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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die Verfassungsrevision in Frankreich.

konstitmrenden Versammlung. Er wendet sich also an das französische Volk un¬
mittelbar. Da ist es nun gleich peinlich und gefährlich für die Radikalen, diesen
Vorschlag anzunehmen oder ihn zurückzuweisen. Nehmen sie ihn an, so helfen sie
möglicherweise zu einem Plebiszit, welches die Gewalt auf Jahre hinaus einem
neuen Bonaparte in die Hände legt, einem dritten Cäsar, der bis jetzt nichts
von der Größe des ersten gezeigt hat und dem zweiten bisher mehr nach seiner
lächerlichen als nach seiner ernsten Seite verglichen werden konnte. Weisen sie
den Vorschlag zurück, so laufen sie Gefahr, daß man ihnen vorwirft, sie fürch¬
teten sich, an ihre vielen Sünden denkend, sich ihrer Unfruchtbarkeit als Gesetz¬
geber bewußt, vor dem Fetisch ihres alten Götzendienstes, dem allgemeinen
Wahlrechte. Die gemäßigten Republikaner (Gambettisten, Opportunisten) nehmen
zu der Frage eine natürlichere und bequemere Stellung ein: sie betrachten die
jetzt geltende Verfassung als gut genug für ihre und aller Bedürfnisse und
verbitten sich jede Verschönerung derselben. Es liegt jedoch auf der Hand,
daß unter einem Volke wie unsre Nachbarn im Westen, wo jede Neuerung
große Anziehungskraft hat, Boulanger, der das bisher Giltige beseitigen will, sehr
im Vorteil gegen seine Gegner ist, welche die Verfassung lassen wollen, wie sie
ist. Die letztern haben die unbequeme und zu ihrer Art nicht recht stimmende
Aufgabe, für die Gelegenheit sich eine konservative Miene zuzulegen, eine Gar¬
nitur von feststehenden Grundsätzen, welche Leuten von unruhigem Temperamente,
Leuten, die ihr Leben lang Revolution gepredigt haben und dabei nicht selten
mit Radikalen und selbst mit Anarchisten Hand in Hand gegangen sind, fast
so übel steht wie die Loyalität, die byzantinische Verehrung vor dem Fürsten
und seinem Hofe, die unsre Freisinnigen und nicht minder unsre Ultramontanen
gelegentlich zu bekennen für gut finden. Unzweifelhaft ist es ganz logisch
und naturgemäß, daß überzeugte und verständige Republikaner zur Verteidigung
demokratischer Einrichtungen, die auf das allgemeine Stimmrecht gegründet sind,
konservativ, also Gegner von Neuerungen werden, und in den Vereinigten Staaten
haben wir das ganze Volk des Nordens in Masse aufstehen und sich in Waffen
unter die Fahne reihen sehen, welche die Verteidigung der Verfassung bedeutete.
In Frankreich aber steht es anders. Hier sind die Herzen der Mehrzahl, wie
es scheint, immer mit dem Angreifer, hier umschweben die Begeisterung des
Kampfes und die Aussicht auf Kriegsehren stets mehr die stürmende als die
abwehrende Partei. Die Verteidigung der Sache, handle es sich um einen
Thron, um einen Altar, um eine Verfassung, eine Kammer oder um ein Gesetz,
kommt der öffentlichen Meinung der modernen Gallier als schale, uninteressante
Arbeit vor. Jedenfalls ist die große Menge, die nach der jetzigen Verfassung
und ihrem allgemeinen Stimmrechte den Ausschlag giebt, mit ihrem Beifall
von Anfang an auf der Seite der Belagerer, und die Belagerten erwecken
schwächeren Applaus. General Boulanger hat seine Laufgräben eröffnet und
seine Geschütze spielen lassen. Floquet steht, vermutlich zu seinem großen Ver-


Die Verfassungsrevision in Frankreich.

konstitmrenden Versammlung. Er wendet sich also an das französische Volk un¬
mittelbar. Da ist es nun gleich peinlich und gefährlich für die Radikalen, diesen
Vorschlag anzunehmen oder ihn zurückzuweisen. Nehmen sie ihn an, so helfen sie
möglicherweise zu einem Plebiszit, welches die Gewalt auf Jahre hinaus einem
neuen Bonaparte in die Hände legt, einem dritten Cäsar, der bis jetzt nichts
von der Größe des ersten gezeigt hat und dem zweiten bisher mehr nach seiner
lächerlichen als nach seiner ernsten Seite verglichen werden konnte. Weisen sie
den Vorschlag zurück, so laufen sie Gefahr, daß man ihnen vorwirft, sie fürch¬
teten sich, an ihre vielen Sünden denkend, sich ihrer Unfruchtbarkeit als Gesetz¬
geber bewußt, vor dem Fetisch ihres alten Götzendienstes, dem allgemeinen
Wahlrechte. Die gemäßigten Republikaner (Gambettisten, Opportunisten) nehmen
zu der Frage eine natürlichere und bequemere Stellung ein: sie betrachten die
jetzt geltende Verfassung als gut genug für ihre und aller Bedürfnisse und
verbitten sich jede Verschönerung derselben. Es liegt jedoch auf der Hand,
daß unter einem Volke wie unsre Nachbarn im Westen, wo jede Neuerung
große Anziehungskraft hat, Boulanger, der das bisher Giltige beseitigen will, sehr
im Vorteil gegen seine Gegner ist, welche die Verfassung lassen wollen, wie sie
ist. Die letztern haben die unbequeme und zu ihrer Art nicht recht stimmende
Aufgabe, für die Gelegenheit sich eine konservative Miene zuzulegen, eine Gar¬
nitur von feststehenden Grundsätzen, welche Leuten von unruhigem Temperamente,
Leuten, die ihr Leben lang Revolution gepredigt haben und dabei nicht selten
mit Radikalen und selbst mit Anarchisten Hand in Hand gegangen sind, fast
so übel steht wie die Loyalität, die byzantinische Verehrung vor dem Fürsten
und seinem Hofe, die unsre Freisinnigen und nicht minder unsre Ultramontanen
gelegentlich zu bekennen für gut finden. Unzweifelhaft ist es ganz logisch
und naturgemäß, daß überzeugte und verständige Republikaner zur Verteidigung
demokratischer Einrichtungen, die auf das allgemeine Stimmrecht gegründet sind,
konservativ, also Gegner von Neuerungen werden, und in den Vereinigten Staaten
haben wir das ganze Volk des Nordens in Masse aufstehen und sich in Waffen
unter die Fahne reihen sehen, welche die Verteidigung der Verfassung bedeutete.
In Frankreich aber steht es anders. Hier sind die Herzen der Mehrzahl, wie
es scheint, immer mit dem Angreifer, hier umschweben die Begeisterung des
Kampfes und die Aussicht auf Kriegsehren stets mehr die stürmende als die
abwehrende Partei. Die Verteidigung der Sache, handle es sich um einen
Thron, um einen Altar, um eine Verfassung, eine Kammer oder um ein Gesetz,
kommt der öffentlichen Meinung der modernen Gallier als schale, uninteressante
Arbeit vor. Jedenfalls ist die große Menge, die nach der jetzigen Verfassung
und ihrem allgemeinen Stimmrechte den Ausschlag giebt, mit ihrem Beifall
von Anfang an auf der Seite der Belagerer, und die Belagerten erwecken
schwächeren Applaus. General Boulanger hat seine Laufgräben eröffnet und
seine Geschütze spielen lassen. Floquet steht, vermutlich zu seinem großen Ver-


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[0259] Die Verfassungsrevision in Frankreich. konstitmrenden Versammlung. Er wendet sich also an das französische Volk un¬ mittelbar. Da ist es nun gleich peinlich und gefährlich für die Radikalen, diesen Vorschlag anzunehmen oder ihn zurückzuweisen. Nehmen sie ihn an, so helfen sie möglicherweise zu einem Plebiszit, welches die Gewalt auf Jahre hinaus einem neuen Bonaparte in die Hände legt, einem dritten Cäsar, der bis jetzt nichts von der Größe des ersten gezeigt hat und dem zweiten bisher mehr nach seiner lächerlichen als nach seiner ernsten Seite verglichen werden konnte. Weisen sie den Vorschlag zurück, so laufen sie Gefahr, daß man ihnen vorwirft, sie fürch¬ teten sich, an ihre vielen Sünden denkend, sich ihrer Unfruchtbarkeit als Gesetz¬ geber bewußt, vor dem Fetisch ihres alten Götzendienstes, dem allgemeinen Wahlrechte. Die gemäßigten Republikaner (Gambettisten, Opportunisten) nehmen zu der Frage eine natürlichere und bequemere Stellung ein: sie betrachten die jetzt geltende Verfassung als gut genug für ihre und aller Bedürfnisse und verbitten sich jede Verschönerung derselben. Es liegt jedoch auf der Hand, daß unter einem Volke wie unsre Nachbarn im Westen, wo jede Neuerung große Anziehungskraft hat, Boulanger, der das bisher Giltige beseitigen will, sehr im Vorteil gegen seine Gegner ist, welche die Verfassung lassen wollen, wie sie ist. Die letztern haben die unbequeme und zu ihrer Art nicht recht stimmende Aufgabe, für die Gelegenheit sich eine konservative Miene zuzulegen, eine Gar¬ nitur von feststehenden Grundsätzen, welche Leuten von unruhigem Temperamente, Leuten, die ihr Leben lang Revolution gepredigt haben und dabei nicht selten mit Radikalen und selbst mit Anarchisten Hand in Hand gegangen sind, fast so übel steht wie die Loyalität, die byzantinische Verehrung vor dem Fürsten und seinem Hofe, die unsre Freisinnigen und nicht minder unsre Ultramontanen gelegentlich zu bekennen für gut finden. Unzweifelhaft ist es ganz logisch und naturgemäß, daß überzeugte und verständige Republikaner zur Verteidigung demokratischer Einrichtungen, die auf das allgemeine Stimmrecht gegründet sind, konservativ, also Gegner von Neuerungen werden, und in den Vereinigten Staaten haben wir das ganze Volk des Nordens in Masse aufstehen und sich in Waffen unter die Fahne reihen sehen, welche die Verteidigung der Verfassung bedeutete. In Frankreich aber steht es anders. Hier sind die Herzen der Mehrzahl, wie es scheint, immer mit dem Angreifer, hier umschweben die Begeisterung des Kampfes und die Aussicht auf Kriegsehren stets mehr die stürmende als die abwehrende Partei. Die Verteidigung der Sache, handle es sich um einen Thron, um einen Altar, um eine Verfassung, eine Kammer oder um ein Gesetz, kommt der öffentlichen Meinung der modernen Gallier als schale, uninteressante Arbeit vor. Jedenfalls ist die große Menge, die nach der jetzigen Verfassung und ihrem allgemeinen Stimmrechte den Ausschlag giebt, mit ihrem Beifall von Anfang an auf der Seite der Belagerer, und die Belagerten erwecken schwächeren Applaus. General Boulanger hat seine Laufgräben eröffnet und seine Geschütze spielen lassen. Floquet steht, vermutlich zu seinem großen Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/259>, abgerufen am 01.09.2024.