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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Sie Lülmicklung des Naturgefiihls.

zu ziehen. Der mecklenburgische Landmann äußert doch auch Natursinn, wenn
er seine Freude hat an einer ebenen Gegend, die nichts andres zeigt als Korn¬
felder, welche nicht einmal durch Hecken oder Bäume unterbrochen werden.
Vielleicht mischt sich seiner Freude etwas von der egoistischen Hoffnung auf die
künftige Ernte bei, aber sein ganzes Sinnen und Fühlen ist nun einmal in
dieser Richtung ausgebildet; ähnlich wie ihn beim Anblick kriegerischer Reiter-
statuen vielleicht vorzugsweise die Nasse der Pferde interessirt. Während der
naive Bewohner eines Gcbirgslandcs wohl den Schrecken und das Grauen
kennt, mit welchem Einsamkeit und nächtliche Stürme seine Seele erfüllen,
während er sich freut, in traulicher Hütte sichern Schutz zu finden, treibt es
zu derselben Zeit den sentimentalen Dichter aus dem Treiben der zivilisirten
Städte hinaus in die Wildnis, und Geibel singt:


Mein Herz, das im Gewühl verdorrte,
Hier fühlt sichs heimatlich erwacht.
Die Wildnis lehrt mich ernste Worte,
Und Riitsel deutet mir die Nacht.

So war es aber zu jeder Zeit, und bei jedem Volke, welches uns Spuren
seiner Kunst hinterlassen hat, können wir eine Art der Entwicklung des Natur¬
filmes nachweisen, welche vom naiven zum Sentimentalen oder Empfindsam-
Romantischen fortschreitet. Die letztere Art muß Wohl als eine höhere Ent¬
wicklungsstufe betrachtet werden, erhält freilich auch leicht krankhafte Bei¬
mischungen durch künstliche Übertreibungen. Erst wenn nach affektirter Em¬
pfindsamkeit ein gewisser Überdruß und Widerwille gegen solche Erscheinungen
w Poesie und Malerei entstanden ist, kann ans entschiedener Umkehr zum
natürlichen Gefühl die volle Kraft und Gesundheit Goethischcr Dichtung ent¬
springen.

Es ist selbstverständlich, daß der künstlerische Genuß beim Anschauen der
Natur erst dann stattfinden kaun, wenn das, was wir sehen, nicht ein Gegen¬
stand der Besorgnis, der Furcht oder der auf Nutzen gerichteten Begierde ist.
Nur da kaun von Naturgenuß die Rede sein, wo edlere, freiere Regungen der
Seele in Einklang gesetzt werden mit der sinnlichen Wahrnehmung, und wir
uns dieses Einklanges mindestens dunkel bewußt werden. So lange man selbst
fürchten muß, mit dem eignen Schiffe zu scheitern, so lange kann man am
Sturme und am Tosen der Wellen keine Freude haben, aber ein Bild solcher
Gefahren, vom sichern Standpunkte aus betrachtet, kann unsre Stimmung freudig
erheben. Dem Reisenden im Gebirge können zwar heutzutage die Aussichten
nicht groß genug, die Abgründe nicht schroff, die Wasserfalle und selbst die
Lawinen nicht wild und donnernd genug sein, denn unsre Erfahrung hat uns,
zuweilen freilich nur zu voreilig, die Überzeugung eingeflößt, daß wir schon mit
allen Mitteln der Kultur mit heiler Haut davon kommen und keinen Schaden
leiden werden; aber der Bewohner der Ebene, der zum ersten male die steilen,


Sie Lülmicklung des Naturgefiihls.

zu ziehen. Der mecklenburgische Landmann äußert doch auch Natursinn, wenn
er seine Freude hat an einer ebenen Gegend, die nichts andres zeigt als Korn¬
felder, welche nicht einmal durch Hecken oder Bäume unterbrochen werden.
Vielleicht mischt sich seiner Freude etwas von der egoistischen Hoffnung auf die
künftige Ernte bei, aber sein ganzes Sinnen und Fühlen ist nun einmal in
dieser Richtung ausgebildet; ähnlich wie ihn beim Anblick kriegerischer Reiter-
statuen vielleicht vorzugsweise die Nasse der Pferde interessirt. Während der
naive Bewohner eines Gcbirgslandcs wohl den Schrecken und das Grauen
kennt, mit welchem Einsamkeit und nächtliche Stürme seine Seele erfüllen,
während er sich freut, in traulicher Hütte sichern Schutz zu finden, treibt es
zu derselben Zeit den sentimentalen Dichter aus dem Treiben der zivilisirten
Städte hinaus in die Wildnis, und Geibel singt:


Mein Herz, das im Gewühl verdorrte,
Hier fühlt sichs heimatlich erwacht.
Die Wildnis lehrt mich ernste Worte,
Und Riitsel deutet mir die Nacht.

So war es aber zu jeder Zeit, und bei jedem Volke, welches uns Spuren
seiner Kunst hinterlassen hat, können wir eine Art der Entwicklung des Natur¬
filmes nachweisen, welche vom naiven zum Sentimentalen oder Empfindsam-
Romantischen fortschreitet. Die letztere Art muß Wohl als eine höhere Ent¬
wicklungsstufe betrachtet werden, erhält freilich auch leicht krankhafte Bei¬
mischungen durch künstliche Übertreibungen. Erst wenn nach affektirter Em¬
pfindsamkeit ein gewisser Überdruß und Widerwille gegen solche Erscheinungen
w Poesie und Malerei entstanden ist, kann ans entschiedener Umkehr zum
natürlichen Gefühl die volle Kraft und Gesundheit Goethischcr Dichtung ent¬
springen.

Es ist selbstverständlich, daß der künstlerische Genuß beim Anschauen der
Natur erst dann stattfinden kaun, wenn das, was wir sehen, nicht ein Gegen¬
stand der Besorgnis, der Furcht oder der auf Nutzen gerichteten Begierde ist.
Nur da kaun von Naturgenuß die Rede sein, wo edlere, freiere Regungen der
Seele in Einklang gesetzt werden mit der sinnlichen Wahrnehmung, und wir
uns dieses Einklanges mindestens dunkel bewußt werden. So lange man selbst
fürchten muß, mit dem eignen Schiffe zu scheitern, so lange kann man am
Sturme und am Tosen der Wellen keine Freude haben, aber ein Bild solcher
Gefahren, vom sichern Standpunkte aus betrachtet, kann unsre Stimmung freudig
erheben. Dem Reisenden im Gebirge können zwar heutzutage die Aussichten
nicht groß genug, die Abgründe nicht schroff, die Wasserfalle und selbst die
Lawinen nicht wild und donnernd genug sein, denn unsre Erfahrung hat uns,
zuweilen freilich nur zu voreilig, die Überzeugung eingeflößt, daß wir schon mit
allen Mitteln der Kultur mit heiler Haut davon kommen und keinen Schaden
leiden werden; aber der Bewohner der Ebene, der zum ersten male die steilen,


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[0267] Sie Lülmicklung des Naturgefiihls. zu ziehen. Der mecklenburgische Landmann äußert doch auch Natursinn, wenn er seine Freude hat an einer ebenen Gegend, die nichts andres zeigt als Korn¬ felder, welche nicht einmal durch Hecken oder Bäume unterbrochen werden. Vielleicht mischt sich seiner Freude etwas von der egoistischen Hoffnung auf die künftige Ernte bei, aber sein ganzes Sinnen und Fühlen ist nun einmal in dieser Richtung ausgebildet; ähnlich wie ihn beim Anblick kriegerischer Reiter- statuen vielleicht vorzugsweise die Nasse der Pferde interessirt. Während der naive Bewohner eines Gcbirgslandcs wohl den Schrecken und das Grauen kennt, mit welchem Einsamkeit und nächtliche Stürme seine Seele erfüllen, während er sich freut, in traulicher Hütte sichern Schutz zu finden, treibt es zu derselben Zeit den sentimentalen Dichter aus dem Treiben der zivilisirten Städte hinaus in die Wildnis, und Geibel singt: Mein Herz, das im Gewühl verdorrte, Hier fühlt sichs heimatlich erwacht. Die Wildnis lehrt mich ernste Worte, Und Riitsel deutet mir die Nacht. So war es aber zu jeder Zeit, und bei jedem Volke, welches uns Spuren seiner Kunst hinterlassen hat, können wir eine Art der Entwicklung des Natur¬ filmes nachweisen, welche vom naiven zum Sentimentalen oder Empfindsam- Romantischen fortschreitet. Die letztere Art muß Wohl als eine höhere Ent¬ wicklungsstufe betrachtet werden, erhält freilich auch leicht krankhafte Bei¬ mischungen durch künstliche Übertreibungen. Erst wenn nach affektirter Em¬ pfindsamkeit ein gewisser Überdruß und Widerwille gegen solche Erscheinungen w Poesie und Malerei entstanden ist, kann ans entschiedener Umkehr zum natürlichen Gefühl die volle Kraft und Gesundheit Goethischcr Dichtung ent¬ springen. Es ist selbstverständlich, daß der künstlerische Genuß beim Anschauen der Natur erst dann stattfinden kaun, wenn das, was wir sehen, nicht ein Gegen¬ stand der Besorgnis, der Furcht oder der auf Nutzen gerichteten Begierde ist. Nur da kaun von Naturgenuß die Rede sein, wo edlere, freiere Regungen der Seele in Einklang gesetzt werden mit der sinnlichen Wahrnehmung, und wir uns dieses Einklanges mindestens dunkel bewußt werden. So lange man selbst fürchten muß, mit dem eignen Schiffe zu scheitern, so lange kann man am Sturme und am Tosen der Wellen keine Freude haben, aber ein Bild solcher Gefahren, vom sichern Standpunkte aus betrachtet, kann unsre Stimmung freudig erheben. Dem Reisenden im Gebirge können zwar heutzutage die Aussichten nicht groß genug, die Abgründe nicht schroff, die Wasserfalle und selbst die Lawinen nicht wild und donnernd genug sein, denn unsre Erfahrung hat uns, zuweilen freilich nur zu voreilig, die Überzeugung eingeflößt, daß wir schon mit allen Mitteln der Kultur mit heiler Haut davon kommen und keinen Schaden leiden werden; aber der Bewohner der Ebene, der zum ersten male die steilen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/267>, abgerufen am 28.07.2024.