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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Neue Romane.

sich Kenntnisse anzueignen, die ihr eine bessere pekuniäre Stellung verschaffen
können, als es die einer Maschinennäherin ist. Aber trotzdem geht sie unter,
findet keine angemessene Beschäftigung, muß sich als Krankenwärterin im Irren¬
hause das armseligste Brot erwerben, und schließlich bringt sie sich ans Ver¬
zweiflung um. Tragen an diesem Selbstmord, der die heutige Gesellschaft aufs
heftigste anklagen soll, wirklich nur ihre gemeinen Vorurteile, ihre rücksichts¬
lose Selbstsucht die Schuld? Nein! Hier zeigen sich die Sophismen des Er¬
zählers. Grete stirbt nicht an dem gesellschaftlichen Übel, sondern an ge¬
brochenem Herzen, an einer hoffnungslosen Liebe. Sie liebt jenen Wohlthäter,
der sie aus dem Elternhause -- einer wahren Hölle -- befreit hat, allem er
ist ein junger, schöner, gutmütiger Grafensohn und Erbe von Millionen, der
sie niemals heiraten wird. Wie, wenn Grete sich in einen andern Wohlthäter
verliebt hätte? oder wie, wenn sie zwar tief dankbar geworden wäre, ohne als
Weib tief zu lieben? Damit fällt natürlich das Kartenhaus der Lindcmschcn
Anklage zusammen, und er erzählt uns eine so simple und alltägliche Liebes¬
geschichte wie tausend andre mittelmäßige Romanschreiber.

Dennoch ist ja viel, leider sehr viel Wahrheit in seinen Schilderungen
großstädtischen Elends. Er hat sie durch eine interessante Kontrastsignr zu
Margarete ergänzt. Regime von Sellnitz ist auch ein armes Mädchen, muß auch
arbeiten, um Geld zu verdienen, allein sie ist nicht die Tochter eines Prole¬
tariers, sondern eines bei Königgrätz gefallenen Offizieres. Es wird sogar an¬
gedeutet, daß Regime und Grete Schwestern durch denselben Vater waren.
Allein so wie der Proletarierin der böse Anhang der Familie immer und überall
unheilvoll über den Weg läuft, so kommen der Offizierstochtcr alle guten Vor¬
urteile und Bevorzugungen ihres Standes zu gute. Regime ist nicht um ein
Haar besser als die Mädchen aus dem Volke, ja sie ist Greten nicht entfernt
sittlich gleichzustellen; Regime hat sogar ihre Unschuld in einem tollen Augen¬
blicke dahingegeben, dennoch macht sie Karriere. Nicht Grete, sondern Regime
erhält die vornehme Stellung einer Gesellschafterin der Gräfinmutter, und Lindau
treibt seinen Hohn auf die Spitze, indem er, obgleich die Gräfin genau um
das Vergehen des Mädchens weiß, Regimen mit eben jenem jungen Grafen ver¬
mählt, um deswillen Grete sich ins Wasser geworfen hat. Natürlich ist diese
Handlung, gemessen an unsrer Wirklichkeit, so unwahr wie die erstere. Aber
des Kontrastes wegen und um die Macht der gesellschaftlichen Vorurteile zu
beleuchten, sind beide Handlungen so sehr auf die Spitze getrieben. Ihre Wir¬
kung schlüge daher in das Gegenteil der Absicht Lindaus um. Man sagt sich:
allerdings besteht viel Elend in der Welt, es ist sehr zu wünschen, daß die
Menschen alle für ihre Arbeit so viel Lohn erhielten, daß sie wenigstens leben
könnten, denn jeder Geborene hat das Recht zu leben, und es ist eines unsrer
Ideale, daß ihm dies nicht verkümmert werde. Allein die Unterschiede der
Stande und ihre Vorurteile werden so lange bestehen, als es überhaupt eine


Neue Romane.

sich Kenntnisse anzueignen, die ihr eine bessere pekuniäre Stellung verschaffen
können, als es die einer Maschinennäherin ist. Aber trotzdem geht sie unter,
findet keine angemessene Beschäftigung, muß sich als Krankenwärterin im Irren¬
hause das armseligste Brot erwerben, und schließlich bringt sie sich ans Ver¬
zweiflung um. Tragen an diesem Selbstmord, der die heutige Gesellschaft aufs
heftigste anklagen soll, wirklich nur ihre gemeinen Vorurteile, ihre rücksichts¬
lose Selbstsucht die Schuld? Nein! Hier zeigen sich die Sophismen des Er¬
zählers. Grete stirbt nicht an dem gesellschaftlichen Übel, sondern an ge¬
brochenem Herzen, an einer hoffnungslosen Liebe. Sie liebt jenen Wohlthäter,
der sie aus dem Elternhause — einer wahren Hölle — befreit hat, allem er
ist ein junger, schöner, gutmütiger Grafensohn und Erbe von Millionen, der
sie niemals heiraten wird. Wie, wenn Grete sich in einen andern Wohlthäter
verliebt hätte? oder wie, wenn sie zwar tief dankbar geworden wäre, ohne als
Weib tief zu lieben? Damit fällt natürlich das Kartenhaus der Lindcmschcn
Anklage zusammen, und er erzählt uns eine so simple und alltägliche Liebes¬
geschichte wie tausend andre mittelmäßige Romanschreiber.

Dennoch ist ja viel, leider sehr viel Wahrheit in seinen Schilderungen
großstädtischen Elends. Er hat sie durch eine interessante Kontrastsignr zu
Margarete ergänzt. Regime von Sellnitz ist auch ein armes Mädchen, muß auch
arbeiten, um Geld zu verdienen, allein sie ist nicht die Tochter eines Prole¬
tariers, sondern eines bei Königgrätz gefallenen Offizieres. Es wird sogar an¬
gedeutet, daß Regime und Grete Schwestern durch denselben Vater waren.
Allein so wie der Proletarierin der böse Anhang der Familie immer und überall
unheilvoll über den Weg läuft, so kommen der Offizierstochtcr alle guten Vor¬
urteile und Bevorzugungen ihres Standes zu gute. Regime ist nicht um ein
Haar besser als die Mädchen aus dem Volke, ja sie ist Greten nicht entfernt
sittlich gleichzustellen; Regime hat sogar ihre Unschuld in einem tollen Augen¬
blicke dahingegeben, dennoch macht sie Karriere. Nicht Grete, sondern Regime
erhält die vornehme Stellung einer Gesellschafterin der Gräfinmutter, und Lindau
treibt seinen Hohn auf die Spitze, indem er, obgleich die Gräfin genau um
das Vergehen des Mädchens weiß, Regimen mit eben jenem jungen Grafen ver¬
mählt, um deswillen Grete sich ins Wasser geworfen hat. Natürlich ist diese
Handlung, gemessen an unsrer Wirklichkeit, so unwahr wie die erstere. Aber
des Kontrastes wegen und um die Macht der gesellschaftlichen Vorurteile zu
beleuchten, sind beide Handlungen so sehr auf die Spitze getrieben. Ihre Wir¬
kung schlüge daher in das Gegenteil der Absicht Lindaus um. Man sagt sich:
allerdings besteht viel Elend in der Welt, es ist sehr zu wünschen, daß die
Menschen alle für ihre Arbeit so viel Lohn erhielten, daß sie wenigstens leben
könnten, denn jeder Geborene hat das Recht zu leben, und es ist eines unsrer
Ideale, daß ihm dies nicht verkümmert werde. Allein die Unterschiede der
Stande und ihre Vorurteile werden so lange bestehen, als es überhaupt eine


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[0239] Neue Romane. sich Kenntnisse anzueignen, die ihr eine bessere pekuniäre Stellung verschaffen können, als es die einer Maschinennäherin ist. Aber trotzdem geht sie unter, findet keine angemessene Beschäftigung, muß sich als Krankenwärterin im Irren¬ hause das armseligste Brot erwerben, und schließlich bringt sie sich ans Ver¬ zweiflung um. Tragen an diesem Selbstmord, der die heutige Gesellschaft aufs heftigste anklagen soll, wirklich nur ihre gemeinen Vorurteile, ihre rücksichts¬ lose Selbstsucht die Schuld? Nein! Hier zeigen sich die Sophismen des Er¬ zählers. Grete stirbt nicht an dem gesellschaftlichen Übel, sondern an ge¬ brochenem Herzen, an einer hoffnungslosen Liebe. Sie liebt jenen Wohlthäter, der sie aus dem Elternhause — einer wahren Hölle — befreit hat, allem er ist ein junger, schöner, gutmütiger Grafensohn und Erbe von Millionen, der sie niemals heiraten wird. Wie, wenn Grete sich in einen andern Wohlthäter verliebt hätte? oder wie, wenn sie zwar tief dankbar geworden wäre, ohne als Weib tief zu lieben? Damit fällt natürlich das Kartenhaus der Lindcmschcn Anklage zusammen, und er erzählt uns eine so simple und alltägliche Liebes¬ geschichte wie tausend andre mittelmäßige Romanschreiber. Dennoch ist ja viel, leider sehr viel Wahrheit in seinen Schilderungen großstädtischen Elends. Er hat sie durch eine interessante Kontrastsignr zu Margarete ergänzt. Regime von Sellnitz ist auch ein armes Mädchen, muß auch arbeiten, um Geld zu verdienen, allein sie ist nicht die Tochter eines Prole¬ tariers, sondern eines bei Königgrätz gefallenen Offizieres. Es wird sogar an¬ gedeutet, daß Regime und Grete Schwestern durch denselben Vater waren. Allein so wie der Proletarierin der böse Anhang der Familie immer und überall unheilvoll über den Weg läuft, so kommen der Offizierstochtcr alle guten Vor¬ urteile und Bevorzugungen ihres Standes zu gute. Regime ist nicht um ein Haar besser als die Mädchen aus dem Volke, ja sie ist Greten nicht entfernt sittlich gleichzustellen; Regime hat sogar ihre Unschuld in einem tollen Augen¬ blicke dahingegeben, dennoch macht sie Karriere. Nicht Grete, sondern Regime erhält die vornehme Stellung einer Gesellschafterin der Gräfinmutter, und Lindau treibt seinen Hohn auf die Spitze, indem er, obgleich die Gräfin genau um das Vergehen des Mädchens weiß, Regimen mit eben jenem jungen Grafen ver¬ mählt, um deswillen Grete sich ins Wasser geworfen hat. Natürlich ist diese Handlung, gemessen an unsrer Wirklichkeit, so unwahr wie die erstere. Aber des Kontrastes wegen und um die Macht der gesellschaftlichen Vorurteile zu beleuchten, sind beide Handlungen so sehr auf die Spitze getrieben. Ihre Wir¬ kung schlüge daher in das Gegenteil der Absicht Lindaus um. Man sagt sich: allerdings besteht viel Elend in der Welt, es ist sehr zu wünschen, daß die Menschen alle für ihre Arbeit so viel Lohn erhielten, daß sie wenigstens leben könnten, denn jeder Geborene hat das Recht zu leben, und es ist eines unsrer Ideale, daß ihm dies nicht verkümmert werde. Allein die Unterschiede der Stande und ihre Vorurteile werden so lange bestehen, als es überhaupt eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/239>, abgerufen am 27.07.2024.