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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Gegen den Strom.

Alles das ist leider nicht immer sehr originell, und auch die Form weist,
wenn wir von dem Dialog Schwarzkopfs "Nach der Schablone" absehen, nicht
jene gedrängte und schlagende Dialektik auf, welche die Flugschrift, wenn sie
wirken soll, verlangt. Es liegt Stoff für einige gute Feuilletons in diesen
Aphorismen, das geben wir zu, aber die Gestalt, in der sie hier auftreten, ist
doch zu anspruchsvoll und man wird schließlich alle diese Hefte, obwohl sie viel
Wahres enthalten, mit einiger Enttäuschung aus der Hand legen. Mitunter
verfallen auch die Verfasser in den Ton eines grämlichen Rüsonnirens.

Bedeutender sind die zwei Hefte, welche sich ausschließlich mit österreichischen
Zuständen beschäftigen: "Nur nicht österreichisch" von Jlg und -- besonders --
"Das gemütliche Wien" von Karlwciß. Diese letztere Schrift, welche das be¬
zeichnende Motto trägt: "Wo viel Licht ist, ist starker Schatten," soll uns hier
zunächst beschäftigen, sie enthält unsrer Meinung uach das Beste, was über
Wien und die Wiener seit langem gesagt worden ist.

Karlweiß giebt zunächst eine Art von Geschichte der vielberufenen Wiener
"Gemütlichkeit." Schon im sechzehnten Jahrhundert wird sie gerühmt und --
gescholten. Wie sie zu erklären ist, darauf geht der Verfasser freilich nicht ein,
er glaubt nur aus den alten Zeugnissen, die über Wienerisches Wesen erhalten
sind, schließen zu dürfen, daß sie ursprünglich "nur eine leichte, gefüllige Art
des Verkehrs, eine durch die geographische Lage, die kulturelle (schönes Wort!)
und einst auch politische Bedeutung der Stadt bedingte (soll wohl heißen:
verursachte, bewirkte) liebenswürdige Freiheit der Umgangsformen, verbunden
mit südlicher Lebhaftigkeit und dem nicht minder südlichen Hange zu einer früh¬
lichen Auffassung des Lebens" gewesen sei. Die Frage ist nun, ob die Ge¬
mütlichkeit unverändert dieselbe geblieben ist. Hierauf kann die Antwort nicht
unbedingt bejahend lauten, ja man kann heute einerseits von einer Entartung,
anderseits aber auch von einer Veredlung derselben sprechen. Von einer
Veredlung insofern, als Wien doch nicht mehr ein "Capua der Geister" ist,
wie es noch Grillparzer in einer seiner unmutvollen Stunden nannte. Die
Ungunst der Zeiten hat die Sinnesart der Bevölkerung in allen Schichten
vertieft und ein blindes Jndentaghineinlebeu ist heute nicht mehr die Regel,
sondern die Ausnahme. Aber freilich: was der Wiener Charakter in dieser
Beziehung gewonnen hat, hat er in andrer wieder verloren. Zunächst macht der
Verfasser -- und wir können nicht sagen mit Unrecht -- dem modernen
Wicnertum den Vorwurf einer "schier instinktiven Scheu vor jeder energischen
Initiative, auch dort, wo sie zu seiner Selbsterhaltung erforderlich wäre," eine
allzu große Duldsamkeit, die "ein Auflodern gerechten männlichen Zornes, ein
Aufbäumen des beleidigten Nationalbewußtseins statt in rascher That nur im
behenden Witzwort kennt." Dazu kommt sehr häufig eine gewisse mürrische
Resignation -- das sogenannte "Raunzen" --, die nicht einer von Haus aus
trüben Auffassung des Lebens und seiner Verhältnisse, sondern nur der Ab-


Gvenzl'vier II. 1888. M
Gegen den Strom.

Alles das ist leider nicht immer sehr originell, und auch die Form weist,
wenn wir von dem Dialog Schwarzkopfs „Nach der Schablone" absehen, nicht
jene gedrängte und schlagende Dialektik auf, welche die Flugschrift, wenn sie
wirken soll, verlangt. Es liegt Stoff für einige gute Feuilletons in diesen
Aphorismen, das geben wir zu, aber die Gestalt, in der sie hier auftreten, ist
doch zu anspruchsvoll und man wird schließlich alle diese Hefte, obwohl sie viel
Wahres enthalten, mit einiger Enttäuschung aus der Hand legen. Mitunter
verfallen auch die Verfasser in den Ton eines grämlichen Rüsonnirens.

Bedeutender sind die zwei Hefte, welche sich ausschließlich mit österreichischen
Zuständen beschäftigen: „Nur nicht österreichisch" von Jlg und — besonders —
„Das gemütliche Wien" von Karlwciß. Diese letztere Schrift, welche das be¬
zeichnende Motto trägt: „Wo viel Licht ist, ist starker Schatten," soll uns hier
zunächst beschäftigen, sie enthält unsrer Meinung uach das Beste, was über
Wien und die Wiener seit langem gesagt worden ist.

Karlweiß giebt zunächst eine Art von Geschichte der vielberufenen Wiener
„Gemütlichkeit." Schon im sechzehnten Jahrhundert wird sie gerühmt und —
gescholten. Wie sie zu erklären ist, darauf geht der Verfasser freilich nicht ein,
er glaubt nur aus den alten Zeugnissen, die über Wienerisches Wesen erhalten
sind, schließen zu dürfen, daß sie ursprünglich „nur eine leichte, gefüllige Art
des Verkehrs, eine durch die geographische Lage, die kulturelle (schönes Wort!)
und einst auch politische Bedeutung der Stadt bedingte (soll wohl heißen:
verursachte, bewirkte) liebenswürdige Freiheit der Umgangsformen, verbunden
mit südlicher Lebhaftigkeit und dem nicht minder südlichen Hange zu einer früh¬
lichen Auffassung des Lebens" gewesen sei. Die Frage ist nun, ob die Ge¬
mütlichkeit unverändert dieselbe geblieben ist. Hierauf kann die Antwort nicht
unbedingt bejahend lauten, ja man kann heute einerseits von einer Entartung,
anderseits aber auch von einer Veredlung derselben sprechen. Von einer
Veredlung insofern, als Wien doch nicht mehr ein „Capua der Geister" ist,
wie es noch Grillparzer in einer seiner unmutvollen Stunden nannte. Die
Ungunst der Zeiten hat die Sinnesart der Bevölkerung in allen Schichten
vertieft und ein blindes Jndentaghineinlebeu ist heute nicht mehr die Regel,
sondern die Ausnahme. Aber freilich: was der Wiener Charakter in dieser
Beziehung gewonnen hat, hat er in andrer wieder verloren. Zunächst macht der
Verfasser — und wir können nicht sagen mit Unrecht — dem modernen
Wicnertum den Vorwurf einer „schier instinktiven Scheu vor jeder energischen
Initiative, auch dort, wo sie zu seiner Selbsterhaltung erforderlich wäre," eine
allzu große Duldsamkeit, die „ein Auflodern gerechten männlichen Zornes, ein
Aufbäumen des beleidigten Nationalbewußtseins statt in rascher That nur im
behenden Witzwort kennt." Dazu kommt sehr häufig eine gewisse mürrische
Resignation — das sogenannte „Raunzen" —, die nicht einer von Haus aus
trüben Auffassung des Lebens und seiner Verhältnisse, sondern nur der Ab-


Gvenzl'vier II. 1888. M
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[0241] Gegen den Strom. Alles das ist leider nicht immer sehr originell, und auch die Form weist, wenn wir von dem Dialog Schwarzkopfs „Nach der Schablone" absehen, nicht jene gedrängte und schlagende Dialektik auf, welche die Flugschrift, wenn sie wirken soll, verlangt. Es liegt Stoff für einige gute Feuilletons in diesen Aphorismen, das geben wir zu, aber die Gestalt, in der sie hier auftreten, ist doch zu anspruchsvoll und man wird schließlich alle diese Hefte, obwohl sie viel Wahres enthalten, mit einiger Enttäuschung aus der Hand legen. Mitunter verfallen auch die Verfasser in den Ton eines grämlichen Rüsonnirens. Bedeutender sind die zwei Hefte, welche sich ausschließlich mit österreichischen Zuständen beschäftigen: „Nur nicht österreichisch" von Jlg und — besonders — „Das gemütliche Wien" von Karlwciß. Diese letztere Schrift, welche das be¬ zeichnende Motto trägt: „Wo viel Licht ist, ist starker Schatten," soll uns hier zunächst beschäftigen, sie enthält unsrer Meinung uach das Beste, was über Wien und die Wiener seit langem gesagt worden ist. Karlweiß giebt zunächst eine Art von Geschichte der vielberufenen Wiener „Gemütlichkeit." Schon im sechzehnten Jahrhundert wird sie gerühmt und — gescholten. Wie sie zu erklären ist, darauf geht der Verfasser freilich nicht ein, er glaubt nur aus den alten Zeugnissen, die über Wienerisches Wesen erhalten sind, schließen zu dürfen, daß sie ursprünglich „nur eine leichte, gefüllige Art des Verkehrs, eine durch die geographische Lage, die kulturelle (schönes Wort!) und einst auch politische Bedeutung der Stadt bedingte (soll wohl heißen: verursachte, bewirkte) liebenswürdige Freiheit der Umgangsformen, verbunden mit südlicher Lebhaftigkeit und dem nicht minder südlichen Hange zu einer früh¬ lichen Auffassung des Lebens" gewesen sei. Die Frage ist nun, ob die Ge¬ mütlichkeit unverändert dieselbe geblieben ist. Hierauf kann die Antwort nicht unbedingt bejahend lauten, ja man kann heute einerseits von einer Entartung, anderseits aber auch von einer Veredlung derselben sprechen. Von einer Veredlung insofern, als Wien doch nicht mehr ein „Capua der Geister" ist, wie es noch Grillparzer in einer seiner unmutvollen Stunden nannte. Die Ungunst der Zeiten hat die Sinnesart der Bevölkerung in allen Schichten vertieft und ein blindes Jndentaghineinlebeu ist heute nicht mehr die Regel, sondern die Ausnahme. Aber freilich: was der Wiener Charakter in dieser Beziehung gewonnen hat, hat er in andrer wieder verloren. Zunächst macht der Verfasser — und wir können nicht sagen mit Unrecht — dem modernen Wicnertum den Vorwurf einer „schier instinktiven Scheu vor jeder energischen Initiative, auch dort, wo sie zu seiner Selbsterhaltung erforderlich wäre," eine allzu große Duldsamkeit, die „ein Auflodern gerechten männlichen Zornes, ein Aufbäumen des beleidigten Nationalbewußtseins statt in rascher That nur im behenden Witzwort kennt." Dazu kommt sehr häufig eine gewisse mürrische Resignation — das sogenannte „Raunzen" —, die nicht einer von Haus aus trüben Auffassung des Lebens und seiner Verhältnisse, sondern nur der Ab- Gvenzl'vier II. 1888. M

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/241>, abgerufen am 01.09.2024.