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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Neue Romane.

ist; wir kennen und studiren die Gesetze der Vererbung, wir türmen die Schranken
der Nasseneigenschaften auf, wir individualisiren die Menschheit bis auf den
Einzelnen herab ganz im Gegensatz zum achtzehnten Jahrhundert, welches nach
der metaphysischen Natur und Einheit des menschlichen Geschlechtes forschte und
diese enthusiastisch erkannte. Das Wort "Mensch" war für jene Zeit ein heiliges
Wort, für die unsre ist es nur ein kalter Begriff, den wir mit vielen positiven
Merkmalen erfüllen müssen. Und beide Seiten unsers Lebens, die betrachtende
wie die Handelnde, haben den ausschließlichen Kultus der nationalen Idee gefördert.
Die Wissenschaften der Geschichte, der Philologie und Anthropologie haben
nationale Gesichtspunkte verfolgt, und einzelne Philologen haben sich sogar
mit dem widersinnigen Plane einer nationalen Ethik getragen. Als ob eine
Moral, die nur für eine bestimmte Art von Menschen gilt, moralisch wäre!
Daß vor allem die eiserne Not der Zeit uns gezwungen hat, die nationale Idee
über alles zu stellen, das braucht nicht erst gesagt zu werden. Und doch fühlen
wir, daß der Kultus der Nationalität nicht der höchste ist und nicht der reinste,
dem sich die Völker ergeben dürfen. Wir fühlen alle, daß nur die unaufgelösten
Spannungen der politischen Lage der Welt uns zu dieser entschlossenen Ein¬
seitigkeit bestimmen, und das Blut des achtzehnten Jahrhunderts lebt noch
immer kräftig genug in uns, um wenigstens den Wunsch wach zu erhalten, daß
endlich einmal eine bessere Zeit kommen möge, die uns gestatten soll, so reine
Humanisten zu sein, wie es die Begründer unsrer geistigen Einheit in voller
Wirklichkeit waren. Und wenn irgend jemand den Beruf hat, unsre Empfäng¬
lichkeit für das reinere Ideal wachzuerhalten, so ist es der Dichter, der mensch¬
lichste Mensch, der reinste Mensch, der in den Formen des nationalen Geistes
sich über die Befangenheit desselben zu erheben befähigt und berufen ist.

Auf diesen und ähnlichen Erwägungen beruht die Konzeption des Romans
von Spielhagen, sie sind dessen eigentlicher Gehalt. Nur schade, daß der Ver¬
fasser uicht künstlerisch auf derselben Höhe steht wie reslektirend. Spielhageu
stellt ein schönes, reich und groß angelegtes Mädchen in den schweren Widerstreit
zwischen Nationalgefühl und Liebe. In Minnas Elternhause, dem des Ham-
burgischen Senators Warburg, ist nach der Besetzung der Stadt durch die
Franzosen ein vornehmer Offizier, Marquis Henri d'Hericourt, einquartiert
worden. Er ist das wahre Ideal eines feinen Mannes: schön, gut, wohl¬
gebildet, ein Freund Rousseaus, ein Feind des unersättlich kriegerischen Napoleon,
an dessen Fahne ihn nur seine nationale Pflicht und der Soldateneid fesselten.
Das edle deutsche Mädchen hat er mit einer tiefen Liebe erfüllt, die er glühend
erwiederte, und in dem Jahre, da die deutsch-nationale Leidenschaft noch unter
der Oberfläche glühte, haben sie sich verlobt. Minna ist ihrerseits als Deutsche
nicht minder national und patriotisch gestimmt. Spielhagen hat in ihr eine
weit über die normale Größe hinausragende heroische Gestalt geschaffen, die aber
deswegen noch nicht unwahrscheinlich ist. Jene Zeit sah diesseits und jenseits


Neue Romane.

ist; wir kennen und studiren die Gesetze der Vererbung, wir türmen die Schranken
der Nasseneigenschaften auf, wir individualisiren die Menschheit bis auf den
Einzelnen herab ganz im Gegensatz zum achtzehnten Jahrhundert, welches nach
der metaphysischen Natur und Einheit des menschlichen Geschlechtes forschte und
diese enthusiastisch erkannte. Das Wort „Mensch" war für jene Zeit ein heiliges
Wort, für die unsre ist es nur ein kalter Begriff, den wir mit vielen positiven
Merkmalen erfüllen müssen. Und beide Seiten unsers Lebens, die betrachtende
wie die Handelnde, haben den ausschließlichen Kultus der nationalen Idee gefördert.
Die Wissenschaften der Geschichte, der Philologie und Anthropologie haben
nationale Gesichtspunkte verfolgt, und einzelne Philologen haben sich sogar
mit dem widersinnigen Plane einer nationalen Ethik getragen. Als ob eine
Moral, die nur für eine bestimmte Art von Menschen gilt, moralisch wäre!
Daß vor allem die eiserne Not der Zeit uns gezwungen hat, die nationale Idee
über alles zu stellen, das braucht nicht erst gesagt zu werden. Und doch fühlen
wir, daß der Kultus der Nationalität nicht der höchste ist und nicht der reinste,
dem sich die Völker ergeben dürfen. Wir fühlen alle, daß nur die unaufgelösten
Spannungen der politischen Lage der Welt uns zu dieser entschlossenen Ein¬
seitigkeit bestimmen, und das Blut des achtzehnten Jahrhunderts lebt noch
immer kräftig genug in uns, um wenigstens den Wunsch wach zu erhalten, daß
endlich einmal eine bessere Zeit kommen möge, die uns gestatten soll, so reine
Humanisten zu sein, wie es die Begründer unsrer geistigen Einheit in voller
Wirklichkeit waren. Und wenn irgend jemand den Beruf hat, unsre Empfäng¬
lichkeit für das reinere Ideal wachzuerhalten, so ist es der Dichter, der mensch¬
lichste Mensch, der reinste Mensch, der in den Formen des nationalen Geistes
sich über die Befangenheit desselben zu erheben befähigt und berufen ist.

Auf diesen und ähnlichen Erwägungen beruht die Konzeption des Romans
von Spielhagen, sie sind dessen eigentlicher Gehalt. Nur schade, daß der Ver¬
fasser uicht künstlerisch auf derselben Höhe steht wie reslektirend. Spielhageu
stellt ein schönes, reich und groß angelegtes Mädchen in den schweren Widerstreit
zwischen Nationalgefühl und Liebe. In Minnas Elternhause, dem des Ham-
burgischen Senators Warburg, ist nach der Besetzung der Stadt durch die
Franzosen ein vornehmer Offizier, Marquis Henri d'Hericourt, einquartiert
worden. Er ist das wahre Ideal eines feinen Mannes: schön, gut, wohl¬
gebildet, ein Freund Rousseaus, ein Feind des unersättlich kriegerischen Napoleon,
an dessen Fahne ihn nur seine nationale Pflicht und der Soldateneid fesselten.
Das edle deutsche Mädchen hat er mit einer tiefen Liebe erfüllt, die er glühend
erwiederte, und in dem Jahre, da die deutsch-nationale Leidenschaft noch unter
der Oberfläche glühte, haben sie sich verlobt. Minna ist ihrerseits als Deutsche
nicht minder national und patriotisch gestimmt. Spielhagen hat in ihr eine
weit über die normale Größe hinausragende heroische Gestalt geschaffen, die aber
deswegen noch nicht unwahrscheinlich ist. Jene Zeit sah diesseits und jenseits


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[0234] Neue Romane. ist; wir kennen und studiren die Gesetze der Vererbung, wir türmen die Schranken der Nasseneigenschaften auf, wir individualisiren die Menschheit bis auf den Einzelnen herab ganz im Gegensatz zum achtzehnten Jahrhundert, welches nach der metaphysischen Natur und Einheit des menschlichen Geschlechtes forschte und diese enthusiastisch erkannte. Das Wort „Mensch" war für jene Zeit ein heiliges Wort, für die unsre ist es nur ein kalter Begriff, den wir mit vielen positiven Merkmalen erfüllen müssen. Und beide Seiten unsers Lebens, die betrachtende wie die Handelnde, haben den ausschließlichen Kultus der nationalen Idee gefördert. Die Wissenschaften der Geschichte, der Philologie und Anthropologie haben nationale Gesichtspunkte verfolgt, und einzelne Philologen haben sich sogar mit dem widersinnigen Plane einer nationalen Ethik getragen. Als ob eine Moral, die nur für eine bestimmte Art von Menschen gilt, moralisch wäre! Daß vor allem die eiserne Not der Zeit uns gezwungen hat, die nationale Idee über alles zu stellen, das braucht nicht erst gesagt zu werden. Und doch fühlen wir, daß der Kultus der Nationalität nicht der höchste ist und nicht der reinste, dem sich die Völker ergeben dürfen. Wir fühlen alle, daß nur die unaufgelösten Spannungen der politischen Lage der Welt uns zu dieser entschlossenen Ein¬ seitigkeit bestimmen, und das Blut des achtzehnten Jahrhunderts lebt noch immer kräftig genug in uns, um wenigstens den Wunsch wach zu erhalten, daß endlich einmal eine bessere Zeit kommen möge, die uns gestatten soll, so reine Humanisten zu sein, wie es die Begründer unsrer geistigen Einheit in voller Wirklichkeit waren. Und wenn irgend jemand den Beruf hat, unsre Empfäng¬ lichkeit für das reinere Ideal wachzuerhalten, so ist es der Dichter, der mensch¬ lichste Mensch, der reinste Mensch, der in den Formen des nationalen Geistes sich über die Befangenheit desselben zu erheben befähigt und berufen ist. Auf diesen und ähnlichen Erwägungen beruht die Konzeption des Romans von Spielhagen, sie sind dessen eigentlicher Gehalt. Nur schade, daß der Ver¬ fasser uicht künstlerisch auf derselben Höhe steht wie reslektirend. Spielhageu stellt ein schönes, reich und groß angelegtes Mädchen in den schweren Widerstreit zwischen Nationalgefühl und Liebe. In Minnas Elternhause, dem des Ham- burgischen Senators Warburg, ist nach der Besetzung der Stadt durch die Franzosen ein vornehmer Offizier, Marquis Henri d'Hericourt, einquartiert worden. Er ist das wahre Ideal eines feinen Mannes: schön, gut, wohl¬ gebildet, ein Freund Rousseaus, ein Feind des unersättlich kriegerischen Napoleon, an dessen Fahne ihn nur seine nationale Pflicht und der Soldateneid fesselten. Das edle deutsche Mädchen hat er mit einer tiefen Liebe erfüllt, die er glühend erwiederte, und in dem Jahre, da die deutsch-nationale Leidenschaft noch unter der Oberfläche glühte, haben sie sich verlobt. Minna ist ihrerseits als Deutsche nicht minder national und patriotisch gestimmt. Spielhagen hat in ihr eine weit über die normale Größe hinausragende heroische Gestalt geschaffen, die aber deswegen noch nicht unwahrscheinlich ist. Jene Zeit sah diesseits und jenseits

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/234>, abgerufen am 01.09.2024.