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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Ricks Lyhiie,

Es war im Mai, als das Ende kam, ein Tag voller Wonne, einer von
jenen Tagen, an denen die Lerche nimmer schweigt, an denen der Roggen so
rasch wächst, daß man es mit den Augen sehen kann. Draußen vor ihrem
Fenster standen die großen, blütenweißen Kirschbäume. Sträuße aus Schnee,
Kränze aus Schnee, Kuppeln, Bogen, Guirlanden, eine Feenarchitektur aus
Weißen Blüten und dazu als Hintergrund der tiefblaue Himmel.

Sie fühlte sich an jenem Tage so matt, und doch so leicht in ihrer
Mattigkeit, so wunderbar leicht, und sie wußte, was da kommen würde, denn
am Vormittag hatte sie Bigum rufen lassen und hatte Abschied von ihm ge¬
nommen.

Der Etatsrat war aus Kopenhagen herüber gekommen, und den ganzen
Nachmittag saß der schöne, weißhaarige Mann an ihrem Bett, ihre Hand in
der seinen haltend. Er sprach nicht, nur hin und wieder bewegte er die Hand,
dann drückte Edcle sie leise, und dann blickte sie zu ihm auf, und er lächelte
ihr zu. Ihr Bruder blieb auch die ganze Zeit über bei ihr, reichte ihr die
Arznei und war auch sonst im Krankenzimmer behilflich.

Sie lag so still mit geschlossenen Augen da, und heimische Bilder aus dem
Leben da drüben zogen an ihr vorüber: Sorgeufris hängende Buchen, Lyngbys
rote Kirche ans ihrem Sockel ans Gräbern, lind das weiße Landhaus an dem
kleinen Hohlweg unten am See, wo das Plankenwerk stets grün war, als habe
die Feuchtigkeit es angemalt -- das alles spiegelte sich vor ihrem geistigen
Auge ab, nahm zu an Klarheit, nahm ab an Klarheit und verschwand wieder.
Und andre Bilder folgten: da war die Bredgade, wenn die Sonne unterging
und das Dunkel langsam an den Häusern heraufzog, und da war das
wunderliche Kopenhagen, das man vorfand, wenn man eines Vormittags im
Sommer von dem Lande hereinkam. Es schien so phantastisch in seinem ge¬
schäftigen Treiben und seinem Sonnenschein, mit seinen weißgekalkten Fenster¬
scheiben und seinem Obstduft in den Straßen; die Häuser sahen so unwirklich
aus in dem grellen Licht, und es war, als läge ein tiefes Schweigen über
ihnen, das selbst der Lärm und das Wagengerassel nicht vertreiben konnten.
Und dann war da dieses warme, dunkle Wohnzimmer an den Herbstabenden,
wenn man sich zum Theater angekleidet hatte und die andern noch nicht fertig
waren, der Duft der Räucherkerzchen, das Kaminfeuer, das hell über den
Teppich hinflackerte, das Klatschen der Regentropfen gegen die Fenster¬
scheiben, die Pferde, die ungeduldig im Thorweg scharrten, der melancholische
Ruf der Muschelverkäufer da unter auf der Straße, und ahnungsvoll hinter
dem Ganzen das Lichtmeer des Theaters, die Musik, die Pracht!

Unter solchen Bildern verstrich der Nachmittag.

Drinnen im Saal waren Ricks und seine Mutter. Ricks lag vor dem
Sofa auf den Knieen, er hatte fein Antlitz tief in den braunen Samt ver¬
graben und die Hände über dem Scheitel gefaltet; er weinte laut und schmerzlich,


Ricks Lyhiie,

Es war im Mai, als das Ende kam, ein Tag voller Wonne, einer von
jenen Tagen, an denen die Lerche nimmer schweigt, an denen der Roggen so
rasch wächst, daß man es mit den Augen sehen kann. Draußen vor ihrem
Fenster standen die großen, blütenweißen Kirschbäume. Sträuße aus Schnee,
Kränze aus Schnee, Kuppeln, Bogen, Guirlanden, eine Feenarchitektur aus
Weißen Blüten und dazu als Hintergrund der tiefblaue Himmel.

Sie fühlte sich an jenem Tage so matt, und doch so leicht in ihrer
Mattigkeit, so wunderbar leicht, und sie wußte, was da kommen würde, denn
am Vormittag hatte sie Bigum rufen lassen und hatte Abschied von ihm ge¬
nommen.

Der Etatsrat war aus Kopenhagen herüber gekommen, und den ganzen
Nachmittag saß der schöne, weißhaarige Mann an ihrem Bett, ihre Hand in
der seinen haltend. Er sprach nicht, nur hin und wieder bewegte er die Hand,
dann drückte Edcle sie leise, und dann blickte sie zu ihm auf, und er lächelte
ihr zu. Ihr Bruder blieb auch die ganze Zeit über bei ihr, reichte ihr die
Arznei und war auch sonst im Krankenzimmer behilflich.

Sie lag so still mit geschlossenen Augen da, und heimische Bilder aus dem
Leben da drüben zogen an ihr vorüber: Sorgeufris hängende Buchen, Lyngbys
rote Kirche ans ihrem Sockel ans Gräbern, lind das weiße Landhaus an dem
kleinen Hohlweg unten am See, wo das Plankenwerk stets grün war, als habe
die Feuchtigkeit es angemalt — das alles spiegelte sich vor ihrem geistigen
Auge ab, nahm zu an Klarheit, nahm ab an Klarheit und verschwand wieder.
Und andre Bilder folgten: da war die Bredgade, wenn die Sonne unterging
und das Dunkel langsam an den Häusern heraufzog, und da war das
wunderliche Kopenhagen, das man vorfand, wenn man eines Vormittags im
Sommer von dem Lande hereinkam. Es schien so phantastisch in seinem ge¬
schäftigen Treiben und seinem Sonnenschein, mit seinen weißgekalkten Fenster¬
scheiben und seinem Obstduft in den Straßen; die Häuser sahen so unwirklich
aus in dem grellen Licht, und es war, als läge ein tiefes Schweigen über
ihnen, das selbst der Lärm und das Wagengerassel nicht vertreiben konnten.
Und dann war da dieses warme, dunkle Wohnzimmer an den Herbstabenden,
wenn man sich zum Theater angekleidet hatte und die andern noch nicht fertig
waren, der Duft der Räucherkerzchen, das Kaminfeuer, das hell über den
Teppich hinflackerte, das Klatschen der Regentropfen gegen die Fenster¬
scheiben, die Pferde, die ungeduldig im Thorweg scharrten, der melancholische
Ruf der Muschelverkäufer da unter auf der Straße, und ahnungsvoll hinter
dem Ganzen das Lichtmeer des Theaters, die Musik, die Pracht!

Unter solchen Bildern verstrich der Nachmittag.

Drinnen im Saal waren Ricks und seine Mutter. Ricks lag vor dem
Sofa auf den Knieen, er hatte fein Antlitz tief in den braunen Samt ver¬
graben und die Hände über dem Scheitel gefaltet; er weinte laut und schmerzlich,


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[0247] Ricks Lyhiie, Es war im Mai, als das Ende kam, ein Tag voller Wonne, einer von jenen Tagen, an denen die Lerche nimmer schweigt, an denen der Roggen so rasch wächst, daß man es mit den Augen sehen kann. Draußen vor ihrem Fenster standen die großen, blütenweißen Kirschbäume. Sträuße aus Schnee, Kränze aus Schnee, Kuppeln, Bogen, Guirlanden, eine Feenarchitektur aus Weißen Blüten und dazu als Hintergrund der tiefblaue Himmel. Sie fühlte sich an jenem Tage so matt, und doch so leicht in ihrer Mattigkeit, so wunderbar leicht, und sie wußte, was da kommen würde, denn am Vormittag hatte sie Bigum rufen lassen und hatte Abschied von ihm ge¬ nommen. Der Etatsrat war aus Kopenhagen herüber gekommen, und den ganzen Nachmittag saß der schöne, weißhaarige Mann an ihrem Bett, ihre Hand in der seinen haltend. Er sprach nicht, nur hin und wieder bewegte er die Hand, dann drückte Edcle sie leise, und dann blickte sie zu ihm auf, und er lächelte ihr zu. Ihr Bruder blieb auch die ganze Zeit über bei ihr, reichte ihr die Arznei und war auch sonst im Krankenzimmer behilflich. Sie lag so still mit geschlossenen Augen da, und heimische Bilder aus dem Leben da drüben zogen an ihr vorüber: Sorgeufris hängende Buchen, Lyngbys rote Kirche ans ihrem Sockel ans Gräbern, lind das weiße Landhaus an dem kleinen Hohlweg unten am See, wo das Plankenwerk stets grün war, als habe die Feuchtigkeit es angemalt — das alles spiegelte sich vor ihrem geistigen Auge ab, nahm zu an Klarheit, nahm ab an Klarheit und verschwand wieder. Und andre Bilder folgten: da war die Bredgade, wenn die Sonne unterging und das Dunkel langsam an den Häusern heraufzog, und da war das wunderliche Kopenhagen, das man vorfand, wenn man eines Vormittags im Sommer von dem Lande hereinkam. Es schien so phantastisch in seinem ge¬ schäftigen Treiben und seinem Sonnenschein, mit seinen weißgekalkten Fenster¬ scheiben und seinem Obstduft in den Straßen; die Häuser sahen so unwirklich aus in dem grellen Licht, und es war, als läge ein tiefes Schweigen über ihnen, das selbst der Lärm und das Wagengerassel nicht vertreiben konnten. Und dann war da dieses warme, dunkle Wohnzimmer an den Herbstabenden, wenn man sich zum Theater angekleidet hatte und die andern noch nicht fertig waren, der Duft der Räucherkerzchen, das Kaminfeuer, das hell über den Teppich hinflackerte, das Klatschen der Regentropfen gegen die Fenster¬ scheiben, die Pferde, die ungeduldig im Thorweg scharrten, der melancholische Ruf der Muschelverkäufer da unter auf der Straße, und ahnungsvoll hinter dem Ganzen das Lichtmeer des Theaters, die Musik, die Pracht! Unter solchen Bildern verstrich der Nachmittag. Drinnen im Saal waren Ricks und seine Mutter. Ricks lag vor dem Sofa auf den Knieen, er hatte fein Antlitz tief in den braunen Samt ver¬ graben und die Hände über dem Scheitel gefaltet; er weinte laut und schmerzlich,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/247>, abgerufen am 01.09.2024.