehnten zugeteilten Bodens nicht mehr ausreicht, da die Ein¬ wohnerzahl der Dörfer sich seitdem stark vermehrt hat. Auf Grund hiervon und zugleich deshalb, weil im vorigen Herbst der Kukurutz, welcher die Haupt¬ nahrung der rumänischen Bauern bildet, mißraten war, litten viele Gegenden Mangel am Notwendigsten, und die daraus hervorgegangene Unzufriedenheit brach, von russischen Wühlern aufgestachelt, in Gestalt eines gefährlichen Auf¬ standes aus. Nicht bloß in der Umgebung der Hauptstadt, sondern fast in allen Strichen der großen Walachei fanden Zusammenrottungen und Unruhen statt, bei denen es zu Blutvergießen kam. Die bedeutende Stadt Kalarasch war am 17. April in den Händen der Aufrührer, die den gegen sie entsandten Truppen ein Gefecht lieferten, bei welchem es mehrere Tote und viele Ver¬ wundete gab und welches erst am folgenden Tage mit der Zerstreuung der Bauern endigte. In Parisch griffen Rebellenhaufen den Bahnhof an, um dort lagernde Getreidevorräte zu rauben. In Budeschti fand ein Gefecht statt, in dem zwanzig Bauern auf dem Platze blieben und achtzig verwundet wurden. An vielen andern Orten kam es zur Plünderung und Zerstörung von Eigentum. Der Ministerpräsident Nosetti hat eine Untersuchung der Vorfälle in Aussicht gestellt, aber schon jetzt sagen zu können geglaubt, nicht bloß die Not der Bauern liege ihnen zu Grunde, sondern auch die Aufhetzung von Übelwollenden, welche aus ihrer Agitation Nutzen zögen, und der Aufstand sei weniger ein Kampf zwischen Gutsbesitzern und Pächtern einerseits und Bauern anderseits gewesen als ein Zusammenstoß von Rumänen und Fremden. Auch der Ex¬ minister Stourdza, das fähigste Mitglied des vor kurzem zurückgetretenen kon¬ servativen Kabinetts Braticmo, suchte in einer Unterredung mit dem Korre¬ spondenten der?im68 die Ursache der Unruhen in russischen Intriguen, und auf die Bemerkung des letztern, es habe bei so vielem Zündmatcrial leicht einen weit gefährlicheren Brand anstiften können, erwiederte er, der Aufstand sei nach seiner Ansicht nur ein russischer Versuch gewesen, dessen Ergebnis später in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/354>, abgerufen am 01.09.2024.