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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Das Geschlecht Textor, Goethes mütterlicher Stammbaum.

berger Gasse wohnte, mit dem Bemerken anzeigen, sie möge dies nouiws xiMioo
nach Wetzlar berichten. Dies geschah so rasch, daß schon am 18. die am Tage
zuvor geschriebene dankende Annahme erfolgte. Vergebens erhoben die stets auf¬
passenden bürgerlichen Deputirten durch einen Notar Einspruch, daß "löblicher
Magistrat einen Fremden, so noch nicht allhier verbürgert sei, auch außerwärts
bereits Kinder erzeugt habe ^was eine Lüge war), mit zur Wahl gezogen Hütte."
Doch der Rat kehrte sich nicht daran. Was ihn zu dieser Verletzung der Wahl¬
ordnung bestimmte, wissen wir nicht; denn daß man gern einen wählte, der einer
um Frankfurt verdienten Juristenfamilie angehöre, genügt kaum zur Erklärung.
Wahrscheinlich spielte vornehme Empfehlung mit, und da könnte man an seineu
im Rate sitzenden Jugendfreund von Lersner, an Johann Jost Lindheimer und
die Uffenbachsche Familie denken. Der Gewühlte, dem die Sache wohl nicht
ganz unerwartet kam, eilte nach Frankfurt, wo er schon am 22. den Bürgereid
leistete. Tags darauf trat er in den Rat. Und von diesem Tage an führte
er länger als vierzig Jahre ein vollständiges alphabetisches Verzeichnis
aller Ratsverhandlungen, das ihm zur persönlichen Erinnerung dienen sollte,
aber zufällig nach seinem Tode in den Besitz der Stadt kam. Er verweist
darin zuweilen auf seine eigne Lebensbeschreibung. Gemeine ist sein erhal¬
tenes, von 1725 bis 1735 reichendes Tagebuch, über welches Dr. L. Holthof in
den "Berichten des Freien Deutschen Hochstifts zu Frankfurt am Main," Jahr¬
gang 1882--1883," Mitteilungen gemacht hat. Außerdem sind noch Textors
handschriftliche Eintragungen in den Frankfurter Natskalendern der Jahre 1736
und 1737 vorhanden, die sich aber meist auf Gartenbau beziehen. Sein nächster
Freund war der höchst gewandte, kenntnisreiche, einsichtige und feingebildete
von Lersner, mit dem er die stets vorschauende Seele des Rates in schlimmen Zeiten
war, wenn auch weniger thatkräftig als dieser. Dagegen wurde sein erbittertster
Feind, und aus Herzensgrunde, weil ihre Naturen im innersten Keime sich ent¬
gegenstanden, der Sohn einer drei Jahre vor dem Syndikus Textor nicht be¬
rufenen, sondern eingewanderten Familie, der vierzehn Jahre nach Textor in
Frankfurt geborne Arzt Johann Christian Senckenberg. Als Textor gewählt
wurde, war der junge Mann, dem die Mittel zum Besuche einer Hochschule noch
nicht zu Gebote standen, in Frankfurt mit ärztlichen Übungen beschäftigt. Von
Halle vor Vollendung seiner Studien zurückgekehrt, hielt er sich zu Leuten,
welche sich eine eigne Religion bildeten, die Erde gegen den Himmel verachteten,
sich in dem Wahne gefielen, nur sie seien gut, die ganze Welt verkommen. Da
mußten ihm denn alle widerwärtig scheinen, die mit festen Füßen auf der Erde
standen, für das irdische Gemeinwohl gewissenhaft sorgten und wußten, daß an
der "aus Gott geschöpften Religion des Herzens," der die Frommen zu folgen
sich rühmten, der geistige Hochmut den vorwiegendsten Anteil habe.

Textor führte seine junge Frau in das elterliche Haus zu seiner Mutter.
Bald nach der Geburt starben die beiden ersten Söhne, die ihm seine Gattin


Das Geschlecht Textor, Goethes mütterlicher Stammbaum.

berger Gasse wohnte, mit dem Bemerken anzeigen, sie möge dies nouiws xiMioo
nach Wetzlar berichten. Dies geschah so rasch, daß schon am 18. die am Tage
zuvor geschriebene dankende Annahme erfolgte. Vergebens erhoben die stets auf¬
passenden bürgerlichen Deputirten durch einen Notar Einspruch, daß „löblicher
Magistrat einen Fremden, so noch nicht allhier verbürgert sei, auch außerwärts
bereits Kinder erzeugt habe ^was eine Lüge war), mit zur Wahl gezogen Hütte."
Doch der Rat kehrte sich nicht daran. Was ihn zu dieser Verletzung der Wahl¬
ordnung bestimmte, wissen wir nicht; denn daß man gern einen wählte, der einer
um Frankfurt verdienten Juristenfamilie angehöre, genügt kaum zur Erklärung.
Wahrscheinlich spielte vornehme Empfehlung mit, und da könnte man an seineu
im Rate sitzenden Jugendfreund von Lersner, an Johann Jost Lindheimer und
die Uffenbachsche Familie denken. Der Gewühlte, dem die Sache wohl nicht
ganz unerwartet kam, eilte nach Frankfurt, wo er schon am 22. den Bürgereid
leistete. Tags darauf trat er in den Rat. Und von diesem Tage an führte
er länger als vierzig Jahre ein vollständiges alphabetisches Verzeichnis
aller Ratsverhandlungen, das ihm zur persönlichen Erinnerung dienen sollte,
aber zufällig nach seinem Tode in den Besitz der Stadt kam. Er verweist
darin zuweilen auf seine eigne Lebensbeschreibung. Gemeine ist sein erhal¬
tenes, von 1725 bis 1735 reichendes Tagebuch, über welches Dr. L. Holthof in
den „Berichten des Freien Deutschen Hochstifts zu Frankfurt am Main," Jahr¬
gang 1882—1883," Mitteilungen gemacht hat. Außerdem sind noch Textors
handschriftliche Eintragungen in den Frankfurter Natskalendern der Jahre 1736
und 1737 vorhanden, die sich aber meist auf Gartenbau beziehen. Sein nächster
Freund war der höchst gewandte, kenntnisreiche, einsichtige und feingebildete
von Lersner, mit dem er die stets vorschauende Seele des Rates in schlimmen Zeiten
war, wenn auch weniger thatkräftig als dieser. Dagegen wurde sein erbittertster
Feind, und aus Herzensgrunde, weil ihre Naturen im innersten Keime sich ent¬
gegenstanden, der Sohn einer drei Jahre vor dem Syndikus Textor nicht be¬
rufenen, sondern eingewanderten Familie, der vierzehn Jahre nach Textor in
Frankfurt geborne Arzt Johann Christian Senckenberg. Als Textor gewählt
wurde, war der junge Mann, dem die Mittel zum Besuche einer Hochschule noch
nicht zu Gebote standen, in Frankfurt mit ärztlichen Übungen beschäftigt. Von
Halle vor Vollendung seiner Studien zurückgekehrt, hielt er sich zu Leuten,
welche sich eine eigne Religion bildeten, die Erde gegen den Himmel verachteten,
sich in dem Wahne gefielen, nur sie seien gut, die ganze Welt verkommen. Da
mußten ihm denn alle widerwärtig scheinen, die mit festen Füßen auf der Erde
standen, für das irdische Gemeinwohl gewissenhaft sorgten und wußten, daß an
der „aus Gott geschöpften Religion des Herzens," der die Frommen zu folgen
sich rühmten, der geistige Hochmut den vorwiegendsten Anteil habe.

Textor führte seine junge Frau in das elterliche Haus zu seiner Mutter.
Bald nach der Geburt starben die beiden ersten Söhne, die ihm seine Gattin


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[0231] Das Geschlecht Textor, Goethes mütterlicher Stammbaum. berger Gasse wohnte, mit dem Bemerken anzeigen, sie möge dies nouiws xiMioo nach Wetzlar berichten. Dies geschah so rasch, daß schon am 18. die am Tage zuvor geschriebene dankende Annahme erfolgte. Vergebens erhoben die stets auf¬ passenden bürgerlichen Deputirten durch einen Notar Einspruch, daß „löblicher Magistrat einen Fremden, so noch nicht allhier verbürgert sei, auch außerwärts bereits Kinder erzeugt habe ^was eine Lüge war), mit zur Wahl gezogen Hütte." Doch der Rat kehrte sich nicht daran. Was ihn zu dieser Verletzung der Wahl¬ ordnung bestimmte, wissen wir nicht; denn daß man gern einen wählte, der einer um Frankfurt verdienten Juristenfamilie angehöre, genügt kaum zur Erklärung. Wahrscheinlich spielte vornehme Empfehlung mit, und da könnte man an seineu im Rate sitzenden Jugendfreund von Lersner, an Johann Jost Lindheimer und die Uffenbachsche Familie denken. Der Gewühlte, dem die Sache wohl nicht ganz unerwartet kam, eilte nach Frankfurt, wo er schon am 22. den Bürgereid leistete. Tags darauf trat er in den Rat. Und von diesem Tage an führte er länger als vierzig Jahre ein vollständiges alphabetisches Verzeichnis aller Ratsverhandlungen, das ihm zur persönlichen Erinnerung dienen sollte, aber zufällig nach seinem Tode in den Besitz der Stadt kam. Er verweist darin zuweilen auf seine eigne Lebensbeschreibung. Gemeine ist sein erhal¬ tenes, von 1725 bis 1735 reichendes Tagebuch, über welches Dr. L. Holthof in den „Berichten des Freien Deutschen Hochstifts zu Frankfurt am Main," Jahr¬ gang 1882—1883," Mitteilungen gemacht hat. Außerdem sind noch Textors handschriftliche Eintragungen in den Frankfurter Natskalendern der Jahre 1736 und 1737 vorhanden, die sich aber meist auf Gartenbau beziehen. Sein nächster Freund war der höchst gewandte, kenntnisreiche, einsichtige und feingebildete von Lersner, mit dem er die stets vorschauende Seele des Rates in schlimmen Zeiten war, wenn auch weniger thatkräftig als dieser. Dagegen wurde sein erbittertster Feind, und aus Herzensgrunde, weil ihre Naturen im innersten Keime sich ent¬ gegenstanden, der Sohn einer drei Jahre vor dem Syndikus Textor nicht be¬ rufenen, sondern eingewanderten Familie, der vierzehn Jahre nach Textor in Frankfurt geborne Arzt Johann Christian Senckenberg. Als Textor gewählt wurde, war der junge Mann, dem die Mittel zum Besuche einer Hochschule noch nicht zu Gebote standen, in Frankfurt mit ärztlichen Übungen beschäftigt. Von Halle vor Vollendung seiner Studien zurückgekehrt, hielt er sich zu Leuten, welche sich eine eigne Religion bildeten, die Erde gegen den Himmel verachteten, sich in dem Wahne gefielen, nur sie seien gut, die ganze Welt verkommen. Da mußten ihm denn alle widerwärtig scheinen, die mit festen Füßen auf der Erde standen, für das irdische Gemeinwohl gewissenhaft sorgten und wußten, daß an der „aus Gott geschöpften Religion des Herzens," der die Frommen zu folgen sich rühmten, der geistige Hochmut den vorwiegendsten Anteil habe. Textor führte seine junge Frau in das elterliche Haus zu seiner Mutter. Bald nach der Geburt starben die beiden ersten Söhne, die ihm seine Gattin

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/231>, abgerufen am 27.07.2024.