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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Zwei Vorreden.

jene großen Bilder und tragischen Situationen darbietet, welche in "Alceste" die
Zuschauer erschüttern und so reichlich Gelegenheit bieten zu großen Wirkungen der
Harmonie. Deshalb wird man gewiß nicht dieselbe Kraft und Stärke in der Musik
erwarten, wie man in einem Bilde mit Hellem Lichte nicht dieselbe Kraft des Hell¬
dunkels, noch dieselben gewählten Gegensätze fordern würde, die ein Maler bei
einem Vorwurf anwenden kann, der ihm Gelegenheit giebt, ein beschränktes Licht
zu wählen. Hier handelt es sich nicht um eine Gattin, welche nahe daran ist, den
Gemahl zu verlieren, welche, um ihn zu retten, den Mut findet, unter den schwarzen
Schatten der Nacht in einem schauerlichen Haine die Geister der Unterwelt anzu¬
rufen, welche noch in ihren letzten Zügen für das Schicksal ihrer Kinder zittern
und von einem angebeteten Gatten sich losreißen muß. Es handelt sich um einen
liebenden Jüngling, der mit der Sprödigkeit eines edeln und stolzen Weibes eine
Zeit lang zu kämpfen hat und zum Schluß mit der ganzen Kunst einer erfinderischen
Liebesleidenschaft darüber siegt. Ich mußte mich befleißigen, einige Mannichfaltig-
keit in den Farben zu finden. Ich suchte sie in der Verschiedenheit des Charakters
der beiden Nationen, der Phrygier und der Spartaner, und setzte den rauhen und
wilden der einen in Gegensatz zu dem zarten und weichen der andern. Ich habe ge¬
glaubt, der Gesang, da er in der Oper nichts ist als der Ersatz für die Deklama¬
tion, müsse in Helena die angeborne Rauheit der Nation nachahmen, und ich habe
gedacht, daß um diesen Charakter in der Musik zu wahren, man es mir nicht als
Fehler anrechnen würde, daß ich mich einige male bis zum Alltäglichen herabge¬
lassen habe. Wenn man die Wahrheit sucht, muß man sich nach dem Vorwurf,
den man unter den Händen hat, richten, und die größten Schönheiten der Melodie
und Harmonie werden zu Fehlern und Unvollkommenheiten, wenn sie nicht am
Platze sind. Ich hoffe von meinem "Paris" keinen bessern Erfolg als von "Al¬
ceste," was die Absicht betrifft, unter den Tonkünstlern den gewünschten Umschwung
hervorzubringen, auch sehe ich immer größere Hindernisse voraus, aber deshalb
werde ich nicht aufhören, immer neue Versuche zum guten Zwecke zu machen, und
wenn ich die Zustimmung Ew. Hoheit erhalte, werde ich zufrieden wiederholen:
^'ölig sixarium; Sutton mihi unus ?tke>0 xro ouueto xoxulo (d. h.: "Nimm den Vor¬
hang weg; mir genügt der eine Plato statt des ganzen Volkes").

Wien, den 30. Oktober 1770.

Damit wollen wir vom Leser Abschied nehmen, jedoch nicht ohne zu be¬
tonen, daß wir die Mängel, die diesen Übertragungen anhaften und anhaften
müssen, weil es sich für uns in erster Linie um möglichste Genauigkeit und Ver¬
meidung freidenkender Umschreibungen handelte, ebensowenig verkennen, als wir
im allgemeinen die wissenschaftlichen Verdienste eines Schmid, Marx, Langhaus,
Jansen und Bulthaupt, deren Zuverlässigkeit wir in diesem besondern Falle
wegen der Wichtigkeit der Sache beanstanden mußten, unterschätzen und unter¬
schätzt wissen möchten, und daß uns jede Belehrung erwünscht sein wird und
ihre Verwertung finden soll.


Heinrich welti.


Zwei Vorreden.

jene großen Bilder und tragischen Situationen darbietet, welche in „Alceste" die
Zuschauer erschüttern und so reichlich Gelegenheit bieten zu großen Wirkungen der
Harmonie. Deshalb wird man gewiß nicht dieselbe Kraft und Stärke in der Musik
erwarten, wie man in einem Bilde mit Hellem Lichte nicht dieselbe Kraft des Hell¬
dunkels, noch dieselben gewählten Gegensätze fordern würde, die ein Maler bei
einem Vorwurf anwenden kann, der ihm Gelegenheit giebt, ein beschränktes Licht
zu wählen. Hier handelt es sich nicht um eine Gattin, welche nahe daran ist, den
Gemahl zu verlieren, welche, um ihn zu retten, den Mut findet, unter den schwarzen
Schatten der Nacht in einem schauerlichen Haine die Geister der Unterwelt anzu¬
rufen, welche noch in ihren letzten Zügen für das Schicksal ihrer Kinder zittern
und von einem angebeteten Gatten sich losreißen muß. Es handelt sich um einen
liebenden Jüngling, der mit der Sprödigkeit eines edeln und stolzen Weibes eine
Zeit lang zu kämpfen hat und zum Schluß mit der ganzen Kunst einer erfinderischen
Liebesleidenschaft darüber siegt. Ich mußte mich befleißigen, einige Mannichfaltig-
keit in den Farben zu finden. Ich suchte sie in der Verschiedenheit des Charakters
der beiden Nationen, der Phrygier und der Spartaner, und setzte den rauhen und
wilden der einen in Gegensatz zu dem zarten und weichen der andern. Ich habe ge¬
glaubt, der Gesang, da er in der Oper nichts ist als der Ersatz für die Deklama¬
tion, müsse in Helena die angeborne Rauheit der Nation nachahmen, und ich habe
gedacht, daß um diesen Charakter in der Musik zu wahren, man es mir nicht als
Fehler anrechnen würde, daß ich mich einige male bis zum Alltäglichen herabge¬
lassen habe. Wenn man die Wahrheit sucht, muß man sich nach dem Vorwurf,
den man unter den Händen hat, richten, und die größten Schönheiten der Melodie
und Harmonie werden zu Fehlern und Unvollkommenheiten, wenn sie nicht am
Platze sind. Ich hoffe von meinem „Paris" keinen bessern Erfolg als von „Al¬
ceste," was die Absicht betrifft, unter den Tonkünstlern den gewünschten Umschwung
hervorzubringen, auch sehe ich immer größere Hindernisse voraus, aber deshalb
werde ich nicht aufhören, immer neue Versuche zum guten Zwecke zu machen, und
wenn ich die Zustimmung Ew. Hoheit erhalte, werde ich zufrieden wiederholen:
^'ölig sixarium; Sutton mihi unus ?tke>0 xro ouueto xoxulo (d. h.: „Nimm den Vor¬
hang weg; mir genügt der eine Plato statt des ganzen Volkes").

Wien, den 30. Oktober 1770.

Damit wollen wir vom Leser Abschied nehmen, jedoch nicht ohne zu be¬
tonen, daß wir die Mängel, die diesen Übertragungen anhaften und anhaften
müssen, weil es sich für uns in erster Linie um möglichste Genauigkeit und Ver¬
meidung freidenkender Umschreibungen handelte, ebensowenig verkennen, als wir
im allgemeinen die wissenschaftlichen Verdienste eines Schmid, Marx, Langhaus,
Jansen und Bulthaupt, deren Zuverlässigkeit wir in diesem besondern Falle
wegen der Wichtigkeit der Sache beanstanden mußten, unterschätzen und unter¬
schätzt wissen möchten, und daß uns jede Belehrung erwünscht sein wird und
ihre Verwertung finden soll.


Heinrich welti.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/285>, abgerufen am 28.07.2024.