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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die Verfassungsrevision in Frankreich.

n diesem Sommer läuft die achtzehnjährige Periode ab, welche
die unaufhörlich mit einander wechselnden Regierungsformen in
Frankreich zu leben haben, und immer deutlicher geben sich An¬
zeichen kund, daß auch der "Republik der achtbaren Leute" inner¬
halb dieser Zeitgrenze, wo nicht zu sterben, doch eine wesentliche
Veränderung zu erleiden bestimmt ist. Boulanger hat, indem er, der an sich
kleine Maun, auf die Bank stieg, welche ihm die allgemeine Unzufriedenheit mit
dem Parlamentarismus bot, den Zeiger an der Lebcnsuhr des 187V entstandenen
demokratischen Staates um eine Stunde weiter gerückt, und dieser weist nun¬
mehr, wenn wir recht sehen, schon über elf hinaus. Die allernächste Zeit muß,
zunächst auf dem Wege der Gesetzgebung, wichtige Umgestaltungen bringen. So
wenig auch eine starke Partei in der vor kurzem wieder zusammengetretenen
Wahlkammer daran will, sie wird wahrscheinlich müssen, ja sie und die übrigen
Gruppen stehen bereits im Begriffe, sich über die Verfassungsrevision aus-
zusprechen, und es leidet Wohl keinen Zweifel mehr, daß eine solche beschlossen
werden wird. Nur wie weit man gehen wird, ist noch fraglich.

Werfen wir einen Blick auf die Umstände zurück, unter denen 1875 die
jetzt geltende Konstitution Frankreichs zustande kam. Die Nationalversammlung,
welche sie schuf, setzte sich in ihrer Mehrheit aus Konservativen verschiedner
Farben, genauer gesprochen, aus Reaktionären zusammen, die teils zur legiti-
mistischen, teils zur orlecmistischen, teils zur eäsarischen Monarchie, der Tochter
des Plebiszits, zurück wollten und nur deshalb ihren Willen nicht zur That
werden sahen, weil sie ihre Kräfte dazu nicht vereinigen konnten. Wohl aber
konnten sie sich zu Beschlüssen zusammenfinden, welche die Sache für die Zukunft
zu ermöglichen schienen, und dies geschah denn auch, indem diese im übrigen


Grenzboten II. 1883. 32


Die Verfassungsrevision in Frankreich.

n diesem Sommer läuft die achtzehnjährige Periode ab, welche
die unaufhörlich mit einander wechselnden Regierungsformen in
Frankreich zu leben haben, und immer deutlicher geben sich An¬
zeichen kund, daß auch der „Republik der achtbaren Leute" inner¬
halb dieser Zeitgrenze, wo nicht zu sterben, doch eine wesentliche
Veränderung zu erleiden bestimmt ist. Boulanger hat, indem er, der an sich
kleine Maun, auf die Bank stieg, welche ihm die allgemeine Unzufriedenheit mit
dem Parlamentarismus bot, den Zeiger an der Lebcnsuhr des 187V entstandenen
demokratischen Staates um eine Stunde weiter gerückt, und dieser weist nun¬
mehr, wenn wir recht sehen, schon über elf hinaus. Die allernächste Zeit muß,
zunächst auf dem Wege der Gesetzgebung, wichtige Umgestaltungen bringen. So
wenig auch eine starke Partei in der vor kurzem wieder zusammengetretenen
Wahlkammer daran will, sie wird wahrscheinlich müssen, ja sie und die übrigen
Gruppen stehen bereits im Begriffe, sich über die Verfassungsrevision aus-
zusprechen, und es leidet Wohl keinen Zweifel mehr, daß eine solche beschlossen
werden wird. Nur wie weit man gehen wird, ist noch fraglich.

Werfen wir einen Blick auf die Umstände zurück, unter denen 1875 die
jetzt geltende Konstitution Frankreichs zustande kam. Die Nationalversammlung,
welche sie schuf, setzte sich in ihrer Mehrheit aus Konservativen verschiedner
Farben, genauer gesprochen, aus Reaktionären zusammen, die teils zur legiti-
mistischen, teils zur orlecmistischen, teils zur eäsarischen Monarchie, der Tochter
des Plebiszits, zurück wollten und nur deshalb ihren Willen nicht zur That
werden sahen, weil sie ihre Kräfte dazu nicht vereinigen konnten. Wohl aber
konnten sie sich zu Beschlüssen zusammenfinden, welche die Sache für die Zukunft
zu ermöglichen schienen, und dies geschah denn auch, indem diese im übrigen


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[0257] [Abbildung] Die Verfassungsrevision in Frankreich. n diesem Sommer läuft die achtzehnjährige Periode ab, welche die unaufhörlich mit einander wechselnden Regierungsformen in Frankreich zu leben haben, und immer deutlicher geben sich An¬ zeichen kund, daß auch der „Republik der achtbaren Leute" inner¬ halb dieser Zeitgrenze, wo nicht zu sterben, doch eine wesentliche Veränderung zu erleiden bestimmt ist. Boulanger hat, indem er, der an sich kleine Maun, auf die Bank stieg, welche ihm die allgemeine Unzufriedenheit mit dem Parlamentarismus bot, den Zeiger an der Lebcnsuhr des 187V entstandenen demokratischen Staates um eine Stunde weiter gerückt, und dieser weist nun¬ mehr, wenn wir recht sehen, schon über elf hinaus. Die allernächste Zeit muß, zunächst auf dem Wege der Gesetzgebung, wichtige Umgestaltungen bringen. So wenig auch eine starke Partei in der vor kurzem wieder zusammengetretenen Wahlkammer daran will, sie wird wahrscheinlich müssen, ja sie und die übrigen Gruppen stehen bereits im Begriffe, sich über die Verfassungsrevision aus- zusprechen, und es leidet Wohl keinen Zweifel mehr, daß eine solche beschlossen werden wird. Nur wie weit man gehen wird, ist noch fraglich. Werfen wir einen Blick auf die Umstände zurück, unter denen 1875 die jetzt geltende Konstitution Frankreichs zustande kam. Die Nationalversammlung, welche sie schuf, setzte sich in ihrer Mehrheit aus Konservativen verschiedner Farben, genauer gesprochen, aus Reaktionären zusammen, die teils zur legiti- mistischen, teils zur orlecmistischen, teils zur eäsarischen Monarchie, der Tochter des Plebiszits, zurück wollten und nur deshalb ihren Willen nicht zur That werden sahen, weil sie ihre Kräfte dazu nicht vereinigen konnten. Wohl aber konnten sie sich zu Beschlüssen zusammenfinden, welche die Sache für die Zukunft zu ermöglichen schienen, und dies geschah denn auch, indem diese im übrigen Grenzboten II. 1883. 32

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/257>, abgerufen am 13.11.2024.