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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Chauvinismus oder Nationalgefühl?

der Dichter und Denker und warnen mit einem mißbilligenden Seitenblick vor
dem "Chauvinismus" als einer Verfälschung des Volksgeistes.

Es erscheint uns zweifellos, daß dort, wo diese Vorwürfe aus ehrlicher Mei¬
nung entstehen, das alles nur Vorwand ist für jenes oben bezeichnete, an sich
nicht zu tadelnde Gefühl. Denn diese Leute sind ja gewöhnlich geschichtskundig
genug, um zu wissen, wie wenig Gefahr es gerade in Deutschland mit einem
Übermaße patriotischer Empfindungen hat, um zu wissen, daß es im Gegenteil
immer Zeiten des drohenden Unterganges entweder der geistigen oder der po¬
litischen Selbständigkeit bedürfte, um sie hervorzurufen. Sie wissen ferner oder
könnten es wenigstens wissen, daß "Chauvinismus" nichts andres bei uns be¬
deutet, als einen schlau ersonnenen Ekelnamen für eine ganz andre Sache, daß
es eigentlich "Bonapartismus" bedeutet und aus diesem Ursprünge all den
Beigeschmack von Servilismus, Dünkel und lächerlicher Phrasenhaftigkeit be¬
halten hat, der es so unausstehlich macht. Sie könnten serner sehr leicht die
geschichtliche Ueberlegung anstellen, daß es gerade der verschrieene "nationale"
Grundzug war, der unsrer gegenwärtigen Kunst und Wissenschaft im Gegensatz
zu andern "nicht nationalen" Perioden ihr Ansehen verschafft hat, daß Goethe
nicht seinem Kosmopolitismus seinen Ruhm verdankt, sondern seinem Werther,
seinem Faust, seiner deutschen Lyrik und den aus ihr erwachsenen deutschen
Jdecilgestalten von Hermann und Dorothea bis zu Iphigenie. Sie wissen, daß
Beethoven "deutsche Musik" machen wollte, wissen, was der treibende Gedanke
in Jakob Grimms Schaffen war, und daß der Ruf nicht bloß unsrer geschicht¬
lichen, sondern auch unsrer Naturwissenschaften von dem Geschlechte der Frei¬
heitskämpfer begründet wurde und nicht von den Rousseauschülern und Welt¬
bürgern des vorigen Jahrhunderts. Aber, wie gesagt, das ist alles nur
uneingestandener Vorwand. Der Grundzug ist der: wir wollen nicht mit
Jedermannsgefühlen prunken, wir wollen uns nicht an Äußerungen beteiligen,
die leicht etwas Schablonenhaftes erhalten, wir wollen auch nicht einmal Schau¬
spieler scheinen. Diese Zurückhaltung ist begreiflich und entspricht dem deutschen
Wesen in den höhern Formen seiner Ausbildung. Sie stimmt zu jener Keusch¬
heit der Empfindung, die das deutsche Familienleben durchzieht, welches den
Ausdruck der Zärtlichkeit mildert, zurückhält oder gar in Spott und Ironie
kleidet, welches im Mittelalter die Dichter den Namen der Geliebten ver¬
schweigen hieß und die trotzdem berufene deutsche Gefühlseligkeit von Wolfram
von Eschcnbcich bis Jean Paul mitunter zu so wunderlichen Ausdrucksformen
drängte. Aber sie kann an übelster Stelle übertrieben und dann zur Kälte
werden. Sie kann sich dann wie ein Mehlthau gerade auf Empfindungen
legen, die bei uns der Wartung und Pflege bedürfen, an die sich so große
Fragen und Erwartungen knüpfen, daß sie selbst vor dem nüchternsten Ver¬
stände bestehen bleiben. Mit nichts kann man den Deutschen mehr schrecken,
als wenn man ihm ein entschiednes "Vetter Michel" zuruft, wenn man von


Chauvinismus oder Nationalgefühl?

der Dichter und Denker und warnen mit einem mißbilligenden Seitenblick vor
dem „Chauvinismus" als einer Verfälschung des Volksgeistes.

Es erscheint uns zweifellos, daß dort, wo diese Vorwürfe aus ehrlicher Mei¬
nung entstehen, das alles nur Vorwand ist für jenes oben bezeichnete, an sich
nicht zu tadelnde Gefühl. Denn diese Leute sind ja gewöhnlich geschichtskundig
genug, um zu wissen, wie wenig Gefahr es gerade in Deutschland mit einem
Übermaße patriotischer Empfindungen hat, um zu wissen, daß es im Gegenteil
immer Zeiten des drohenden Unterganges entweder der geistigen oder der po¬
litischen Selbständigkeit bedürfte, um sie hervorzurufen. Sie wissen ferner oder
könnten es wenigstens wissen, daß „Chauvinismus" nichts andres bei uns be¬
deutet, als einen schlau ersonnenen Ekelnamen für eine ganz andre Sache, daß
es eigentlich „Bonapartismus" bedeutet und aus diesem Ursprünge all den
Beigeschmack von Servilismus, Dünkel und lächerlicher Phrasenhaftigkeit be¬
halten hat, der es so unausstehlich macht. Sie könnten serner sehr leicht die
geschichtliche Ueberlegung anstellen, daß es gerade der verschrieene „nationale"
Grundzug war, der unsrer gegenwärtigen Kunst und Wissenschaft im Gegensatz
zu andern „nicht nationalen" Perioden ihr Ansehen verschafft hat, daß Goethe
nicht seinem Kosmopolitismus seinen Ruhm verdankt, sondern seinem Werther,
seinem Faust, seiner deutschen Lyrik und den aus ihr erwachsenen deutschen
Jdecilgestalten von Hermann und Dorothea bis zu Iphigenie. Sie wissen, daß
Beethoven „deutsche Musik" machen wollte, wissen, was der treibende Gedanke
in Jakob Grimms Schaffen war, und daß der Ruf nicht bloß unsrer geschicht¬
lichen, sondern auch unsrer Naturwissenschaften von dem Geschlechte der Frei¬
heitskämpfer begründet wurde und nicht von den Rousseauschülern und Welt¬
bürgern des vorigen Jahrhunderts. Aber, wie gesagt, das ist alles nur
uneingestandener Vorwand. Der Grundzug ist der: wir wollen nicht mit
Jedermannsgefühlen prunken, wir wollen uns nicht an Äußerungen beteiligen,
die leicht etwas Schablonenhaftes erhalten, wir wollen auch nicht einmal Schau¬
spieler scheinen. Diese Zurückhaltung ist begreiflich und entspricht dem deutschen
Wesen in den höhern Formen seiner Ausbildung. Sie stimmt zu jener Keusch¬
heit der Empfindung, die das deutsche Familienleben durchzieht, welches den
Ausdruck der Zärtlichkeit mildert, zurückhält oder gar in Spott und Ironie
kleidet, welches im Mittelalter die Dichter den Namen der Geliebten ver¬
schweigen hieß und die trotzdem berufene deutsche Gefühlseligkeit von Wolfram
von Eschcnbcich bis Jean Paul mitunter zu so wunderlichen Ausdrucksformen
drängte. Aber sie kann an übelster Stelle übertrieben und dann zur Kälte
werden. Sie kann sich dann wie ein Mehlthau gerade auf Empfindungen
legen, die bei uns der Wartung und Pflege bedürfen, an die sich so große
Fragen und Erwartungen knüpfen, daß sie selbst vor dem nüchternsten Ver¬
stände bestehen bleiben. Mit nichts kann man den Deutschen mehr schrecken,
als wenn man ihm ein entschiednes „Vetter Michel" zuruft, wenn man von


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[0306] Chauvinismus oder Nationalgefühl? der Dichter und Denker und warnen mit einem mißbilligenden Seitenblick vor dem „Chauvinismus" als einer Verfälschung des Volksgeistes. Es erscheint uns zweifellos, daß dort, wo diese Vorwürfe aus ehrlicher Mei¬ nung entstehen, das alles nur Vorwand ist für jenes oben bezeichnete, an sich nicht zu tadelnde Gefühl. Denn diese Leute sind ja gewöhnlich geschichtskundig genug, um zu wissen, wie wenig Gefahr es gerade in Deutschland mit einem Übermaße patriotischer Empfindungen hat, um zu wissen, daß es im Gegenteil immer Zeiten des drohenden Unterganges entweder der geistigen oder der po¬ litischen Selbständigkeit bedürfte, um sie hervorzurufen. Sie wissen ferner oder könnten es wenigstens wissen, daß „Chauvinismus" nichts andres bei uns be¬ deutet, als einen schlau ersonnenen Ekelnamen für eine ganz andre Sache, daß es eigentlich „Bonapartismus" bedeutet und aus diesem Ursprünge all den Beigeschmack von Servilismus, Dünkel und lächerlicher Phrasenhaftigkeit be¬ halten hat, der es so unausstehlich macht. Sie könnten serner sehr leicht die geschichtliche Ueberlegung anstellen, daß es gerade der verschrieene „nationale" Grundzug war, der unsrer gegenwärtigen Kunst und Wissenschaft im Gegensatz zu andern „nicht nationalen" Perioden ihr Ansehen verschafft hat, daß Goethe nicht seinem Kosmopolitismus seinen Ruhm verdankt, sondern seinem Werther, seinem Faust, seiner deutschen Lyrik und den aus ihr erwachsenen deutschen Jdecilgestalten von Hermann und Dorothea bis zu Iphigenie. Sie wissen, daß Beethoven „deutsche Musik" machen wollte, wissen, was der treibende Gedanke in Jakob Grimms Schaffen war, und daß der Ruf nicht bloß unsrer geschicht¬ lichen, sondern auch unsrer Naturwissenschaften von dem Geschlechte der Frei¬ heitskämpfer begründet wurde und nicht von den Rousseauschülern und Welt¬ bürgern des vorigen Jahrhunderts. Aber, wie gesagt, das ist alles nur uneingestandener Vorwand. Der Grundzug ist der: wir wollen nicht mit Jedermannsgefühlen prunken, wir wollen uns nicht an Äußerungen beteiligen, die leicht etwas Schablonenhaftes erhalten, wir wollen auch nicht einmal Schau¬ spieler scheinen. Diese Zurückhaltung ist begreiflich und entspricht dem deutschen Wesen in den höhern Formen seiner Ausbildung. Sie stimmt zu jener Keusch¬ heit der Empfindung, die das deutsche Familienleben durchzieht, welches den Ausdruck der Zärtlichkeit mildert, zurückhält oder gar in Spott und Ironie kleidet, welches im Mittelalter die Dichter den Namen der Geliebten ver¬ schweigen hieß und die trotzdem berufene deutsche Gefühlseligkeit von Wolfram von Eschcnbcich bis Jean Paul mitunter zu so wunderlichen Ausdrucksformen drängte. Aber sie kann an übelster Stelle übertrieben und dann zur Kälte werden. Sie kann sich dann wie ein Mehlthau gerade auf Empfindungen legen, die bei uns der Wartung und Pflege bedürfen, an die sich so große Fragen und Erwartungen knüpfen, daß sie selbst vor dem nüchternsten Ver¬ stände bestehen bleiben. Mit nichts kann man den Deutschen mehr schrecken, als wenn man ihm ein entschiednes „Vetter Michel" zuruft, wenn man von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/306>, abgerufen am 01.09.2024.