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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Ricks Lyhne,

Menschen wie diese leiten ihre Schüler nicht, aber in ihrem Unterrichte
liegt eine Fülle, eine Mannichfaltigkeit, eine etwas schwankende Allseitigkeit, welche
den Schüler, wenn sie ihn nicht verwirrt, in hohem Grade zur Selbständigkeit
entwickelt und ihn fast dazu zwingt, sich seine eigne Anschauung zu bilden; denn
Kinder können sich ja nun einmal nicht bei etwas Unbestimmtem. nebelhaften
beruhigen, sie fordern ans instinktmäßigem Selbsterhaltungstriebe stets ein reines
Ja oder ein reines Nein, ein Für oder Wider, um zu wissen, welchen Weg sie
wie ihren, Haß und welchen sie mit ihrer Liebe einzuschlagen haben.

Es gab also keine zuberlässige, unerschütterliche Autorität, die durch ihre
eigne Sicherheit, ihr beständiges Beispiel Ricks ans den alten Pfad des Glaubens
hätte zurückführen können. Er hatte die Stange zwischen die Zähne genommen
und eilte jeden neuen Steig entlang, der sich ihm zeigte, gleichviel, wohin er
führen mochte, wenn er nur in der entgegengesetzten Richtung von dem ging,
was früher das sein seiner Gefühle und Gedanken gewesen war.

Es liegt ein neues Gefühl von Kraft darin, so mit den eignen Augen zu
scheu, mit dem eignen Herzen zu wählen und an sich selber zu arbeiten; es taucht
so viel auf dem Grunde der Seele auf, so viele ungeahnte, zerstreute Seiten
seines Wesens fügen sich so wunderbar zusammen zu einem vernünftigen Ganzen.
Es ist eine wonnevolle Zeit der Entdeckungen, in welcher er nach und nach,
in Angst und unsicherm Jubel, voll zweifelnden Glückes sich selbst entdeckt. Zum
ersten male sieht er ein, daß er anders ist als die andern, ein geistiges Scham¬
gefühl erwacht in ihm und macht ihn wortkarg und verlegen. Allen Fragen
gegenüber ist er mißtrauisch und findet in allem, was gesagt wird, Anspielungen
auf seine verborgensten Seiten. Weil er gelernt hat, in sich selber zu lesen,
glaubt er auch, daß alle andern lesen können, was in ihm geschrieben ist, und
er zieht sich von den Erwachsenen zurück und schweift einsam umher. Die
Menschen sind alle auf einmal so merkwürdig anzüglich geworden. Er hat ein
fast feindseliges Gefühl ihnen gegenüber, als seien sie Wesen einer andern Rasse,
und in seiner Einsamkeit fängt er an, sie vorzunehmen und sie spähend, ab¬
urteilend zu betrachten. Bis dahin waren die Namen "Vater, Mutter, der
Pfarrer, der Müller" eine völlig genügende Erklärung gewesen. Der Name
hatte die Person völlig vor ihm versteckt. Der Pfarrer war der Pfarrer, mehr
bedürfte es nicht. Jetzt aber sah er, daß der Pfarrer ein kleiner, jovialer Herr
war, der zu Hause so zahm und still wie möglich war, um nicht von seiner Frau
bemerkt zu werden, und der sich dann außer dem Hause in einen förmlichen Rausch
von Empörung und freiheitsdürstender Gewaltthätigkeit hineinredete, nur um das
häusliche Joch zu vergessen. Das war aus dem Pfarrer geworden. Und Herr
Bigum? Er hatte ihn bereit gesehen, für Edelens Liebe alles über Bord zu werfen,
er hatte ihn in jener Stunde der Leidenschaft sich selbst und den Geist in sich
verleugnen hören, und jetzt redete er stets von des philosophischen Menschen
olympischer Ruhe gegenüber den Wirbelwinden und dunsterzeugten Regenbogen


Grenzboten II. 1888. 37
Ricks Lyhne,

Menschen wie diese leiten ihre Schüler nicht, aber in ihrem Unterrichte
liegt eine Fülle, eine Mannichfaltigkeit, eine etwas schwankende Allseitigkeit, welche
den Schüler, wenn sie ihn nicht verwirrt, in hohem Grade zur Selbständigkeit
entwickelt und ihn fast dazu zwingt, sich seine eigne Anschauung zu bilden; denn
Kinder können sich ja nun einmal nicht bei etwas Unbestimmtem. nebelhaften
beruhigen, sie fordern ans instinktmäßigem Selbsterhaltungstriebe stets ein reines
Ja oder ein reines Nein, ein Für oder Wider, um zu wissen, welchen Weg sie
wie ihren, Haß und welchen sie mit ihrer Liebe einzuschlagen haben.

Es gab also keine zuberlässige, unerschütterliche Autorität, die durch ihre
eigne Sicherheit, ihr beständiges Beispiel Ricks ans den alten Pfad des Glaubens
hätte zurückführen können. Er hatte die Stange zwischen die Zähne genommen
und eilte jeden neuen Steig entlang, der sich ihm zeigte, gleichviel, wohin er
führen mochte, wenn er nur in der entgegengesetzten Richtung von dem ging,
was früher das sein seiner Gefühle und Gedanken gewesen war.

Es liegt ein neues Gefühl von Kraft darin, so mit den eignen Augen zu
scheu, mit dem eignen Herzen zu wählen und an sich selber zu arbeiten; es taucht
so viel auf dem Grunde der Seele auf, so viele ungeahnte, zerstreute Seiten
seines Wesens fügen sich so wunderbar zusammen zu einem vernünftigen Ganzen.
Es ist eine wonnevolle Zeit der Entdeckungen, in welcher er nach und nach,
in Angst und unsicherm Jubel, voll zweifelnden Glückes sich selbst entdeckt. Zum
ersten male sieht er ein, daß er anders ist als die andern, ein geistiges Scham¬
gefühl erwacht in ihm und macht ihn wortkarg und verlegen. Allen Fragen
gegenüber ist er mißtrauisch und findet in allem, was gesagt wird, Anspielungen
auf seine verborgensten Seiten. Weil er gelernt hat, in sich selber zu lesen,
glaubt er auch, daß alle andern lesen können, was in ihm geschrieben ist, und
er zieht sich von den Erwachsenen zurück und schweift einsam umher. Die
Menschen sind alle auf einmal so merkwürdig anzüglich geworden. Er hat ein
fast feindseliges Gefühl ihnen gegenüber, als seien sie Wesen einer andern Rasse,
und in seiner Einsamkeit fängt er an, sie vorzunehmen und sie spähend, ab¬
urteilend zu betrachten. Bis dahin waren die Namen „Vater, Mutter, der
Pfarrer, der Müller" eine völlig genügende Erklärung gewesen. Der Name
hatte die Person völlig vor ihm versteckt. Der Pfarrer war der Pfarrer, mehr
bedürfte es nicht. Jetzt aber sah er, daß der Pfarrer ein kleiner, jovialer Herr
war, der zu Hause so zahm und still wie möglich war, um nicht von seiner Frau
bemerkt zu werden, und der sich dann außer dem Hause in einen förmlichen Rausch
von Empörung und freiheitsdürstender Gewaltthätigkeit hineinredete, nur um das
häusliche Joch zu vergessen. Das war aus dem Pfarrer geworden. Und Herr
Bigum? Er hatte ihn bereit gesehen, für Edelens Liebe alles über Bord zu werfen,
er hatte ihn in jener Stunde der Leidenschaft sich selbst und den Geist in sich
verleugnen hören, und jetzt redete er stets von des philosophischen Menschen
olympischer Ruhe gegenüber den Wirbelwinden und dunsterzeugten Regenbogen


Grenzboten II. 1888. 37
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[0297] Ricks Lyhne, Menschen wie diese leiten ihre Schüler nicht, aber in ihrem Unterrichte liegt eine Fülle, eine Mannichfaltigkeit, eine etwas schwankende Allseitigkeit, welche den Schüler, wenn sie ihn nicht verwirrt, in hohem Grade zur Selbständigkeit entwickelt und ihn fast dazu zwingt, sich seine eigne Anschauung zu bilden; denn Kinder können sich ja nun einmal nicht bei etwas Unbestimmtem. nebelhaften beruhigen, sie fordern ans instinktmäßigem Selbsterhaltungstriebe stets ein reines Ja oder ein reines Nein, ein Für oder Wider, um zu wissen, welchen Weg sie wie ihren, Haß und welchen sie mit ihrer Liebe einzuschlagen haben. Es gab also keine zuberlässige, unerschütterliche Autorität, die durch ihre eigne Sicherheit, ihr beständiges Beispiel Ricks ans den alten Pfad des Glaubens hätte zurückführen können. Er hatte die Stange zwischen die Zähne genommen und eilte jeden neuen Steig entlang, der sich ihm zeigte, gleichviel, wohin er führen mochte, wenn er nur in der entgegengesetzten Richtung von dem ging, was früher das sein seiner Gefühle und Gedanken gewesen war. Es liegt ein neues Gefühl von Kraft darin, so mit den eignen Augen zu scheu, mit dem eignen Herzen zu wählen und an sich selber zu arbeiten; es taucht so viel auf dem Grunde der Seele auf, so viele ungeahnte, zerstreute Seiten seines Wesens fügen sich so wunderbar zusammen zu einem vernünftigen Ganzen. Es ist eine wonnevolle Zeit der Entdeckungen, in welcher er nach und nach, in Angst und unsicherm Jubel, voll zweifelnden Glückes sich selbst entdeckt. Zum ersten male sieht er ein, daß er anders ist als die andern, ein geistiges Scham¬ gefühl erwacht in ihm und macht ihn wortkarg und verlegen. Allen Fragen gegenüber ist er mißtrauisch und findet in allem, was gesagt wird, Anspielungen auf seine verborgensten Seiten. Weil er gelernt hat, in sich selber zu lesen, glaubt er auch, daß alle andern lesen können, was in ihm geschrieben ist, und er zieht sich von den Erwachsenen zurück und schweift einsam umher. Die Menschen sind alle auf einmal so merkwürdig anzüglich geworden. Er hat ein fast feindseliges Gefühl ihnen gegenüber, als seien sie Wesen einer andern Rasse, und in seiner Einsamkeit fängt er an, sie vorzunehmen und sie spähend, ab¬ urteilend zu betrachten. Bis dahin waren die Namen „Vater, Mutter, der Pfarrer, der Müller" eine völlig genügende Erklärung gewesen. Der Name hatte die Person völlig vor ihm versteckt. Der Pfarrer war der Pfarrer, mehr bedürfte es nicht. Jetzt aber sah er, daß der Pfarrer ein kleiner, jovialer Herr war, der zu Hause so zahm und still wie möglich war, um nicht von seiner Frau bemerkt zu werden, und der sich dann außer dem Hause in einen förmlichen Rausch von Empörung und freiheitsdürstender Gewaltthätigkeit hineinredete, nur um das häusliche Joch zu vergessen. Das war aus dem Pfarrer geworden. Und Herr Bigum? Er hatte ihn bereit gesehen, für Edelens Liebe alles über Bord zu werfen, er hatte ihn in jener Stunde der Leidenschaft sich selbst und den Geist in sich verleugnen hören, und jetzt redete er stets von des philosophischen Menschen olympischer Ruhe gegenüber den Wirbelwinden und dunsterzeugten Regenbogen Grenzboten II. 1888. 37

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/297>, abgerufen am 27.07.2024.