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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Ricks Lyhne.

er, die ganze Bibel durchzulesen und ein Tagebuch zu führen; Frithjof dagegen
suchte in seiner völligen Verlassenheit einen entwürdigenden Trost darin, mit
seinen Schwestern zu spielen.

Allmählich trat die Vergangenheit mehr in den Hintergrund, und die Sehn¬
sucht wurde milder; sie kam wohl noch an stillen Abenden, wenn das Sonnen¬
rot die Wände der einsamen Kammer beleuchtete, das ferne, einförmige Rufen
des Kukuks verstummte und das Schweigen noch tiefer und größer wurde --
dann konnte die Sehnsucht kommen und alles reizlos machen und sich erschlaffend
auf die Sinne legen; aber sie schmerzte nicht mehr, sie kam so leise, sie ließ sich
so sanft herab, daß sie bald süß war, wie ein gesenkter Schmerz.

Ebenso verhielt es sich mit den Briefen. Im Anfang waren sie voller
Klagen, voller Fragen und Wünsche, die sich lose aneinander reihten; aber mit
der Zeit wurden sie länger, beschäftigten sich mehr mit dem Äußern und er¬
zählten, und dann waren sie stilvoll, sauber geschrieben, und es lag eine gewisse
Freude darin, daß man die Gefühle so gut zwischen den Zeilen verbergen konnte.

Es war ja auch ganz natürlich, daß jetzt wieder manches zum Vorschein
kam, was sich während Eriks Anwesenheit nicht ans Tageslicht gewagt hatte. Die
Schwärmerei streute ihre Fliederblumen in die langweilige Stille des ereignis¬
losen Lebens herab, die Traumluft legte sich über die Sinne, reizte und zehrte
mit ihrem Duft des Lebens und dem feinen, im Tode verborgenen Gift ihrer
lebensdurstigen Ahnungen.

Und fo wächst denn Ricks allmählich heran, und alle Kindheitseinflüsse
hinterlassen ihre Spuren in dem weichen Thon, alles bildet, alles hat Bedeutung,
das Wirkliche wie das nur Geträumte, das Gewußte und das Geahnte, das
hinterläßt alles seine leichten, aber sichergezogenen Linien, welche noch entwickelt
und vertieft werden und dann abgerundet und ausgelöscht werden sollen.




Sechstes Aapitel.

Studiosus Lyhne - Frau Boye; Studiosus Frithjof Petersen - Frau Boye.

Es war Erik, welcher vorstellte, und zwar in Mikkelsens Atelier, einem
großen, hellen Raume mit gestampftem Lehmboden und einer Höhe von zwölf
Ellen, mit zwei großen Thüren nach außen in der einen Wand und mehreren
kleinen Thüren im Hintergrunde, die zu den einzelnen Ateliers führten. Alles
dadrinnen war grau von Lehm-, Gyps- und Marmorstaub. Der Staub hatte
die Fäden der Spinnengewebe an der Decke so dick gemacht wie Segclgarn
und eine Flußkarte auf die großen Fensterscheiben gezeichnet; er lag in den
Augen. Mündern und Nasen, in den Muskelvertiefungen, in den Locken und
den Gewändern der unzähligen Gypsabgüsse, die sich wie ein Fries von der
Zerstörung Jerusalems auf langen Borden an den Wänden des ganzen Zimmers


Ricks Lyhne.

er, die ganze Bibel durchzulesen und ein Tagebuch zu führen; Frithjof dagegen
suchte in seiner völligen Verlassenheit einen entwürdigenden Trost darin, mit
seinen Schwestern zu spielen.

Allmählich trat die Vergangenheit mehr in den Hintergrund, und die Sehn¬
sucht wurde milder; sie kam wohl noch an stillen Abenden, wenn das Sonnen¬
rot die Wände der einsamen Kammer beleuchtete, das ferne, einförmige Rufen
des Kukuks verstummte und das Schweigen noch tiefer und größer wurde —
dann konnte die Sehnsucht kommen und alles reizlos machen und sich erschlaffend
auf die Sinne legen; aber sie schmerzte nicht mehr, sie kam so leise, sie ließ sich
so sanft herab, daß sie bald süß war, wie ein gesenkter Schmerz.

Ebenso verhielt es sich mit den Briefen. Im Anfang waren sie voller
Klagen, voller Fragen und Wünsche, die sich lose aneinander reihten; aber mit
der Zeit wurden sie länger, beschäftigten sich mehr mit dem Äußern und er¬
zählten, und dann waren sie stilvoll, sauber geschrieben, und es lag eine gewisse
Freude darin, daß man die Gefühle so gut zwischen den Zeilen verbergen konnte.

Es war ja auch ganz natürlich, daß jetzt wieder manches zum Vorschein
kam, was sich während Eriks Anwesenheit nicht ans Tageslicht gewagt hatte. Die
Schwärmerei streute ihre Fliederblumen in die langweilige Stille des ereignis¬
losen Lebens herab, die Traumluft legte sich über die Sinne, reizte und zehrte
mit ihrem Duft des Lebens und dem feinen, im Tode verborgenen Gift ihrer
lebensdurstigen Ahnungen.

Und fo wächst denn Ricks allmählich heran, und alle Kindheitseinflüsse
hinterlassen ihre Spuren in dem weichen Thon, alles bildet, alles hat Bedeutung,
das Wirkliche wie das nur Geträumte, das Gewußte und das Geahnte, das
hinterläßt alles seine leichten, aber sichergezogenen Linien, welche noch entwickelt
und vertieft werden und dann abgerundet und ausgelöscht werden sollen.




Sechstes Aapitel.

Studiosus Lyhne - Frau Boye; Studiosus Frithjof Petersen - Frau Boye.

Es war Erik, welcher vorstellte, und zwar in Mikkelsens Atelier, einem
großen, hellen Raume mit gestampftem Lehmboden und einer Höhe von zwölf
Ellen, mit zwei großen Thüren nach außen in der einen Wand und mehreren
kleinen Thüren im Hintergrunde, die zu den einzelnen Ateliers führten. Alles
dadrinnen war grau von Lehm-, Gyps- und Marmorstaub. Der Staub hatte
die Fäden der Spinnengewebe an der Decke so dick gemacht wie Segclgarn
und eine Flußkarte auf die großen Fensterscheiben gezeichnet; er lag in den
Augen. Mündern und Nasen, in den Muskelvertiefungen, in den Locken und
den Gewändern der unzähligen Gypsabgüsse, die sich wie ein Fries von der
Zerstörung Jerusalems auf langen Borden an den Wänden des ganzen Zimmers


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[0339] Ricks Lyhne. er, die ganze Bibel durchzulesen und ein Tagebuch zu führen; Frithjof dagegen suchte in seiner völligen Verlassenheit einen entwürdigenden Trost darin, mit seinen Schwestern zu spielen. Allmählich trat die Vergangenheit mehr in den Hintergrund, und die Sehn¬ sucht wurde milder; sie kam wohl noch an stillen Abenden, wenn das Sonnen¬ rot die Wände der einsamen Kammer beleuchtete, das ferne, einförmige Rufen des Kukuks verstummte und das Schweigen noch tiefer und größer wurde — dann konnte die Sehnsucht kommen und alles reizlos machen und sich erschlaffend auf die Sinne legen; aber sie schmerzte nicht mehr, sie kam so leise, sie ließ sich so sanft herab, daß sie bald süß war, wie ein gesenkter Schmerz. Ebenso verhielt es sich mit den Briefen. Im Anfang waren sie voller Klagen, voller Fragen und Wünsche, die sich lose aneinander reihten; aber mit der Zeit wurden sie länger, beschäftigten sich mehr mit dem Äußern und er¬ zählten, und dann waren sie stilvoll, sauber geschrieben, und es lag eine gewisse Freude darin, daß man die Gefühle so gut zwischen den Zeilen verbergen konnte. Es war ja auch ganz natürlich, daß jetzt wieder manches zum Vorschein kam, was sich während Eriks Anwesenheit nicht ans Tageslicht gewagt hatte. Die Schwärmerei streute ihre Fliederblumen in die langweilige Stille des ereignis¬ losen Lebens herab, die Traumluft legte sich über die Sinne, reizte und zehrte mit ihrem Duft des Lebens und dem feinen, im Tode verborgenen Gift ihrer lebensdurstigen Ahnungen. Und fo wächst denn Ricks allmählich heran, und alle Kindheitseinflüsse hinterlassen ihre Spuren in dem weichen Thon, alles bildet, alles hat Bedeutung, das Wirkliche wie das nur Geträumte, das Gewußte und das Geahnte, das hinterläßt alles seine leichten, aber sichergezogenen Linien, welche noch entwickelt und vertieft werden und dann abgerundet und ausgelöscht werden sollen. Sechstes Aapitel. Studiosus Lyhne - Frau Boye; Studiosus Frithjof Petersen - Frau Boye. Es war Erik, welcher vorstellte, und zwar in Mikkelsens Atelier, einem großen, hellen Raume mit gestampftem Lehmboden und einer Höhe von zwölf Ellen, mit zwei großen Thüren nach außen in der einen Wand und mehreren kleinen Thüren im Hintergrunde, die zu den einzelnen Ateliers führten. Alles dadrinnen war grau von Lehm-, Gyps- und Marmorstaub. Der Staub hatte die Fäden der Spinnengewebe an der Decke so dick gemacht wie Segclgarn und eine Flußkarte auf die großen Fensterscheiben gezeichnet; er lag in den Augen. Mündern und Nasen, in den Muskelvertiefungen, in den Locken und den Gewändern der unzähligen Gypsabgüsse, die sich wie ein Fries von der Zerstörung Jerusalems auf langen Borden an den Wänden des ganzen Zimmers

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/339>, abgerufen am 01.09.2024.