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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die Entwicklung des Naturgefiihls.

bedenklich, und niemand kann sagen, wie bald sich die Geschichte von 1848
wiederholen kann. Damals that uns die Sache nichts, obwohl wir schlecht ge¬
rüstet waren. Heute wird sie uns noch weniger als damals etwas thun können,
weil wir gut gerüstet sind. Danken wir dafür denen, welchen dafür Dank ge¬
bührt, der vorsorglicher Regierung und den Einsichtigen und Willigen in der
Volksvertretung.




Die Entwicklung des Naturgefühls.

n der Deutschen Rundschau (1879, XIX, S. 257) sagt Du Bois-
Reymond in einem Aufsätze über Friedrich II. und Jean Jacques
Rousseau: "Vergeblich sucht man in der antiken, mittelalterlichen,
neueren Litteratur bis zum vorigen Jahrhundert uach dem Aus¬
druck dessen, was wir Naturgefühl nennen." Nach seiner Meinung
blieben Altertum und Mittelalter auf dem niedrigen Nützlichkeits- oder Schäd¬
lichkeitsstandpunkte stehen: "Es fehlte der Menschheit die Fähigkeit, überhaupt
die Natur auf sich wirken zu lassen und durch deren verschiedene Ansicht ver¬
schieden gestimmt zu werden."

Diese Meinung ist freilich schon oft widerlegt worden, z. B. durch Karl
Woermcmn 1871 in feiner Schrift "Über den landschaftlichen Natursinn der
Griechen und Römer," und später durch Alfred Biese in seinem Buche "Ent¬
wicklung des Natursinnes bei den Griechen und Römern," und man fragt sich,
wie es möglich ist, daß ein hervorragender Naturforscher unsrer Tage noch
immer an dieser einseitigen Ansicht festhalten kann. Der Nächstliegende Grund
dafür ist wohl in der geschichtlichen Überlieferung zu suchen, welcher diejenigen
am blindesten zu folgen pflegen, die sonst am meisten die Prinzipien des freien
und unabhängigen Denkens preisen. Seitdem Schiller 1795 seine berühmte
Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung veröffentlicht hatte, sind
alle Ästhetiker mehr oder weniger der Ansicht treu geblieben, daß antik und
naiv, modern und sentimentalisch mit einander gingen; und wenn das Altertum
in allem Dichten und Trachten durch die naive Sinnesweise charcckterisirt sein
sollte, so schloß man daraus, daß es sich zu unserm reich entwickelten Gefühls¬
leben wie eine nüchterne, nur auf praktischen Nutzen bedachte Zeit verhalte,
etwa wie eine kindliche Vorstufe zu der reichen Gedankenwelt des erwachsenen
Menschen. Man bedachte nicht, daß Schiller weder ein sehr großer Historiker,
noch ein besonders tiefer Kenner des Altertums war; bat er doch in demselben


Die Entwicklung des Naturgefiihls.

bedenklich, und niemand kann sagen, wie bald sich die Geschichte von 1848
wiederholen kann. Damals that uns die Sache nichts, obwohl wir schlecht ge¬
rüstet waren. Heute wird sie uns noch weniger als damals etwas thun können,
weil wir gut gerüstet sind. Danken wir dafür denen, welchen dafür Dank ge¬
bührt, der vorsorglicher Regierung und den Einsichtigen und Willigen in der
Volksvertretung.




Die Entwicklung des Naturgefühls.

n der Deutschen Rundschau (1879, XIX, S. 257) sagt Du Bois-
Reymond in einem Aufsätze über Friedrich II. und Jean Jacques
Rousseau: „Vergeblich sucht man in der antiken, mittelalterlichen,
neueren Litteratur bis zum vorigen Jahrhundert uach dem Aus¬
druck dessen, was wir Naturgefühl nennen." Nach seiner Meinung
blieben Altertum und Mittelalter auf dem niedrigen Nützlichkeits- oder Schäd¬
lichkeitsstandpunkte stehen: „Es fehlte der Menschheit die Fähigkeit, überhaupt
die Natur auf sich wirken zu lassen und durch deren verschiedene Ansicht ver¬
schieden gestimmt zu werden."

Diese Meinung ist freilich schon oft widerlegt worden, z. B. durch Karl
Woermcmn 1871 in feiner Schrift „Über den landschaftlichen Natursinn der
Griechen und Römer," und später durch Alfred Biese in seinem Buche „Ent¬
wicklung des Natursinnes bei den Griechen und Römern," und man fragt sich,
wie es möglich ist, daß ein hervorragender Naturforscher unsrer Tage noch
immer an dieser einseitigen Ansicht festhalten kann. Der Nächstliegende Grund
dafür ist wohl in der geschichtlichen Überlieferung zu suchen, welcher diejenigen
am blindesten zu folgen pflegen, die sonst am meisten die Prinzipien des freien
und unabhängigen Denkens preisen. Seitdem Schiller 1795 seine berühmte
Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung veröffentlicht hatte, sind
alle Ästhetiker mehr oder weniger der Ansicht treu geblieben, daß antik und
naiv, modern und sentimentalisch mit einander gingen; und wenn das Altertum
in allem Dichten und Trachten durch die naive Sinnesweise charcckterisirt sein
sollte, so schloß man daraus, daß es sich zu unserm reich entwickelten Gefühls¬
leben wie eine nüchterne, nur auf praktischen Nutzen bedachte Zeit verhalte,
etwa wie eine kindliche Vorstufe zu der reichen Gedankenwelt des erwachsenen
Menschen. Man bedachte nicht, daß Schiller weder ein sehr großer Historiker,
noch ein besonders tiefer Kenner des Altertums war; bat er doch in demselben


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[0264] Die Entwicklung des Naturgefiihls. bedenklich, und niemand kann sagen, wie bald sich die Geschichte von 1848 wiederholen kann. Damals that uns die Sache nichts, obwohl wir schlecht ge¬ rüstet waren. Heute wird sie uns noch weniger als damals etwas thun können, weil wir gut gerüstet sind. Danken wir dafür denen, welchen dafür Dank ge¬ bührt, der vorsorglicher Regierung und den Einsichtigen und Willigen in der Volksvertretung. Die Entwicklung des Naturgefühls. n der Deutschen Rundschau (1879, XIX, S. 257) sagt Du Bois- Reymond in einem Aufsätze über Friedrich II. und Jean Jacques Rousseau: „Vergeblich sucht man in der antiken, mittelalterlichen, neueren Litteratur bis zum vorigen Jahrhundert uach dem Aus¬ druck dessen, was wir Naturgefühl nennen." Nach seiner Meinung blieben Altertum und Mittelalter auf dem niedrigen Nützlichkeits- oder Schäd¬ lichkeitsstandpunkte stehen: „Es fehlte der Menschheit die Fähigkeit, überhaupt die Natur auf sich wirken zu lassen und durch deren verschiedene Ansicht ver¬ schieden gestimmt zu werden." Diese Meinung ist freilich schon oft widerlegt worden, z. B. durch Karl Woermcmn 1871 in feiner Schrift „Über den landschaftlichen Natursinn der Griechen und Römer," und später durch Alfred Biese in seinem Buche „Ent¬ wicklung des Natursinnes bei den Griechen und Römern," und man fragt sich, wie es möglich ist, daß ein hervorragender Naturforscher unsrer Tage noch immer an dieser einseitigen Ansicht festhalten kann. Der Nächstliegende Grund dafür ist wohl in der geschichtlichen Überlieferung zu suchen, welcher diejenigen am blindesten zu folgen pflegen, die sonst am meisten die Prinzipien des freien und unabhängigen Denkens preisen. Seitdem Schiller 1795 seine berühmte Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung veröffentlicht hatte, sind alle Ästhetiker mehr oder weniger der Ansicht treu geblieben, daß antik und naiv, modern und sentimentalisch mit einander gingen; und wenn das Altertum in allem Dichten und Trachten durch die naive Sinnesweise charcckterisirt sein sollte, so schloß man daraus, daß es sich zu unserm reich entwickelten Gefühls¬ leben wie eine nüchterne, nur auf praktischen Nutzen bedachte Zeit verhalte, etwa wie eine kindliche Vorstufe zu der reichen Gedankenwelt des erwachsenen Menschen. Man bedachte nicht, daß Schiller weder ein sehr großer Historiker, noch ein besonders tiefer Kenner des Altertums war; bat er doch in demselben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/264>, abgerufen am 13.11.2024.