Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Verfassungsrevision in Frankreich.

die Republik stehe auf festen Füßen. Als der kaiserliche Prinz im Zulukriege
gefallen war, rief Gambetta aus: "Was für ein Unglück; wir haben unser
Gegengewicht verloren!" Er wußte, daß, so lange ein junger und unternehmungs¬
lustiger Erbe der Krone lebte, die Republikaner aus Furcht vor seinem Einflüsse
einträchtig zusammengeschart bleiben würden wie die Bürgerschaft einer Stadt,
vor welcher der Feind lagert und jeden Tag zum Sturme heranrücken kann.
Als aber dann der Vonapartismus sank und sich durch Spaltung schwächte,
war keine Gefahr mehr zu befürchten, wenn man sich gehen ließ und der Nei¬
gung zu Meinungsverschiedenheiten und Zank nachgab, die ein Charakterzug der
Franzosen ist. Die Folge war, daß es neun Jahre lang fast ohne Unter¬
brechung parlamentarische Raufereien und eine lange Reihe von Ministerwechseln
gab. Jetzt hat sich Boulanger erhoben, um die Republik mit einer Art von
Bonapartismus im Innern des Landes zu bedrohen. Vergebens hat man
Mitglieder der alten Dynastien in die Verbannung getrieben, wenn zu
Hause ein Prätendent auftritt, der an die Gründling einer neue" Dynastie
denkt, was er freilich noch nicht mit deutlichen Worten ausgesprochen hat,
aber fast mit Bestimmtheit vermuten läßt, da nach allem, was wir von
ihm wissen, edle Uneigennützigkeit, reiner Patriotismus, der um die Not des
Landes trauert und nichts verlangt, als ihr abhelfen zu können, sicherlich
nicht die Eigenschaften sind, welche ihn zieren und bewegen. Thiers, Frank¬
reichs letzter bedeutender Staatsmann, that einst den Ausspruch: "Die Re¬
publik wird konservativ sein, oder sie wird nicht sein," und diese Prophezeiung
wird sich aller Wahrscheinlichkeit zufolge jetzt erfüllen, wenn Frankreich im
Widerwillen gegen das Hinabgleiten der Negierung in den Radikalismus mit
seinen Umsturzabsichten und Vorschlägen eine Diktatur annimmt. Der einzige
Ausweg aus dieser Notlage ist augenscheinlich die Rückkehr zu dem republikanischen
Konservatismus der Periode von 1871 bis 1879, wo man acht Jahre lang
die Kirche, die auch in Frankreich eine Macht ist, welche sich nicht ungestraft
bedrücken und mißhandeln läßt, in Ruhe ließ, wo man das Gebiet von der
Okkupation befreite, wo der Staat sich erholte und fortschritt, und wo Leute
der verschiedensten politischen Bekenntnisse der Republik treue und gute Dienste
leisteten. Seit dieser glücklichen Ära haben wir eine Reihe von Ministerien
kommen und gehen sehen, die mehr einem Zuge von Schatten- oder Nebel¬
bildern, mehr dem Spiel einer Osiners. obsourg, als einer festen, soliden und
fruchtbringenden Verwaltung glich. Die Republik nahm immer mehr einen
Charakter an, den man nicht wohl anders als revolutionär bezeichnen darf,
bis jetzt, wie an Beispielen gezeigt wurde, der Minister Floquet, der letzte der
Radikalen, sich plötzlich in einen maßvollen und gelind konservativen Politiker
verwandelt, um die republikanische Staatseinrichtung vor dem Siege eines
Bastardbonapartismus zu bewahren, der in einer Kaserne zur Welt gekommen
und von den beiden dynastischen Parteien als Kindermuhmen aufgefüttert worden


Die Verfassungsrevision in Frankreich.

die Republik stehe auf festen Füßen. Als der kaiserliche Prinz im Zulukriege
gefallen war, rief Gambetta aus: „Was für ein Unglück; wir haben unser
Gegengewicht verloren!" Er wußte, daß, so lange ein junger und unternehmungs¬
lustiger Erbe der Krone lebte, die Republikaner aus Furcht vor seinem Einflüsse
einträchtig zusammengeschart bleiben würden wie die Bürgerschaft einer Stadt,
vor welcher der Feind lagert und jeden Tag zum Sturme heranrücken kann.
Als aber dann der Vonapartismus sank und sich durch Spaltung schwächte,
war keine Gefahr mehr zu befürchten, wenn man sich gehen ließ und der Nei¬
gung zu Meinungsverschiedenheiten und Zank nachgab, die ein Charakterzug der
Franzosen ist. Die Folge war, daß es neun Jahre lang fast ohne Unter¬
brechung parlamentarische Raufereien und eine lange Reihe von Ministerwechseln
gab. Jetzt hat sich Boulanger erhoben, um die Republik mit einer Art von
Bonapartismus im Innern des Landes zu bedrohen. Vergebens hat man
Mitglieder der alten Dynastien in die Verbannung getrieben, wenn zu
Hause ein Prätendent auftritt, der an die Gründling einer neue» Dynastie
denkt, was er freilich noch nicht mit deutlichen Worten ausgesprochen hat,
aber fast mit Bestimmtheit vermuten läßt, da nach allem, was wir von
ihm wissen, edle Uneigennützigkeit, reiner Patriotismus, der um die Not des
Landes trauert und nichts verlangt, als ihr abhelfen zu können, sicherlich
nicht die Eigenschaften sind, welche ihn zieren und bewegen. Thiers, Frank¬
reichs letzter bedeutender Staatsmann, that einst den Ausspruch: „Die Re¬
publik wird konservativ sein, oder sie wird nicht sein," und diese Prophezeiung
wird sich aller Wahrscheinlichkeit zufolge jetzt erfüllen, wenn Frankreich im
Widerwillen gegen das Hinabgleiten der Negierung in den Radikalismus mit
seinen Umsturzabsichten und Vorschlägen eine Diktatur annimmt. Der einzige
Ausweg aus dieser Notlage ist augenscheinlich die Rückkehr zu dem republikanischen
Konservatismus der Periode von 1871 bis 1879, wo man acht Jahre lang
die Kirche, die auch in Frankreich eine Macht ist, welche sich nicht ungestraft
bedrücken und mißhandeln läßt, in Ruhe ließ, wo man das Gebiet von der
Okkupation befreite, wo der Staat sich erholte und fortschritt, und wo Leute
der verschiedensten politischen Bekenntnisse der Republik treue und gute Dienste
leisteten. Seit dieser glücklichen Ära haben wir eine Reihe von Ministerien
kommen und gehen sehen, die mehr einem Zuge von Schatten- oder Nebel¬
bildern, mehr dem Spiel einer Osiners. obsourg, als einer festen, soliden und
fruchtbringenden Verwaltung glich. Die Republik nahm immer mehr einen
Charakter an, den man nicht wohl anders als revolutionär bezeichnen darf,
bis jetzt, wie an Beispielen gezeigt wurde, der Minister Floquet, der letzte der
Radikalen, sich plötzlich in einen maßvollen und gelind konservativen Politiker
verwandelt, um die republikanische Staatseinrichtung vor dem Siege eines
Bastardbonapartismus zu bewahren, der in einer Kaserne zur Welt gekommen
und von den beiden dynastischen Parteien als Kindermuhmen aufgefüttert worden


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0262" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203039"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Verfassungsrevision in Frankreich.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_865" prev="#ID_864" next="#ID_866"> die Republik stehe auf festen Füßen. Als der kaiserliche Prinz im Zulukriege<lb/>
gefallen war, rief Gambetta aus: &#x201E;Was für ein Unglück; wir haben unser<lb/>
Gegengewicht verloren!" Er wußte, daß, so lange ein junger und unternehmungs¬<lb/>
lustiger Erbe der Krone lebte, die Republikaner aus Furcht vor seinem Einflüsse<lb/>
einträchtig zusammengeschart bleiben würden wie die Bürgerschaft einer Stadt,<lb/>
vor welcher der Feind lagert und jeden Tag zum Sturme heranrücken kann.<lb/>
Als aber dann der Vonapartismus sank und sich durch Spaltung schwächte,<lb/>
war keine Gefahr mehr zu befürchten, wenn man sich gehen ließ und der Nei¬<lb/>
gung zu Meinungsverschiedenheiten und Zank nachgab, die ein Charakterzug der<lb/>
Franzosen ist. Die Folge war, daß es neun Jahre lang fast ohne Unter¬<lb/>
brechung parlamentarische Raufereien und eine lange Reihe von Ministerwechseln<lb/>
gab. Jetzt hat sich Boulanger erhoben, um die Republik mit einer Art von<lb/>
Bonapartismus im Innern des Landes zu bedrohen. Vergebens hat man<lb/>
Mitglieder der alten Dynastien in die Verbannung getrieben, wenn zu<lb/>
Hause ein Prätendent auftritt, der an die Gründling einer neue» Dynastie<lb/>
denkt, was er freilich noch nicht mit deutlichen Worten ausgesprochen hat,<lb/>
aber fast mit Bestimmtheit vermuten läßt, da nach allem, was wir von<lb/>
ihm wissen, edle Uneigennützigkeit, reiner Patriotismus, der um die Not des<lb/>
Landes trauert und nichts verlangt, als ihr abhelfen zu können, sicherlich<lb/>
nicht die Eigenschaften sind, welche ihn zieren und bewegen. Thiers, Frank¬<lb/>
reichs letzter bedeutender Staatsmann, that einst den Ausspruch: &#x201E;Die Re¬<lb/>
publik wird konservativ sein, oder sie wird nicht sein," und diese Prophezeiung<lb/>
wird sich aller Wahrscheinlichkeit zufolge jetzt erfüllen, wenn Frankreich im<lb/>
Widerwillen gegen das Hinabgleiten der Negierung in den Radikalismus mit<lb/>
seinen Umsturzabsichten und Vorschlägen eine Diktatur annimmt. Der einzige<lb/>
Ausweg aus dieser Notlage ist augenscheinlich die Rückkehr zu dem republikanischen<lb/>
Konservatismus der Periode von 1871 bis 1879, wo man acht Jahre lang<lb/>
die Kirche, die auch in Frankreich eine Macht ist, welche sich nicht ungestraft<lb/>
bedrücken und mißhandeln läßt, in Ruhe ließ, wo man das Gebiet von der<lb/>
Okkupation befreite, wo der Staat sich erholte und fortschritt, und wo Leute<lb/>
der verschiedensten politischen Bekenntnisse der Republik treue und gute Dienste<lb/>
leisteten. Seit dieser glücklichen Ära haben wir eine Reihe von Ministerien<lb/>
kommen und gehen sehen, die mehr einem Zuge von Schatten- oder Nebel¬<lb/>
bildern, mehr dem Spiel einer Osiners. obsourg, als einer festen, soliden und<lb/>
fruchtbringenden Verwaltung glich. Die Republik nahm immer mehr einen<lb/>
Charakter an, den man nicht wohl anders als revolutionär bezeichnen darf,<lb/>
bis jetzt, wie an Beispielen gezeigt wurde, der Minister Floquet, der letzte der<lb/>
Radikalen, sich plötzlich in einen maßvollen und gelind konservativen Politiker<lb/>
verwandelt, um die republikanische Staatseinrichtung vor dem Siege eines<lb/>
Bastardbonapartismus zu bewahren, der in einer Kaserne zur Welt gekommen<lb/>
und von den beiden dynastischen Parteien als Kindermuhmen aufgefüttert worden</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0262] Die Verfassungsrevision in Frankreich. die Republik stehe auf festen Füßen. Als der kaiserliche Prinz im Zulukriege gefallen war, rief Gambetta aus: „Was für ein Unglück; wir haben unser Gegengewicht verloren!" Er wußte, daß, so lange ein junger und unternehmungs¬ lustiger Erbe der Krone lebte, die Republikaner aus Furcht vor seinem Einflüsse einträchtig zusammengeschart bleiben würden wie die Bürgerschaft einer Stadt, vor welcher der Feind lagert und jeden Tag zum Sturme heranrücken kann. Als aber dann der Vonapartismus sank und sich durch Spaltung schwächte, war keine Gefahr mehr zu befürchten, wenn man sich gehen ließ und der Nei¬ gung zu Meinungsverschiedenheiten und Zank nachgab, die ein Charakterzug der Franzosen ist. Die Folge war, daß es neun Jahre lang fast ohne Unter¬ brechung parlamentarische Raufereien und eine lange Reihe von Ministerwechseln gab. Jetzt hat sich Boulanger erhoben, um die Republik mit einer Art von Bonapartismus im Innern des Landes zu bedrohen. Vergebens hat man Mitglieder der alten Dynastien in die Verbannung getrieben, wenn zu Hause ein Prätendent auftritt, der an die Gründling einer neue» Dynastie denkt, was er freilich noch nicht mit deutlichen Worten ausgesprochen hat, aber fast mit Bestimmtheit vermuten läßt, da nach allem, was wir von ihm wissen, edle Uneigennützigkeit, reiner Patriotismus, der um die Not des Landes trauert und nichts verlangt, als ihr abhelfen zu können, sicherlich nicht die Eigenschaften sind, welche ihn zieren und bewegen. Thiers, Frank¬ reichs letzter bedeutender Staatsmann, that einst den Ausspruch: „Die Re¬ publik wird konservativ sein, oder sie wird nicht sein," und diese Prophezeiung wird sich aller Wahrscheinlichkeit zufolge jetzt erfüllen, wenn Frankreich im Widerwillen gegen das Hinabgleiten der Negierung in den Radikalismus mit seinen Umsturzabsichten und Vorschlägen eine Diktatur annimmt. Der einzige Ausweg aus dieser Notlage ist augenscheinlich die Rückkehr zu dem republikanischen Konservatismus der Periode von 1871 bis 1879, wo man acht Jahre lang die Kirche, die auch in Frankreich eine Macht ist, welche sich nicht ungestraft bedrücken und mißhandeln läßt, in Ruhe ließ, wo man das Gebiet von der Okkupation befreite, wo der Staat sich erholte und fortschritt, und wo Leute der verschiedensten politischen Bekenntnisse der Republik treue und gute Dienste leisteten. Seit dieser glücklichen Ära haben wir eine Reihe von Ministerien kommen und gehen sehen, die mehr einem Zuge von Schatten- oder Nebel¬ bildern, mehr dem Spiel einer Osiners. obsourg, als einer festen, soliden und fruchtbringenden Verwaltung glich. Die Republik nahm immer mehr einen Charakter an, den man nicht wohl anders als revolutionär bezeichnen darf, bis jetzt, wie an Beispielen gezeigt wurde, der Minister Floquet, der letzte der Radikalen, sich plötzlich in einen maßvollen und gelind konservativen Politiker verwandelt, um die republikanische Staatseinrichtung vor dem Siege eines Bastardbonapartismus zu bewahren, der in einer Kaserne zur Welt gekommen und von den beiden dynastischen Parteien als Kindermuhmen aufgefüttert worden

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/262
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/262>, abgerufen am 01.09.2024.