Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Erinnerungen aus Irland.

Seekraute sterben zu müssen, während der zweiten sei es ihm gleich, ob er
sterben oder weiterleben werde, in der dritten aber fürchte er, nicht sterben zu
können, so gern er auch möchte. Alle diese Stufen machte ich der Reihe nach
durch; während der dritten, deren Zeitdauer leider nicht auf eine Stunde be¬
schränkt war, schien es aber doch, als sollte meine Befürchtung, nicht sterben
zu können, beseitigt werden; denn plötzlich horte ich ans Deck ein Geschrei unter
den Matrosen, das selbst das Heulen des Sturmes und das Ächzen und Stöhnen
der Schiffshalter und der Passagiere übertönte. Draußen in der Hcmptkajüte
aber schrie der Steward jemand zu: "Eben ist ein Fischerboot mit sieben Mann
vor unsern Augen gekentert. Keine Möglichkeit, zu helfen; sind ja selbst übel
daran!" Stunde auf Stunde verging, es war schon Heller Tag, aber immer
wütete der Sturm noch fort. Endlich, um halb zehn Uhr morgens, statt um
sechs Uhr, landeten wir in Grecnore, einem öden Stationsgebäude auf einem
Vorgebirge in der Nähe von Dnndalk, wo ich mehr tot als lebendig den Eisen-
bahnzug nach Londonderry bestieg.

Draußen goß es in Strömen, und es mochte wohl schon lange geregnet
haben, denn überall standen Strecken sonst jedenfalls trocknen Landes unter
Wasser. Ein trostloses BildI Weite öde Moor- und Haideslächen, kaum ein
Baum, nur hie und da etwas Acker- und Wiesenland und Lehmhütten, der¬
gleichen ich in Deutschland auch in dem ärmsten Gebirgsdorfe nicht gesehen
hatte, zerlumpte, schmutzige Gestalten in der Thür; überall Wasserpfützen und
überall Binsen: Binsen auf den Wiesen, Binsen auf den Kartoffelfeldern, Binsen
in den Gärten, Binsen selbst auf den Strohdächern der Häuser; darüber ein
bleigrauer Himmel, der unversiegliche Regenmengen zu bergen schien. Kein
Wunder, daß der Gedanke, in diesem Lande zu wohnen, zunächst nicht viel
tröstliches für mich hatte; der erste Eindruck war wenigstens kein allzu ver¬
lockender.

Um halb ein Uhr hielt der Zug an der Station M., die dem Orte meiner
Bestimmung am nächsten lag. Der Bahnhof bestand aus einem Wärterhäuschen
und aus einem Holzschuppen, der das Empfangsgcbäude vorstellen sollte. Auf
meine Frage, ob ein Wagen vom Gute für mich da sei, sagte mir der Mann,
der Stationsvorsteher, Billeteur und Packträger in einer Person zu sein schien,
es sei allerdings einer dagewesen; da ich aber mit dem Halbelfuhrzuge nicht
gekommen sei, so habe der Kutscher angenommen, ich käme nun überhaupt nicht
mehr, und sei wieder nach Hause gefahren. So ging ich denn in strömendem
Regen nach dem nahen Flecken, während der Stationsvorsteher mir mein Gepäck
auf einem Schubkarren nachfuhr. Dort im Orte wurde mir gesagt, es gehe
am Nachmittag die Fahrpost nach dem Gute, da könne ich ja mitfahren. Ich
kehrte also beim PostHalter ein und bestellte mir Kaffee, denn um Appetit nach
einem ordentlichen warmen Mittagessen aufkommen zu lassen, sah mir das Loch
zu schmutzig aus; dann trocknete ich mich, so gut es gehen wollte, an dem


Erinnerungen aus Irland.

Seekraute sterben zu müssen, während der zweiten sei es ihm gleich, ob er
sterben oder weiterleben werde, in der dritten aber fürchte er, nicht sterben zu
können, so gern er auch möchte. Alle diese Stufen machte ich der Reihe nach
durch; während der dritten, deren Zeitdauer leider nicht auf eine Stunde be¬
schränkt war, schien es aber doch, als sollte meine Befürchtung, nicht sterben
zu können, beseitigt werden; denn plötzlich horte ich ans Deck ein Geschrei unter
den Matrosen, das selbst das Heulen des Sturmes und das Ächzen und Stöhnen
der Schiffshalter und der Passagiere übertönte. Draußen in der Hcmptkajüte
aber schrie der Steward jemand zu: „Eben ist ein Fischerboot mit sieben Mann
vor unsern Augen gekentert. Keine Möglichkeit, zu helfen; sind ja selbst übel
daran!" Stunde auf Stunde verging, es war schon Heller Tag, aber immer
wütete der Sturm noch fort. Endlich, um halb zehn Uhr morgens, statt um
sechs Uhr, landeten wir in Grecnore, einem öden Stationsgebäude auf einem
Vorgebirge in der Nähe von Dnndalk, wo ich mehr tot als lebendig den Eisen-
bahnzug nach Londonderry bestieg.

Draußen goß es in Strömen, und es mochte wohl schon lange geregnet
haben, denn überall standen Strecken sonst jedenfalls trocknen Landes unter
Wasser. Ein trostloses BildI Weite öde Moor- und Haideslächen, kaum ein
Baum, nur hie und da etwas Acker- und Wiesenland und Lehmhütten, der¬
gleichen ich in Deutschland auch in dem ärmsten Gebirgsdorfe nicht gesehen
hatte, zerlumpte, schmutzige Gestalten in der Thür; überall Wasserpfützen und
überall Binsen: Binsen auf den Wiesen, Binsen auf den Kartoffelfeldern, Binsen
in den Gärten, Binsen selbst auf den Strohdächern der Häuser; darüber ein
bleigrauer Himmel, der unversiegliche Regenmengen zu bergen schien. Kein
Wunder, daß der Gedanke, in diesem Lande zu wohnen, zunächst nicht viel
tröstliches für mich hatte; der erste Eindruck war wenigstens kein allzu ver¬
lockender.

Um halb ein Uhr hielt der Zug an der Station M., die dem Orte meiner
Bestimmung am nächsten lag. Der Bahnhof bestand aus einem Wärterhäuschen
und aus einem Holzschuppen, der das Empfangsgcbäude vorstellen sollte. Auf
meine Frage, ob ein Wagen vom Gute für mich da sei, sagte mir der Mann,
der Stationsvorsteher, Billeteur und Packträger in einer Person zu sein schien,
es sei allerdings einer dagewesen; da ich aber mit dem Halbelfuhrzuge nicht
gekommen sei, so habe der Kutscher angenommen, ich käme nun überhaupt nicht
mehr, und sei wieder nach Hause gefahren. So ging ich denn in strömendem
Regen nach dem nahen Flecken, während der Stationsvorsteher mir mein Gepäck
auf einem Schubkarren nachfuhr. Dort im Orte wurde mir gesagt, es gehe
am Nachmittag die Fahrpost nach dem Gute, da könne ich ja mitfahren. Ich
kehrte also beim PostHalter ein und bestellte mir Kaffee, denn um Appetit nach
einem ordentlichen warmen Mittagessen aufkommen zu lassen, sah mir das Loch
zu schmutzig aus; dann trocknete ich mich, so gut es gehen wollte, an dem


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0287" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203064"/>
          <fw type="header" place="top"> Erinnerungen aus Irland.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_929" prev="#ID_928"> Seekraute sterben zu müssen, während der zweiten sei es ihm gleich, ob er<lb/>
sterben oder weiterleben werde, in der dritten aber fürchte er, nicht sterben zu<lb/>
können, so gern er auch möchte. Alle diese Stufen machte ich der Reihe nach<lb/>
durch; während der dritten, deren Zeitdauer leider nicht auf eine Stunde be¬<lb/>
schränkt war, schien es aber doch, als sollte meine Befürchtung, nicht sterben<lb/>
zu können, beseitigt werden; denn plötzlich horte ich ans Deck ein Geschrei unter<lb/>
den Matrosen, das selbst das Heulen des Sturmes und das Ächzen und Stöhnen<lb/>
der Schiffshalter und der Passagiere übertönte. Draußen in der Hcmptkajüte<lb/>
aber schrie der Steward jemand zu: &#x201E;Eben ist ein Fischerboot mit sieben Mann<lb/>
vor unsern Augen gekentert. Keine Möglichkeit, zu helfen; sind ja selbst übel<lb/>
daran!" Stunde auf Stunde verging, es war schon Heller Tag, aber immer<lb/>
wütete der Sturm noch fort. Endlich, um halb zehn Uhr morgens, statt um<lb/>
sechs Uhr, landeten wir in Grecnore, einem öden Stationsgebäude auf einem<lb/>
Vorgebirge in der Nähe von Dnndalk, wo ich mehr tot als lebendig den Eisen-<lb/>
bahnzug nach Londonderry bestieg.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_930"> Draußen goß es in Strömen, und es mochte wohl schon lange geregnet<lb/>
haben, denn überall standen Strecken sonst jedenfalls trocknen Landes unter<lb/>
Wasser. Ein trostloses BildI Weite öde Moor- und Haideslächen, kaum ein<lb/>
Baum, nur hie und da etwas Acker- und Wiesenland und Lehmhütten, der¬<lb/>
gleichen ich in Deutschland auch in dem ärmsten Gebirgsdorfe nicht gesehen<lb/>
hatte, zerlumpte, schmutzige Gestalten in der Thür; überall Wasserpfützen und<lb/>
überall Binsen: Binsen auf den Wiesen, Binsen auf den Kartoffelfeldern, Binsen<lb/>
in den Gärten, Binsen selbst auf den Strohdächern der Häuser; darüber ein<lb/>
bleigrauer Himmel, der unversiegliche Regenmengen zu bergen schien. Kein<lb/>
Wunder, daß der Gedanke, in diesem Lande zu wohnen, zunächst nicht viel<lb/>
tröstliches für mich hatte; der erste Eindruck war wenigstens kein allzu ver¬<lb/>
lockender.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_931" next="#ID_932"> Um halb ein Uhr hielt der Zug an der Station M., die dem Orte meiner<lb/>
Bestimmung am nächsten lag. Der Bahnhof bestand aus einem Wärterhäuschen<lb/>
und aus einem Holzschuppen, der das Empfangsgcbäude vorstellen sollte. Auf<lb/>
meine Frage, ob ein Wagen vom Gute für mich da sei, sagte mir der Mann,<lb/>
der Stationsvorsteher, Billeteur und Packträger in einer Person zu sein schien,<lb/>
es sei allerdings einer dagewesen; da ich aber mit dem Halbelfuhrzuge nicht<lb/>
gekommen sei, so habe der Kutscher angenommen, ich käme nun überhaupt nicht<lb/>
mehr, und sei wieder nach Hause gefahren. So ging ich denn in strömendem<lb/>
Regen nach dem nahen Flecken, während der Stationsvorsteher mir mein Gepäck<lb/>
auf einem Schubkarren nachfuhr. Dort im Orte wurde mir gesagt, es gehe<lb/>
am Nachmittag die Fahrpost nach dem Gute, da könne ich ja mitfahren. Ich<lb/>
kehrte also beim PostHalter ein und bestellte mir Kaffee, denn um Appetit nach<lb/>
einem ordentlichen warmen Mittagessen aufkommen zu lassen, sah mir das Loch<lb/>
zu schmutzig aus; dann trocknete ich mich, so gut es gehen wollte, an dem</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0287] Erinnerungen aus Irland. Seekraute sterben zu müssen, während der zweiten sei es ihm gleich, ob er sterben oder weiterleben werde, in der dritten aber fürchte er, nicht sterben zu können, so gern er auch möchte. Alle diese Stufen machte ich der Reihe nach durch; während der dritten, deren Zeitdauer leider nicht auf eine Stunde be¬ schränkt war, schien es aber doch, als sollte meine Befürchtung, nicht sterben zu können, beseitigt werden; denn plötzlich horte ich ans Deck ein Geschrei unter den Matrosen, das selbst das Heulen des Sturmes und das Ächzen und Stöhnen der Schiffshalter und der Passagiere übertönte. Draußen in der Hcmptkajüte aber schrie der Steward jemand zu: „Eben ist ein Fischerboot mit sieben Mann vor unsern Augen gekentert. Keine Möglichkeit, zu helfen; sind ja selbst übel daran!" Stunde auf Stunde verging, es war schon Heller Tag, aber immer wütete der Sturm noch fort. Endlich, um halb zehn Uhr morgens, statt um sechs Uhr, landeten wir in Grecnore, einem öden Stationsgebäude auf einem Vorgebirge in der Nähe von Dnndalk, wo ich mehr tot als lebendig den Eisen- bahnzug nach Londonderry bestieg. Draußen goß es in Strömen, und es mochte wohl schon lange geregnet haben, denn überall standen Strecken sonst jedenfalls trocknen Landes unter Wasser. Ein trostloses BildI Weite öde Moor- und Haideslächen, kaum ein Baum, nur hie und da etwas Acker- und Wiesenland und Lehmhütten, der¬ gleichen ich in Deutschland auch in dem ärmsten Gebirgsdorfe nicht gesehen hatte, zerlumpte, schmutzige Gestalten in der Thür; überall Wasserpfützen und überall Binsen: Binsen auf den Wiesen, Binsen auf den Kartoffelfeldern, Binsen in den Gärten, Binsen selbst auf den Strohdächern der Häuser; darüber ein bleigrauer Himmel, der unversiegliche Regenmengen zu bergen schien. Kein Wunder, daß der Gedanke, in diesem Lande zu wohnen, zunächst nicht viel tröstliches für mich hatte; der erste Eindruck war wenigstens kein allzu ver¬ lockender. Um halb ein Uhr hielt der Zug an der Station M., die dem Orte meiner Bestimmung am nächsten lag. Der Bahnhof bestand aus einem Wärterhäuschen und aus einem Holzschuppen, der das Empfangsgcbäude vorstellen sollte. Auf meine Frage, ob ein Wagen vom Gute für mich da sei, sagte mir der Mann, der Stationsvorsteher, Billeteur und Packträger in einer Person zu sein schien, es sei allerdings einer dagewesen; da ich aber mit dem Halbelfuhrzuge nicht gekommen sei, so habe der Kutscher angenommen, ich käme nun überhaupt nicht mehr, und sei wieder nach Hause gefahren. So ging ich denn in strömendem Regen nach dem nahen Flecken, während der Stationsvorsteher mir mein Gepäck auf einem Schubkarren nachfuhr. Dort im Orte wurde mir gesagt, es gehe am Nachmittag die Fahrpost nach dem Gute, da könne ich ja mitfahren. Ich kehrte also beim PostHalter ein und bestellte mir Kaffee, denn um Appetit nach einem ordentlichen warmen Mittagessen aufkommen zu lassen, sah mir das Loch zu schmutzig aus; dann trocknete ich mich, so gut es gehen wollte, an dem

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/287
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/287>, abgerufen am 28.07.2024.