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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens in seiner neuesten Gestaltung.

Gesetz und in die unparteiliche Handhabung der Gerechtigkeit erhöhen, daß sie
den mitwirkenden Personen Mäßigung und Zurückhaltung auferlegen und der
Rechtspflege Würde und Ansehen verleihen.

Wie dem aber auch sei, die Öffentlichkeit galt als ein Grundrecht; sie kam
in die Frankfurter Reichsverfassung und von dort in die Verfassungen und
Prozeßgesetze fast aller deutschen Bundesstaaten, und als das jetzige deutsche Ge-
richtsverfassungsgcsctz beraten wurde, war die Streitfrage längst gelöst. Auch
nach diesem beherrscht als Regel die Öffentlichkeit das ganze Verfahren. Ab¬
gesehen von England, wo selbst die Voruntersuchung öffentlich ist, giebt es aber
überall Ausnahmen, weil man unbestritten einsieht, daß in einzelnen Fällen die
Öffentlichkeit Gefahren mit sich bringt, sei es, weil sie los doniiLs mesurs on
l'oröriz xudlique bedroht, sei es, wie sich die deutschen Gesetze ausdrücken, weil
die Öffentlichkeit "dem öffentlichen Wohl oder der Sittlichkeit," der "Ordnung
oder den guten Sitten," dem "Interesse des Staates" zuwiderläuft. An diese
Vorgänge schließt sich auch das deutsche Gerichtsverfassungsgesetz an, wenn es
die Öffentlichkeit der Verhandlung ausschließt, weil sie die öffentliche Ordnung
oder die Sittlichkeit gefährden könnte. Der Begriff der öffentlichen Ordnung
ist absichtlich sehr dehnbar; unter ihn fällt sowohl der Grund, daß eine Stö¬
rung der Verhandlungen durch die Zuhörer zu befürchten ist, als auch, daß
das Bekanntwerden der Verhandlungen das öffentliche Interesse, die innere wie
die äußere Sicherheit des Reiches oder eines Bundesstaates bedroht. Auf dix
Öffentlichkeit oder auf den Ausschluß derselben hat niemand ein Recht, ma߬
gebend ist lediglich das Ermessen des Gerichts, welches hierüber nach seiner
freien Überzeugung entscheidet.

Folgerichtig muß man verlangen, daß, wenn das Gericht den Ausschluß
der Öffentlichkeit für notwendig erklärt, dann auch das Geheimnis auf das
strengste gewahrt werde. Geradezu sinnwidrig aber ist es, wenn das Gericht
die Öffentlichkeit ausschließt und dadurch bewirkt, daß die wenigen Personen,
welche ein Zuhörerraum fassen kann, von dem Inhalte der Verhandlungen nichts
vernehmen, während die Presse über ihn berichtet und ihn dadurch zur Kenntnis
von Tausenden bringt. Diese unlogische und unerwünschte Folge ist aber durch
das Gerichtsverfassungsgesetz thatsächlich eingetreten. Entgegen den Bestim¬
mungen einer Reihe der ältern deutschen Gesetze schreibt das Gerichtsvcrfassnngs-
gesetz vor, daß nicht bloß die Urteilsformel, sondern auch die sie rechtfertigenden
Gründe öffentlich verkündet werden müssen. Im Strafprozeß -- und dieser
spielt bei der Öffentlichkeit wegen des allgemeinen Interesses die Hauptrolle --
müssen die Gründe die gesetzlichen Merkmale der That nach den Ergebnissen
der Beweiserhebung feststellen und alle thatsächlichen Momente angeben, welche
gerade deu Gegenstand der Untersuchung bilden und den Angeklagten überführen
oder nicht als schuldig erklären. Außerdem aber können die im Prozeß ver¬
wickelten Personen, soweit sie nicht durch das Amtsgeheimnis gebunden sind,


Die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens in seiner neuesten Gestaltung.

Gesetz und in die unparteiliche Handhabung der Gerechtigkeit erhöhen, daß sie
den mitwirkenden Personen Mäßigung und Zurückhaltung auferlegen und der
Rechtspflege Würde und Ansehen verleihen.

Wie dem aber auch sei, die Öffentlichkeit galt als ein Grundrecht; sie kam
in die Frankfurter Reichsverfassung und von dort in die Verfassungen und
Prozeßgesetze fast aller deutschen Bundesstaaten, und als das jetzige deutsche Ge-
richtsverfassungsgcsctz beraten wurde, war die Streitfrage längst gelöst. Auch
nach diesem beherrscht als Regel die Öffentlichkeit das ganze Verfahren. Ab¬
gesehen von England, wo selbst die Voruntersuchung öffentlich ist, giebt es aber
überall Ausnahmen, weil man unbestritten einsieht, daß in einzelnen Fällen die
Öffentlichkeit Gefahren mit sich bringt, sei es, weil sie los doniiLs mesurs on
l'oröriz xudlique bedroht, sei es, wie sich die deutschen Gesetze ausdrücken, weil
die Öffentlichkeit „dem öffentlichen Wohl oder der Sittlichkeit," der „Ordnung
oder den guten Sitten," dem „Interesse des Staates" zuwiderläuft. An diese
Vorgänge schließt sich auch das deutsche Gerichtsverfassungsgesetz an, wenn es
die Öffentlichkeit der Verhandlung ausschließt, weil sie die öffentliche Ordnung
oder die Sittlichkeit gefährden könnte. Der Begriff der öffentlichen Ordnung
ist absichtlich sehr dehnbar; unter ihn fällt sowohl der Grund, daß eine Stö¬
rung der Verhandlungen durch die Zuhörer zu befürchten ist, als auch, daß
das Bekanntwerden der Verhandlungen das öffentliche Interesse, die innere wie
die äußere Sicherheit des Reiches oder eines Bundesstaates bedroht. Auf dix
Öffentlichkeit oder auf den Ausschluß derselben hat niemand ein Recht, ma߬
gebend ist lediglich das Ermessen des Gerichts, welches hierüber nach seiner
freien Überzeugung entscheidet.

Folgerichtig muß man verlangen, daß, wenn das Gericht den Ausschluß
der Öffentlichkeit für notwendig erklärt, dann auch das Geheimnis auf das
strengste gewahrt werde. Geradezu sinnwidrig aber ist es, wenn das Gericht
die Öffentlichkeit ausschließt und dadurch bewirkt, daß die wenigen Personen,
welche ein Zuhörerraum fassen kann, von dem Inhalte der Verhandlungen nichts
vernehmen, während die Presse über ihn berichtet und ihn dadurch zur Kenntnis
von Tausenden bringt. Diese unlogische und unerwünschte Folge ist aber durch
das Gerichtsverfassungsgesetz thatsächlich eingetreten. Entgegen den Bestim¬
mungen einer Reihe der ältern deutschen Gesetze schreibt das Gerichtsvcrfassnngs-
gesetz vor, daß nicht bloß die Urteilsformel, sondern auch die sie rechtfertigenden
Gründe öffentlich verkündet werden müssen. Im Strafprozeß — und dieser
spielt bei der Öffentlichkeit wegen des allgemeinen Interesses die Hauptrolle —
müssen die Gründe die gesetzlichen Merkmale der That nach den Ergebnissen
der Beweiserhebung feststellen und alle thatsächlichen Momente angeben, welche
gerade deu Gegenstand der Untersuchung bilden und den Angeklagten überführen
oder nicht als schuldig erklären. Außerdem aber können die im Prozeß ver¬
wickelten Personen, soweit sie nicht durch das Amtsgeheimnis gebunden sind,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/174>, abgerufen am 28.07.2024.