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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Chauvinismus oder Nationalgefühl?

es uns im eignen Volke übel, wenn wir jetzt, durch Erfahrung belehrt, uns
bemühen, jenen uns so notwendigen Patriotismus auf dem Nationalgefühl
heranzuziehen; den höchst notwendigen Versuch, das, wozu uns alle äußern Be¬
dingungen fehlen, wenigstens auf dem Heiligtum des Innern aufzubauen, be¬
zeichnet man -- als Chauvinismus!

Es sind Parteistimmen, die sich zum Wortführer dieser recht eigentlich an
sich so zu bezeichnenden Umsturzversuche machen, und die Parteien haben ja
heutzutage in würdigster Weise das Erbe der alten deutschen Stammesfeind¬
schaft und Autoritätscifersucht übernommen. Aber sie könnten es doch nicht,
wenn sie nicht -- selbst hier müßte man eigentlich sagen, statt dessen aber "hier
am ehesten" -- auf Anklang und Übereinstimmung rechneten. Daß dem leider
so ist, dafür wollen wir als sprechendsten Beleg bloß die Rolle anführen, welche
der alte politische Kinderschreck "Preußentum" noch bei den einzelnen Stämmen
spielt. Damit verbindet man natürlich die (in doppelter Hinsicht) dunkle Em¬
pfindung des begünstigten Nebenbuhlers, des glücklichern Nachbarstammes. Aber
es soll bis heute noch der Beweis erbracht werden, wo eigentlich dieser fürchter¬
liche Stamm der Preußen haust. Im preußischen Staatsgebiete giebt es viele
ihrem Charakter nach durchaus verschiedene Volksschattirungen, aber wo der in
gewissen deutschen Gegenden sogenannte "Preiße" steckt, wird man nicht be¬
stimmen können. Bei den Schlesiern? Sie sind Franken und haben sich den
fränkischen Charakter auffallend gewahrt. Bei den Pommern? Sie teilen das
unterscheidende Merkmal des "Norddeutschen" mit den übrigen deutschen Meeres¬
anwohnern. Bei den Rheinländern? Sie sind alles andre. Aber in Berlin?
Nun, ich weiß nicht, ob dem an unterscheidenden Merkmalen sehr armen Märker
oder dem aussterbenden, aus französischen, jüdischen und polnischen Elementen
merkwürdig gemischten spezifischen Altberlinertum diese Bezeichnung zukommt.
Gegenwärtig trinkt man in Berlin sehr viel bairisches Bier, ißt österreichisches
Gebäck zum Wiener Kaffee und hört auf Kathedern und in Gesellschaft sehr
viel schwäbeln und sächseln. Das eigentümlich "Preußische" scheint es wirklich
nur "draußen" im Reiche zu geben. Man vergegenwärtige sich einmal zur
Ergründung dieses Problems einen wirklichen und unzweifelhaften Preußen und
gleich den ersten und höchsten, unsern guten, entschlafenen Kaiser Wilhelm. Er
hatte das Wesen des Norddeutschen und dabei doch das Gemüt des Süddeutschen,
er konnte munter sein wie der Rheinländer, ja er verschmähte gelegentlich nicht
einen glücklichen Griff in den Wortwitzschatz der Berliner, und war dabei
ein so wetterharter Krieger, ein so unermüdlicher Arbeiter ohne Gamaschengeist
und Zopf, das Ideal eines Friesen oder Pommern und Schwaben. Was also
ist das eigentümlich Preußische an ihm? Nun, es ist jener Geist der Allverant¬
wortlichkeit, jener Gemeinsinn, der, wie er alle Privatwünsche unterordnet unter
seine Pflicht, unbarmherzig ist gegen alle Sonderinteressen und -Gelüste, aber
alles ermuntert und alles stützt, was seine Kraft in den Dienst der Gesamtheit


Chauvinismus oder Nationalgefühl?

es uns im eignen Volke übel, wenn wir jetzt, durch Erfahrung belehrt, uns
bemühen, jenen uns so notwendigen Patriotismus auf dem Nationalgefühl
heranzuziehen; den höchst notwendigen Versuch, das, wozu uns alle äußern Be¬
dingungen fehlen, wenigstens auf dem Heiligtum des Innern aufzubauen, be¬
zeichnet man — als Chauvinismus!

Es sind Parteistimmen, die sich zum Wortführer dieser recht eigentlich an
sich so zu bezeichnenden Umsturzversuche machen, und die Parteien haben ja
heutzutage in würdigster Weise das Erbe der alten deutschen Stammesfeind¬
schaft und Autoritätscifersucht übernommen. Aber sie könnten es doch nicht,
wenn sie nicht — selbst hier müßte man eigentlich sagen, statt dessen aber „hier
am ehesten" — auf Anklang und Übereinstimmung rechneten. Daß dem leider
so ist, dafür wollen wir als sprechendsten Beleg bloß die Rolle anführen, welche
der alte politische Kinderschreck „Preußentum" noch bei den einzelnen Stämmen
spielt. Damit verbindet man natürlich die (in doppelter Hinsicht) dunkle Em¬
pfindung des begünstigten Nebenbuhlers, des glücklichern Nachbarstammes. Aber
es soll bis heute noch der Beweis erbracht werden, wo eigentlich dieser fürchter¬
liche Stamm der Preußen haust. Im preußischen Staatsgebiete giebt es viele
ihrem Charakter nach durchaus verschiedene Volksschattirungen, aber wo der in
gewissen deutschen Gegenden sogenannte „Preiße" steckt, wird man nicht be¬
stimmen können. Bei den Schlesiern? Sie sind Franken und haben sich den
fränkischen Charakter auffallend gewahrt. Bei den Pommern? Sie teilen das
unterscheidende Merkmal des „Norddeutschen" mit den übrigen deutschen Meeres¬
anwohnern. Bei den Rheinländern? Sie sind alles andre. Aber in Berlin?
Nun, ich weiß nicht, ob dem an unterscheidenden Merkmalen sehr armen Märker
oder dem aussterbenden, aus französischen, jüdischen und polnischen Elementen
merkwürdig gemischten spezifischen Altberlinertum diese Bezeichnung zukommt.
Gegenwärtig trinkt man in Berlin sehr viel bairisches Bier, ißt österreichisches
Gebäck zum Wiener Kaffee und hört auf Kathedern und in Gesellschaft sehr
viel schwäbeln und sächseln. Das eigentümlich „Preußische" scheint es wirklich
nur „draußen" im Reiche zu geben. Man vergegenwärtige sich einmal zur
Ergründung dieses Problems einen wirklichen und unzweifelhaften Preußen und
gleich den ersten und höchsten, unsern guten, entschlafenen Kaiser Wilhelm. Er
hatte das Wesen des Norddeutschen und dabei doch das Gemüt des Süddeutschen,
er konnte munter sein wie der Rheinländer, ja er verschmähte gelegentlich nicht
einen glücklichen Griff in den Wortwitzschatz der Berliner, und war dabei
ein so wetterharter Krieger, ein so unermüdlicher Arbeiter ohne Gamaschengeist
und Zopf, das Ideal eines Friesen oder Pommern und Schwaben. Was also
ist das eigentümlich Preußische an ihm? Nun, es ist jener Geist der Allverant¬
wortlichkeit, jener Gemeinsinn, der, wie er alle Privatwünsche unterordnet unter
seine Pflicht, unbarmherzig ist gegen alle Sonderinteressen und -Gelüste, aber
alles ermuntert und alles stützt, was seine Kraft in den Dienst der Gesamtheit


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[0309] Chauvinismus oder Nationalgefühl? es uns im eignen Volke übel, wenn wir jetzt, durch Erfahrung belehrt, uns bemühen, jenen uns so notwendigen Patriotismus auf dem Nationalgefühl heranzuziehen; den höchst notwendigen Versuch, das, wozu uns alle äußern Be¬ dingungen fehlen, wenigstens auf dem Heiligtum des Innern aufzubauen, be¬ zeichnet man — als Chauvinismus! Es sind Parteistimmen, die sich zum Wortführer dieser recht eigentlich an sich so zu bezeichnenden Umsturzversuche machen, und die Parteien haben ja heutzutage in würdigster Weise das Erbe der alten deutschen Stammesfeind¬ schaft und Autoritätscifersucht übernommen. Aber sie könnten es doch nicht, wenn sie nicht — selbst hier müßte man eigentlich sagen, statt dessen aber „hier am ehesten" — auf Anklang und Übereinstimmung rechneten. Daß dem leider so ist, dafür wollen wir als sprechendsten Beleg bloß die Rolle anführen, welche der alte politische Kinderschreck „Preußentum" noch bei den einzelnen Stämmen spielt. Damit verbindet man natürlich die (in doppelter Hinsicht) dunkle Em¬ pfindung des begünstigten Nebenbuhlers, des glücklichern Nachbarstammes. Aber es soll bis heute noch der Beweis erbracht werden, wo eigentlich dieser fürchter¬ liche Stamm der Preußen haust. Im preußischen Staatsgebiete giebt es viele ihrem Charakter nach durchaus verschiedene Volksschattirungen, aber wo der in gewissen deutschen Gegenden sogenannte „Preiße" steckt, wird man nicht be¬ stimmen können. Bei den Schlesiern? Sie sind Franken und haben sich den fränkischen Charakter auffallend gewahrt. Bei den Pommern? Sie teilen das unterscheidende Merkmal des „Norddeutschen" mit den übrigen deutschen Meeres¬ anwohnern. Bei den Rheinländern? Sie sind alles andre. Aber in Berlin? Nun, ich weiß nicht, ob dem an unterscheidenden Merkmalen sehr armen Märker oder dem aussterbenden, aus französischen, jüdischen und polnischen Elementen merkwürdig gemischten spezifischen Altberlinertum diese Bezeichnung zukommt. Gegenwärtig trinkt man in Berlin sehr viel bairisches Bier, ißt österreichisches Gebäck zum Wiener Kaffee und hört auf Kathedern und in Gesellschaft sehr viel schwäbeln und sächseln. Das eigentümlich „Preußische" scheint es wirklich nur „draußen" im Reiche zu geben. Man vergegenwärtige sich einmal zur Ergründung dieses Problems einen wirklichen und unzweifelhaften Preußen und gleich den ersten und höchsten, unsern guten, entschlafenen Kaiser Wilhelm. Er hatte das Wesen des Norddeutschen und dabei doch das Gemüt des Süddeutschen, er konnte munter sein wie der Rheinländer, ja er verschmähte gelegentlich nicht einen glücklichen Griff in den Wortwitzschatz der Berliner, und war dabei ein so wetterharter Krieger, ein so unermüdlicher Arbeiter ohne Gamaschengeist und Zopf, das Ideal eines Friesen oder Pommern und Schwaben. Was also ist das eigentümlich Preußische an ihm? Nun, es ist jener Geist der Allverant¬ wortlichkeit, jener Gemeinsinn, der, wie er alle Privatwünsche unterordnet unter seine Pflicht, unbarmherzig ist gegen alle Sonderinteressen und -Gelüste, aber alles ermuntert und alles stützt, was seine Kraft in den Dienst der Gesamtheit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/309>, abgerufen am 01.09.2024.