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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die Lage der französischen Republik.

sich bestrebt, Kunst und Litteratur zu demoralisiren, aber wenn das richtig war,
so hatte die Republik nicht das Recht, zu tadeln; denn es ist ganz unbestreitbar,
daß die Romane, Dramen und Bilder, die sich unter der Republik der größten
Beliebtheit erfreuen, von einem viel empörenderen "Realismus" erfüllt sind,
als der war, welchen die dreistesten Künstler der Jahre 1852 bis 1870 der Welt
darzubieten wagten. Es heißt daher, sich sehr mild ausdrücken, wenn man
sagt: die Republik hat den Hoffnungen und Versicherungen ihrer Anhänger
und Lobredner von 1870 nicht entsprochen. Sie hat Frankreich nicht ruhig
im Innern, nicht geachtet im Auslande zu machen vermocht, sie hat den Bona¬
partismus in Bastardform wieder aufleben lassen, die Franzosen -- oder sagen
wir, viele Franzosen -- sind in ihrer Verzweiflung über dieses Mißlingen ihres
Experiments entschlossen, aus der Bratpfanne ins Feuer zu springen, sich aus
den bekannten Unerfreulichkeiten des Parlamentarismus in die unbekannten
Übel des Bvulangerismus zu stürze". Die Verfassung von 1873 mußte sich
schlecht bewähren, weil sie nach englischem Muster gearbeitet war, das nur für
England Paßte. Die Versammlung, die sie schuf, schloß eine große Anzahl
von Monarchisten ein, auf die Rücksicht zu nehmen war. So konstruirte man
einen Präsidentenstnhl, der sich ohne viel Mühe in einen Thron verwandeln
ließ, falls man den Grafen von Chambord oder den Grafen von Paris berufen
konnte, ihn auszufüllen. In der Hoffnung hierauf richtete man einen Senat
her, der mittelbar gewählt wurde und zwar zu einem Teile seiner Mitglieder
auf Lebenszeit, und man ließ der Mehrheit in der Deputirtenkammer freies
Spiel, indem man erwartete, daß die persönliche Macht des Königs dahin
wirken werde, Verirrungen des Parlaments wieder in die rechten Bahnen zu
senken. Aber wie die Dinge sich gestaltet haben, giebt es dermalen in Frank¬
reich eine englische Verfassung ohne den mäßigenden, einschränkenden, Stetigkeit
bewirkenden königlichen Einfluß, der sich in England neben der Konstitution
geltend macht, und ohne die Kompromisse, welche Herkommen und Überlieferung
vorschreiben, vielmehr der Willkür von Fraktionen preisgegeben, die in ihrem
politischen Glaubenseifer so fanatisch sind, wie Muslime, Ultramontane und
protestantische Strcittheologen auf dogmatischen Gebiete. Das ist jedoch nicht
die einzige Ausprägung des Gedankens der Republik. Die demokratischen
Einrichtungen der modernen Zeit, welche sich, wo nicht als segensreich,
doch als haltbar erwiesen haben, sind die der Schweiz und die Nord¬
amerikas, wo föderale Institutionen die Demokratie zurückhalten und teilen,
sodaß sie langsamer und nicht als eine einzige große Kraft arbeitet.
In Amerika ist der Senat, indirekt (von den Legislaturen der Einzelstaaten) und
nicht im Verhältnisse zu der Bevölkerungszahl der gesamten Union gewählt,
weit mächtiger und einflußreicher als das von der großen ordinären und be¬
schränkten Volksmasse gewählte Abgeordnetenhaus, die Minister sind dem Prä¬
sidenten, nicht dem Kongresse verantwortlich, und die Herrschaft des Präsidenten


Die Lage der französischen Republik.

sich bestrebt, Kunst und Litteratur zu demoralisiren, aber wenn das richtig war,
so hatte die Republik nicht das Recht, zu tadeln; denn es ist ganz unbestreitbar,
daß die Romane, Dramen und Bilder, die sich unter der Republik der größten
Beliebtheit erfreuen, von einem viel empörenderen „Realismus" erfüllt sind,
als der war, welchen die dreistesten Künstler der Jahre 1852 bis 1870 der Welt
darzubieten wagten. Es heißt daher, sich sehr mild ausdrücken, wenn man
sagt: die Republik hat den Hoffnungen und Versicherungen ihrer Anhänger
und Lobredner von 1870 nicht entsprochen. Sie hat Frankreich nicht ruhig
im Innern, nicht geachtet im Auslande zu machen vermocht, sie hat den Bona¬
partismus in Bastardform wieder aufleben lassen, die Franzosen — oder sagen
wir, viele Franzosen — sind in ihrer Verzweiflung über dieses Mißlingen ihres
Experiments entschlossen, aus der Bratpfanne ins Feuer zu springen, sich aus
den bekannten Unerfreulichkeiten des Parlamentarismus in die unbekannten
Übel des Bvulangerismus zu stürze». Die Verfassung von 1873 mußte sich
schlecht bewähren, weil sie nach englischem Muster gearbeitet war, das nur für
England Paßte. Die Versammlung, die sie schuf, schloß eine große Anzahl
von Monarchisten ein, auf die Rücksicht zu nehmen war. So konstruirte man
einen Präsidentenstnhl, der sich ohne viel Mühe in einen Thron verwandeln
ließ, falls man den Grafen von Chambord oder den Grafen von Paris berufen
konnte, ihn auszufüllen. In der Hoffnung hierauf richtete man einen Senat
her, der mittelbar gewählt wurde und zwar zu einem Teile seiner Mitglieder
auf Lebenszeit, und man ließ der Mehrheit in der Deputirtenkammer freies
Spiel, indem man erwartete, daß die persönliche Macht des Königs dahin
wirken werde, Verirrungen des Parlaments wieder in die rechten Bahnen zu
senken. Aber wie die Dinge sich gestaltet haben, giebt es dermalen in Frank¬
reich eine englische Verfassung ohne den mäßigenden, einschränkenden, Stetigkeit
bewirkenden königlichen Einfluß, der sich in England neben der Konstitution
geltend macht, und ohne die Kompromisse, welche Herkommen und Überlieferung
vorschreiben, vielmehr der Willkür von Fraktionen preisgegeben, die in ihrem
politischen Glaubenseifer so fanatisch sind, wie Muslime, Ultramontane und
protestantische Strcittheologen auf dogmatischen Gebiete. Das ist jedoch nicht
die einzige Ausprägung des Gedankens der Republik. Die demokratischen
Einrichtungen der modernen Zeit, welche sich, wo nicht als segensreich,
doch als haltbar erwiesen haben, sind die der Schweiz und die Nord¬
amerikas, wo föderale Institutionen die Demokratie zurückhalten und teilen,
sodaß sie langsamer und nicht als eine einzige große Kraft arbeitet.
In Amerika ist der Senat, indirekt (von den Legislaturen der Einzelstaaten) und
nicht im Verhältnisse zu der Bevölkerungszahl der gesamten Union gewählt,
weit mächtiger und einflußreicher als das von der großen ordinären und be¬
schränkten Volksmasse gewählte Abgeordnetenhaus, die Minister sind dem Prä¬
sidenten, nicht dem Kongresse verantwortlich, und die Herrschaft des Präsidenten


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[0214] Die Lage der französischen Republik. sich bestrebt, Kunst und Litteratur zu demoralisiren, aber wenn das richtig war, so hatte die Republik nicht das Recht, zu tadeln; denn es ist ganz unbestreitbar, daß die Romane, Dramen und Bilder, die sich unter der Republik der größten Beliebtheit erfreuen, von einem viel empörenderen „Realismus" erfüllt sind, als der war, welchen die dreistesten Künstler der Jahre 1852 bis 1870 der Welt darzubieten wagten. Es heißt daher, sich sehr mild ausdrücken, wenn man sagt: die Republik hat den Hoffnungen und Versicherungen ihrer Anhänger und Lobredner von 1870 nicht entsprochen. Sie hat Frankreich nicht ruhig im Innern, nicht geachtet im Auslande zu machen vermocht, sie hat den Bona¬ partismus in Bastardform wieder aufleben lassen, die Franzosen — oder sagen wir, viele Franzosen — sind in ihrer Verzweiflung über dieses Mißlingen ihres Experiments entschlossen, aus der Bratpfanne ins Feuer zu springen, sich aus den bekannten Unerfreulichkeiten des Parlamentarismus in die unbekannten Übel des Bvulangerismus zu stürze». Die Verfassung von 1873 mußte sich schlecht bewähren, weil sie nach englischem Muster gearbeitet war, das nur für England Paßte. Die Versammlung, die sie schuf, schloß eine große Anzahl von Monarchisten ein, auf die Rücksicht zu nehmen war. So konstruirte man einen Präsidentenstnhl, der sich ohne viel Mühe in einen Thron verwandeln ließ, falls man den Grafen von Chambord oder den Grafen von Paris berufen konnte, ihn auszufüllen. In der Hoffnung hierauf richtete man einen Senat her, der mittelbar gewählt wurde und zwar zu einem Teile seiner Mitglieder auf Lebenszeit, und man ließ der Mehrheit in der Deputirtenkammer freies Spiel, indem man erwartete, daß die persönliche Macht des Königs dahin wirken werde, Verirrungen des Parlaments wieder in die rechten Bahnen zu senken. Aber wie die Dinge sich gestaltet haben, giebt es dermalen in Frank¬ reich eine englische Verfassung ohne den mäßigenden, einschränkenden, Stetigkeit bewirkenden königlichen Einfluß, der sich in England neben der Konstitution geltend macht, und ohne die Kompromisse, welche Herkommen und Überlieferung vorschreiben, vielmehr der Willkür von Fraktionen preisgegeben, die in ihrem politischen Glaubenseifer so fanatisch sind, wie Muslime, Ultramontane und protestantische Strcittheologen auf dogmatischen Gebiete. Das ist jedoch nicht die einzige Ausprägung des Gedankens der Republik. Die demokratischen Einrichtungen der modernen Zeit, welche sich, wo nicht als segensreich, doch als haltbar erwiesen haben, sind die der Schweiz und die Nord¬ amerikas, wo föderale Institutionen die Demokratie zurückhalten und teilen, sodaß sie langsamer und nicht als eine einzige große Kraft arbeitet. In Amerika ist der Senat, indirekt (von den Legislaturen der Einzelstaaten) und nicht im Verhältnisse zu der Bevölkerungszahl der gesamten Union gewählt, weit mächtiger und einflußreicher als das von der großen ordinären und be¬ schränkten Volksmasse gewählte Abgeordnetenhaus, die Minister sind dem Prä¬ sidenten, nicht dem Kongresse verantwortlich, und die Herrschaft des Präsidenten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/214>, abgerufen am 01.09.2024.