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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die verfassungsrevision in Frankreich.

ist. Die Verwandlung des wilden Floquet in einen zahmen Floqnet ist so
ergötzlich und so bezeichnend, als ob bei uns der Herr Besitzer der "Freisinnigen
Zeitung" oder ein andres, besonders Helles Licht der demokratisch-freihändlerischen
Clique, von irgend einer Verblendung an die Spitze des Kabinets berufen, die
Rückkehr zum Mauchestertum und andre Schönheiten seines Programms, z. B.
die Einführung zweijähriger Dienstzeit, in einer Rede vor dem Herrenhause zu
vertagen sich genötigt fühlte.

Als Pickwick, der würdige und weise alte Knabe, bei der Wahl den
Rat gab: "Schreit mit dem großen Haufen," erwiederte man ihm: "Aber es
sind zwei große Haufen." -- "Na, dann schreit mit dem größten," lautete die
Antwort. In Paris wird es bald schwierig werden, zu entscheiden, ob der
Haufe, der Boulanger leben läßt, oder der, welcher "Nieder mit dem Diktator!"
ruft, mehr Hoffnung hat, der größere zu werden und die Oberhand zu ge¬
winnen. Die Studenten des lateinischen Viertels, samt und sonders heiße Re¬
publikaner, lassen sich von Hinneigung zu anarchistischen Faseleien nicht über
die wahre Natur der neuen Bewegung täuschen, aber ihr Einbruch in die Teile
der Stadt, wo die Partei Boulangers mächtig ist, war gerade kein taktischer
Erfolg. Floquet wies mit Entrüstung den Gedanken von sich, daß seine Po¬
lizei den Boulangerismus begünstigt und die republikanischen Rufe unterdrückt
habe. Er verdammte alle und jede Ruhestörung und fügte hinzu: "Dieser Zustand
der Dinge muß unbedingt aufhöre"?, und er wird aufhören." Diese Kriegs¬
erklärung gegen die Straßenmanifestationen zu Gunsten des Helden des Tages
kann den Eifer der Freunde des Generals abkühlen, aber auch zu neuen Lei¬
stungen anspornen. In Paris gingen allen Revolutionen mißglückte Versuche
zu Pulsader voraus. Was heute das Geschrei einiger bartlosen Gassenjungen
war, wurde im Verlaufe einer Woche zur Stimme von Paris, die eine neue
Art von Regenten auf das Stadthaus berief. Die Festigkeit der Regierung be¬
ruht zum guten Teil auf der Polizei, auf menschlichen Werkzengen, die sich in¬
mitten ihrer Arbeit ihrer eignen Interessen erinnern. In Irland erinnert die
Nationalpartei die Polizei gelegentlich, daß, wenn das Homerule kommt, die
Führer der Partei die Herren der Polizei sein werden. In Paris ist ein der¬
artiger Hinweis nicht von nöten. Die Wächter der öffentlichen Sicherheit und
Ruhe wissen hier, daß der bellte Proskribirte morgen Minister sein kann, und
so zögern sie in Zeiten der Aufregung und Unentschiedenheit, wohlweislich ihre
Ankunft als Staatsbeamte bedenkend, bei Ruhestörungen in politischen Fragen
zuzuschlagen oder beim Kragen zu nehmen lind hinter Schloß und Riegel zu
sichren. Es war vorzüglich dieser Zweifel an der nächsten Zukunft, wenn sich
die Behörden beim Ausbruch der Februarrevolution von 1843 gelähmt sahen
und die Herrschaft über ein großes Volk ohne langes Besinnen und Fragen
den Erwählten einer verhältnismäßig kleinen Pöbelrotte übergaben. Die Zeit
ist ernst geworden in der Seinestcidt, die Welt wackelt und bröckelt dort ganz


Die verfassungsrevision in Frankreich.

ist. Die Verwandlung des wilden Floquet in einen zahmen Floqnet ist so
ergötzlich und so bezeichnend, als ob bei uns der Herr Besitzer der „Freisinnigen
Zeitung" oder ein andres, besonders Helles Licht der demokratisch-freihändlerischen
Clique, von irgend einer Verblendung an die Spitze des Kabinets berufen, die
Rückkehr zum Mauchestertum und andre Schönheiten seines Programms, z. B.
die Einführung zweijähriger Dienstzeit, in einer Rede vor dem Herrenhause zu
vertagen sich genötigt fühlte.

Als Pickwick, der würdige und weise alte Knabe, bei der Wahl den
Rat gab: „Schreit mit dem großen Haufen," erwiederte man ihm: „Aber es
sind zwei große Haufen." — „Na, dann schreit mit dem größten," lautete die
Antwort. In Paris wird es bald schwierig werden, zu entscheiden, ob der
Haufe, der Boulanger leben läßt, oder der, welcher „Nieder mit dem Diktator!"
ruft, mehr Hoffnung hat, der größere zu werden und die Oberhand zu ge¬
winnen. Die Studenten des lateinischen Viertels, samt und sonders heiße Re¬
publikaner, lassen sich von Hinneigung zu anarchistischen Faseleien nicht über
die wahre Natur der neuen Bewegung täuschen, aber ihr Einbruch in die Teile
der Stadt, wo die Partei Boulangers mächtig ist, war gerade kein taktischer
Erfolg. Floquet wies mit Entrüstung den Gedanken von sich, daß seine Po¬
lizei den Boulangerismus begünstigt und die republikanischen Rufe unterdrückt
habe. Er verdammte alle und jede Ruhestörung und fügte hinzu: „Dieser Zustand
der Dinge muß unbedingt aufhöre«?, und er wird aufhören." Diese Kriegs¬
erklärung gegen die Straßenmanifestationen zu Gunsten des Helden des Tages
kann den Eifer der Freunde des Generals abkühlen, aber auch zu neuen Lei¬
stungen anspornen. In Paris gingen allen Revolutionen mißglückte Versuche
zu Pulsader voraus. Was heute das Geschrei einiger bartlosen Gassenjungen
war, wurde im Verlaufe einer Woche zur Stimme von Paris, die eine neue
Art von Regenten auf das Stadthaus berief. Die Festigkeit der Regierung be¬
ruht zum guten Teil auf der Polizei, auf menschlichen Werkzengen, die sich in¬
mitten ihrer Arbeit ihrer eignen Interessen erinnern. In Irland erinnert die
Nationalpartei die Polizei gelegentlich, daß, wenn das Homerule kommt, die
Führer der Partei die Herren der Polizei sein werden. In Paris ist ein der¬
artiger Hinweis nicht von nöten. Die Wächter der öffentlichen Sicherheit und
Ruhe wissen hier, daß der bellte Proskribirte morgen Minister sein kann, und
so zögern sie in Zeiten der Aufregung und Unentschiedenheit, wohlweislich ihre
Ankunft als Staatsbeamte bedenkend, bei Ruhestörungen in politischen Fragen
zuzuschlagen oder beim Kragen zu nehmen lind hinter Schloß und Riegel zu
sichren. Es war vorzüglich dieser Zweifel an der nächsten Zukunft, wenn sich
die Behörden beim Ausbruch der Februarrevolution von 1843 gelähmt sahen
und die Herrschaft über ein großes Volk ohne langes Besinnen und Fragen
den Erwählten einer verhältnismäßig kleinen Pöbelrotte übergaben. Die Zeit
ist ernst geworden in der Seinestcidt, die Welt wackelt und bröckelt dort ganz


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/263>, abgerufen am 01.09.2024.