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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die Unpopularität der Jurisprudenz,

die allzu große Einfachheit des Inhalts. So entschied 5. B. in der Regel das
Gottesgericht. Man denke an den ersten Akt des "Lohengrin," vergleiche ihn
mit einer gegenwärtigen Gerichtsverhandlung und frage sich, welche der beiden
Prozeßarten den Vorzug verdiene. Ich glaube, man wird dem Gottesgerichte
für die Bühne, für das Leben aber unsrer Strafprozeßordnung den Preis er¬
teilen. Schwerlich würde heutzutage eine Jungfrau, welche das Unglück träfe,
unschuldig angeklagt zu werden, die Hoffnung auf einen Gralsritter der An¬
nahme eines tüchtigen Rechtsanwalts vorziehen. "Was unsterblich im Gesang
soll leben, muß im Leben untergehn."

Daraus folgt, daß Einfachheit des Rechtes und Kindlichkeit des Volks¬
lebens zusammenhängen. Wenn das Volk heranwächst, so mehrt sich der In¬
halt seines Geisteslebens, damit tritt eine allgemeine Arbeitsteilung ein, an der
auch der Jurist seinen Anteil hat. Man sammelt die Rechtssprüche und die
Erfahrungen der Vergangenheit, und wer diese nicht kennt, kann nicht mehr
richten. Der Jnristenberuf wird dadurch ein Vorrecht der Sachverständigen,
und nur die Dichtkunst vermag es, dem herangewachsenen Volke für die ent¬
schwundene goldene Kindheitszeit einen Ersatz zu bieten, indem sie deren Abbild
in verklärenden Lichte als unverlierbaren Schatz bewahrt.

Leider ist diese Einsicht nicht so allgemein, wie es wünschenswert wäre.
Vielmehr ist nach der Meinung vieler unsre Jurisprudenz nur dadurch ihrer
Volkstümlichkeit verlustig gegangen, daß wir unser einheimisches Recht mit einem
fremden vertauschten. Wer sich von dieser unhaltbaren Ansicht frei machen will,
muß weit ausholen und die deutsche Geschichte in ihren großen Grundzügen
betrachten. Von allen Gütern, deren wir uns erfreuen, ist der größte Teil er¬
erbt. Den Ahnen verdankt der Nachkomme seine Kraft. Allein es giebt zwei
Arten von Ahnen, die nicht immer zusammenfallen, körperliche und geistige;
jenen verdanken wir das Leben, diesen den Inhalt, der unser Denken erfüllt.
Es giebt Völker, bei denen ein solcher Unterschied nicht bloß im Anfange fehlt,
sondern auch bei weiterer Fortentwicklung nicht eintritt, weil eine chinesische
Mauer eine Bereicherung des heimischen Geisteslebens von außen her hindert.
Nun können wir behaupten, daß es kaum ein zweites Volk giebt, das von jeher
so wenig wie das deutsche diese chinesische Politik befolgt hat. Nur darin be¬
kundet der Deutsche seine Eigenart, daß er nichts nachäfft, sondern alles mit
selbständigen Zuthaten reicher ausgestaltet, ein eigenartiger Fortbilder fremder
Muster. So entstanden die deutschen Schriftzeichen aus den lateinischen, die
deutsche Grammatik aus den Sprachregeln der Antike, die gothische Baukunst
aus der romanischen, so fast alles, was sich über den Gesichtskreis des schlich¬
testen Volkslebens erhebt. Man streiche mit mir in unsrer Rangliste, in unserm
Exerzierreglement alle ausländischen Ausdrücke an, lese die Rezepte unsrer Ärzte,
die Aufschriften auf den Büchsen unsrer Apotheker, wandle mit mir durch die
Kontors unsrer Kaufleute und beachte in deren Handelsbüchern und Briefen


Grenzboten II. 1883. 40
Die Unpopularität der Jurisprudenz,

die allzu große Einfachheit des Inhalts. So entschied 5. B. in der Regel das
Gottesgericht. Man denke an den ersten Akt des „Lohengrin," vergleiche ihn
mit einer gegenwärtigen Gerichtsverhandlung und frage sich, welche der beiden
Prozeßarten den Vorzug verdiene. Ich glaube, man wird dem Gottesgerichte
für die Bühne, für das Leben aber unsrer Strafprozeßordnung den Preis er¬
teilen. Schwerlich würde heutzutage eine Jungfrau, welche das Unglück träfe,
unschuldig angeklagt zu werden, die Hoffnung auf einen Gralsritter der An¬
nahme eines tüchtigen Rechtsanwalts vorziehen. „Was unsterblich im Gesang
soll leben, muß im Leben untergehn."

Daraus folgt, daß Einfachheit des Rechtes und Kindlichkeit des Volks¬
lebens zusammenhängen. Wenn das Volk heranwächst, so mehrt sich der In¬
halt seines Geisteslebens, damit tritt eine allgemeine Arbeitsteilung ein, an der
auch der Jurist seinen Anteil hat. Man sammelt die Rechtssprüche und die
Erfahrungen der Vergangenheit, und wer diese nicht kennt, kann nicht mehr
richten. Der Jnristenberuf wird dadurch ein Vorrecht der Sachverständigen,
und nur die Dichtkunst vermag es, dem herangewachsenen Volke für die ent¬
schwundene goldene Kindheitszeit einen Ersatz zu bieten, indem sie deren Abbild
in verklärenden Lichte als unverlierbaren Schatz bewahrt.

Leider ist diese Einsicht nicht so allgemein, wie es wünschenswert wäre.
Vielmehr ist nach der Meinung vieler unsre Jurisprudenz nur dadurch ihrer
Volkstümlichkeit verlustig gegangen, daß wir unser einheimisches Recht mit einem
fremden vertauschten. Wer sich von dieser unhaltbaren Ansicht frei machen will,
muß weit ausholen und die deutsche Geschichte in ihren großen Grundzügen
betrachten. Von allen Gütern, deren wir uns erfreuen, ist der größte Teil er¬
erbt. Den Ahnen verdankt der Nachkomme seine Kraft. Allein es giebt zwei
Arten von Ahnen, die nicht immer zusammenfallen, körperliche und geistige;
jenen verdanken wir das Leben, diesen den Inhalt, der unser Denken erfüllt.
Es giebt Völker, bei denen ein solcher Unterschied nicht bloß im Anfange fehlt,
sondern auch bei weiterer Fortentwicklung nicht eintritt, weil eine chinesische
Mauer eine Bereicherung des heimischen Geisteslebens von außen her hindert.
Nun können wir behaupten, daß es kaum ein zweites Volk giebt, das von jeher
so wenig wie das deutsche diese chinesische Politik befolgt hat. Nur darin be¬
kundet der Deutsche seine Eigenart, daß er nichts nachäfft, sondern alles mit
selbständigen Zuthaten reicher ausgestaltet, ein eigenartiger Fortbilder fremder
Muster. So entstanden die deutschen Schriftzeichen aus den lateinischen, die
deutsche Grammatik aus den Sprachregeln der Antike, die gothische Baukunst
aus der romanischen, so fast alles, was sich über den Gesichtskreis des schlich¬
testen Volkslebens erhebt. Man streiche mit mir in unsrer Rangliste, in unserm
Exerzierreglement alle ausländischen Ausdrücke an, lese die Rezepte unsrer Ärzte,
die Aufschriften auf den Büchsen unsrer Apotheker, wandle mit mir durch die
Kontors unsrer Kaufleute und beachte in deren Handelsbüchern und Briefen


Grenzboten II. 1883. 40
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[0321] Die Unpopularität der Jurisprudenz, die allzu große Einfachheit des Inhalts. So entschied 5. B. in der Regel das Gottesgericht. Man denke an den ersten Akt des „Lohengrin," vergleiche ihn mit einer gegenwärtigen Gerichtsverhandlung und frage sich, welche der beiden Prozeßarten den Vorzug verdiene. Ich glaube, man wird dem Gottesgerichte für die Bühne, für das Leben aber unsrer Strafprozeßordnung den Preis er¬ teilen. Schwerlich würde heutzutage eine Jungfrau, welche das Unglück träfe, unschuldig angeklagt zu werden, die Hoffnung auf einen Gralsritter der An¬ nahme eines tüchtigen Rechtsanwalts vorziehen. „Was unsterblich im Gesang soll leben, muß im Leben untergehn." Daraus folgt, daß Einfachheit des Rechtes und Kindlichkeit des Volks¬ lebens zusammenhängen. Wenn das Volk heranwächst, so mehrt sich der In¬ halt seines Geisteslebens, damit tritt eine allgemeine Arbeitsteilung ein, an der auch der Jurist seinen Anteil hat. Man sammelt die Rechtssprüche und die Erfahrungen der Vergangenheit, und wer diese nicht kennt, kann nicht mehr richten. Der Jnristenberuf wird dadurch ein Vorrecht der Sachverständigen, und nur die Dichtkunst vermag es, dem herangewachsenen Volke für die ent¬ schwundene goldene Kindheitszeit einen Ersatz zu bieten, indem sie deren Abbild in verklärenden Lichte als unverlierbaren Schatz bewahrt. Leider ist diese Einsicht nicht so allgemein, wie es wünschenswert wäre. Vielmehr ist nach der Meinung vieler unsre Jurisprudenz nur dadurch ihrer Volkstümlichkeit verlustig gegangen, daß wir unser einheimisches Recht mit einem fremden vertauschten. Wer sich von dieser unhaltbaren Ansicht frei machen will, muß weit ausholen und die deutsche Geschichte in ihren großen Grundzügen betrachten. Von allen Gütern, deren wir uns erfreuen, ist der größte Teil er¬ erbt. Den Ahnen verdankt der Nachkomme seine Kraft. Allein es giebt zwei Arten von Ahnen, die nicht immer zusammenfallen, körperliche und geistige; jenen verdanken wir das Leben, diesen den Inhalt, der unser Denken erfüllt. Es giebt Völker, bei denen ein solcher Unterschied nicht bloß im Anfange fehlt, sondern auch bei weiterer Fortentwicklung nicht eintritt, weil eine chinesische Mauer eine Bereicherung des heimischen Geisteslebens von außen her hindert. Nun können wir behaupten, daß es kaum ein zweites Volk giebt, das von jeher so wenig wie das deutsche diese chinesische Politik befolgt hat. Nur darin be¬ kundet der Deutsche seine Eigenart, daß er nichts nachäfft, sondern alles mit selbständigen Zuthaten reicher ausgestaltet, ein eigenartiger Fortbilder fremder Muster. So entstanden die deutschen Schriftzeichen aus den lateinischen, die deutsche Grammatik aus den Sprachregeln der Antike, die gothische Baukunst aus der romanischen, so fast alles, was sich über den Gesichtskreis des schlich¬ testen Volkslebens erhebt. Man streiche mit mir in unsrer Rangliste, in unserm Exerzierreglement alle ausländischen Ausdrücke an, lese die Rezepte unsrer Ärzte, die Aufschriften auf den Büchsen unsrer Apotheker, wandle mit mir durch die Kontors unsrer Kaufleute und beachte in deren Handelsbüchern und Briefen Grenzboten II. 1883. 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/321>, abgerufen am 01.09.2024.