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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die Unpopnlarität der Jurisprudenz,

danken die deutsche Form aufprägen ließ. Es war jedoch ein Irrtum, wenn
man glaubte, dadurch die römischen Quellen entbehrlich zu machen. Ebenso
wenig wie unsre Seelsorger durch Luthers Werk von der Pflicht entbunden sind,
die heilige Schrift im Urtexte zu lesen, ebensowenig darf der Jurist darauf
verzichten, die Bucher, aus denen die neuen Gesetzeswerke herausgewachsen sind,
in der Sprache ihrer Entstehungszeit kennen zu lernen. Die römischen Geistes¬
schätze sind aber nicht bloß die Quellen unsrer Gesetzbücher, sie sind auch die
Hebel unsers neuern Volkslebens. Unter ihrem Schutze und nach ihrem Vor¬
bilde entstanden Handel und Wandel, Beamtentum und Städtefreiheit. Wer sie
nicht kennt, kann nicht bloß unser Recht, sondern auch unser Volksleben nicht
verstehen. Jeder Kampf gegen das Studium dieser Werke ist also ein Kampf
gegen die Erkenntnis der Quellen unsrer eignen vaterländischen Geschichte. Er
kehrt sich uicht gegen das Ausland, sondern gegen die deutschen Vorfahren, die
dafür gearbeitet haben, uns die Schätze zu erringen, deren wir uns mühelos
erfreuen. Nur die Kenntnis der eignen Geschichte vermag einem Volke die¬
jenige Ehrfurcht vor dem Überlieferten zu erhalten, welche den wissenschaftlich
gebildeten Menschen von dem unterscheidet, der sein Leben ausschließlich dem
Erwerbe und dem Genusse weiht und die Wissenschaft nur achtet, soweit sie
seinem körperlichen Wohlbefinden nützlich zu sein vermag.

Soweit also unsre Jurisprudenz wegen ihrer geschichtlichen Grundlage
unpopulär ist, dient ihr diese UnPopularität zum Adelsbriefe, und der Jurist
kann hier durch Festhalten an den guten alten Gewohnheiten beweisen, daß er
der schwankenden Strömung des Tages nicht dienstbar ist.

Es ist also nicht der römische Ursprung, sondern die höhere Kulturstufe,
welche unser Recht der großen Menge entfremdet; denn nicht bloß da, wo
fremdes Recht aufgenommen worden ist, auch dort, wo das alte sich fortent¬
wickelte, verlor die Rechtspflege mit Notwendigkeit ihre volkstümliche Natur.
Zu einer guten Rechtspflege gehört überall und zu allen Zeiten eines: die
Gesetze müssen so gedeutet werden, wie sie gemeint sind, d. h. zum Heile, nicht
zum. Schaden des Vaterlandes. Was aber gereicht zum Heile des Vaterlandes?
Das ist eine Sache der geschichtlichen Erfahrung. Die Antwort darauf ist
uns nicht angeboren, sie muß erlernt werden. Nun ist das einzelne Menschen¬
leben viel zu armselig, um eine so schwere Frage zu beantworte". Besser wirkt
in dieser Hinsicht die praktische Erfahrung des Richters und des Anmaltes.
Vor ihnen erscheinen die Angehörigen aller Volksklassen und enthüllen den un¬
sichtbaren Zusammenhang, der zwischen den Menschen besteht. Indessen auch
diese Erfahrung ist lückenhaft. Das ganze Volk wohnt nicht in einer Gegend;
hier überwiegt., diese, dort jene -Bevölkerungsklasse. Es erscheinen auch nicht
alle vor Gericht, wer klug ist, bemüht sich vielmehr, diesen Gang nicht allzu
oft antreten zu müssen. So bleibt denn das Bild, das die Praxis giebt,
immer lückenhaft, der Ergänzung fähig. Hier tritt nun ein andrer Helfer ein,


Die Unpopnlarität der Jurisprudenz,

danken die deutsche Form aufprägen ließ. Es war jedoch ein Irrtum, wenn
man glaubte, dadurch die römischen Quellen entbehrlich zu machen. Ebenso
wenig wie unsre Seelsorger durch Luthers Werk von der Pflicht entbunden sind,
die heilige Schrift im Urtexte zu lesen, ebensowenig darf der Jurist darauf
verzichten, die Bucher, aus denen die neuen Gesetzeswerke herausgewachsen sind,
in der Sprache ihrer Entstehungszeit kennen zu lernen. Die römischen Geistes¬
schätze sind aber nicht bloß die Quellen unsrer Gesetzbücher, sie sind auch die
Hebel unsers neuern Volkslebens. Unter ihrem Schutze und nach ihrem Vor¬
bilde entstanden Handel und Wandel, Beamtentum und Städtefreiheit. Wer sie
nicht kennt, kann nicht bloß unser Recht, sondern auch unser Volksleben nicht
verstehen. Jeder Kampf gegen das Studium dieser Werke ist also ein Kampf
gegen die Erkenntnis der Quellen unsrer eignen vaterländischen Geschichte. Er
kehrt sich uicht gegen das Ausland, sondern gegen die deutschen Vorfahren, die
dafür gearbeitet haben, uns die Schätze zu erringen, deren wir uns mühelos
erfreuen. Nur die Kenntnis der eignen Geschichte vermag einem Volke die¬
jenige Ehrfurcht vor dem Überlieferten zu erhalten, welche den wissenschaftlich
gebildeten Menschen von dem unterscheidet, der sein Leben ausschließlich dem
Erwerbe und dem Genusse weiht und die Wissenschaft nur achtet, soweit sie
seinem körperlichen Wohlbefinden nützlich zu sein vermag.

Soweit also unsre Jurisprudenz wegen ihrer geschichtlichen Grundlage
unpopulär ist, dient ihr diese UnPopularität zum Adelsbriefe, und der Jurist
kann hier durch Festhalten an den guten alten Gewohnheiten beweisen, daß er
der schwankenden Strömung des Tages nicht dienstbar ist.

Es ist also nicht der römische Ursprung, sondern die höhere Kulturstufe,
welche unser Recht der großen Menge entfremdet; denn nicht bloß da, wo
fremdes Recht aufgenommen worden ist, auch dort, wo das alte sich fortent¬
wickelte, verlor die Rechtspflege mit Notwendigkeit ihre volkstümliche Natur.
Zu einer guten Rechtspflege gehört überall und zu allen Zeiten eines: die
Gesetze müssen so gedeutet werden, wie sie gemeint sind, d. h. zum Heile, nicht
zum. Schaden des Vaterlandes. Was aber gereicht zum Heile des Vaterlandes?
Das ist eine Sache der geschichtlichen Erfahrung. Die Antwort darauf ist
uns nicht angeboren, sie muß erlernt werden. Nun ist das einzelne Menschen¬
leben viel zu armselig, um eine so schwere Frage zu beantworte». Besser wirkt
in dieser Hinsicht die praktische Erfahrung des Richters und des Anmaltes.
Vor ihnen erscheinen die Angehörigen aller Volksklassen und enthüllen den un¬
sichtbaren Zusammenhang, der zwischen den Menschen besteht. Indessen auch
diese Erfahrung ist lückenhaft. Das ganze Volk wohnt nicht in einer Gegend;
hier überwiegt., diese, dort jene -Bevölkerungsklasse. Es erscheinen auch nicht
alle vor Gericht, wer klug ist, bemüht sich vielmehr, diesen Gang nicht allzu
oft antreten zu müssen. So bleibt denn das Bild, das die Praxis giebt,
immer lückenhaft, der Ergänzung fähig. Hier tritt nun ein andrer Helfer ein,


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[0324] Die Unpopnlarität der Jurisprudenz, danken die deutsche Form aufprägen ließ. Es war jedoch ein Irrtum, wenn man glaubte, dadurch die römischen Quellen entbehrlich zu machen. Ebenso wenig wie unsre Seelsorger durch Luthers Werk von der Pflicht entbunden sind, die heilige Schrift im Urtexte zu lesen, ebensowenig darf der Jurist darauf verzichten, die Bucher, aus denen die neuen Gesetzeswerke herausgewachsen sind, in der Sprache ihrer Entstehungszeit kennen zu lernen. Die römischen Geistes¬ schätze sind aber nicht bloß die Quellen unsrer Gesetzbücher, sie sind auch die Hebel unsers neuern Volkslebens. Unter ihrem Schutze und nach ihrem Vor¬ bilde entstanden Handel und Wandel, Beamtentum und Städtefreiheit. Wer sie nicht kennt, kann nicht bloß unser Recht, sondern auch unser Volksleben nicht verstehen. Jeder Kampf gegen das Studium dieser Werke ist also ein Kampf gegen die Erkenntnis der Quellen unsrer eignen vaterländischen Geschichte. Er kehrt sich uicht gegen das Ausland, sondern gegen die deutschen Vorfahren, die dafür gearbeitet haben, uns die Schätze zu erringen, deren wir uns mühelos erfreuen. Nur die Kenntnis der eignen Geschichte vermag einem Volke die¬ jenige Ehrfurcht vor dem Überlieferten zu erhalten, welche den wissenschaftlich gebildeten Menschen von dem unterscheidet, der sein Leben ausschließlich dem Erwerbe und dem Genusse weiht und die Wissenschaft nur achtet, soweit sie seinem körperlichen Wohlbefinden nützlich zu sein vermag. Soweit also unsre Jurisprudenz wegen ihrer geschichtlichen Grundlage unpopulär ist, dient ihr diese UnPopularität zum Adelsbriefe, und der Jurist kann hier durch Festhalten an den guten alten Gewohnheiten beweisen, daß er der schwankenden Strömung des Tages nicht dienstbar ist. Es ist also nicht der römische Ursprung, sondern die höhere Kulturstufe, welche unser Recht der großen Menge entfremdet; denn nicht bloß da, wo fremdes Recht aufgenommen worden ist, auch dort, wo das alte sich fortent¬ wickelte, verlor die Rechtspflege mit Notwendigkeit ihre volkstümliche Natur. Zu einer guten Rechtspflege gehört überall und zu allen Zeiten eines: die Gesetze müssen so gedeutet werden, wie sie gemeint sind, d. h. zum Heile, nicht zum. Schaden des Vaterlandes. Was aber gereicht zum Heile des Vaterlandes? Das ist eine Sache der geschichtlichen Erfahrung. Die Antwort darauf ist uns nicht angeboren, sie muß erlernt werden. Nun ist das einzelne Menschen¬ leben viel zu armselig, um eine so schwere Frage zu beantworte». Besser wirkt in dieser Hinsicht die praktische Erfahrung des Richters und des Anmaltes. Vor ihnen erscheinen die Angehörigen aller Volksklassen und enthüllen den un¬ sichtbaren Zusammenhang, der zwischen den Menschen besteht. Indessen auch diese Erfahrung ist lückenhaft. Das ganze Volk wohnt nicht in einer Gegend; hier überwiegt., diese, dort jene -Bevölkerungsklasse. Es erscheinen auch nicht alle vor Gericht, wer klug ist, bemüht sich vielmehr, diesen Gang nicht allzu oft antreten zu müssen. So bleibt denn das Bild, das die Praxis giebt, immer lückenhaft, der Ergänzung fähig. Hier tritt nun ein andrer Helfer ein,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/324>, abgerufen am 01.09.2024.