Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
vor Totcnwnz der Minister in Paris.

schwing ein, 1870, nach Sedan, erfreute man sich des letzten gründlichen, und
so wäre jetzt die Zeit erfüllt, und es müßte von Rechts wegen wieder einen
geben. Das steht wie eine mystische Naturnotwendigkeit alls, erklärt sich aber
ans der Thatsache, daß in Frankreich ein neues Geschlecht aufgewachsen ist,
welches 137K ans Kindern bestand, die nichts oder wenig Bleibendes vom
Kriege, der Belagerung von Paris und der Kommune erlebt und erfahren haben.
Was sie später durch Lektüre und bildliche Darstellung davon kennen lernten,
waren nicht die Schläge und Niederlagen, die Schrecken und Verluste, welche
das Land damals erlitten hatte, sondern die Großthaten, die es verrichtet, der
Heldensinn, den es entwickelt hatte, die Macht, die es trotz allem angeblich ge¬
wesen war, wobei es an Erdichtung und Übertreibung nicht mangelte. Die z"
Männern erwachsenen Kinder schlössen dann: Wenn Frankreich sich damals so
heroisch schlug und "Bismarck beinahe erdrückt hätte, obwohl es übel vor¬
bereitet und allüberall verraten war," was würde es nicht leisten, welche Triumphe
nicht feiern, wenn es jetzt Gelegenheit fände, sich abermals mit den Deutschen
zu messen! Dasselbe rückblickende Selbstgefühl folgte den Niederlagen von 1814
und 1815 nach anderthalb Jahrzehnten. 1830 lebte der Bonapartismus ge¬
waltig wieder auf, und ohne die Schlauheit Ludwig Philipps wäre schon damals
das Kaisertum wieder ausgerufen worden. Zehn Jahre später durfte er es
wagen, die Leiche des großen Korsen nach Paris zurückzuführen und mit Pomp
dort zu bestatten. Der Enthusiasmus war ungeheuer. Man dachte nnr noch
an den Helden, den Sieger, seine Glorie war wie ein Feuer, das alle andern
Erinnerungen verzehrte. Die Schrecken seiner langen Kriege, seine erschöpfenden
Rekrutirungen, die beiden Invasionen, die er dem Lande zugezogen, verschwamme"
in dem lichten Dunste der Legende, mit welcher Liederdichter, Dramatiker, Roman¬
schreiber und Historiker aller Art die halbmythische Gestalt Napoleons verklärt
hatten. Als Ludwig Philipp den Thron bestieg, versicherte man der Welt mit
tiefinnerster Überzeugung, daß der konstitutionelle König das beste Bollwerk
gegen die Revolution sei, aber als die achtzehn verhängnisvollen Jahre verflossen
waren, war Frankreich richtig des Parlamentarismus und des Friedens über¬
drüssig und stürzte sich mit leichtem Herzen kopfüber in eine neue Revolution.
Die jetzt fast herkömmlich gewordene Periode der Akteurs in der Umwälzung
von 1830 hatte sie zuletzt eben von der Bühne abtreten und jüngern, hei߬
blütigern Leuten Platz machen sehen, die begierig waren, selbst eine Revolution
ins Werk zu setzen. Die Leute, welche das zweite Kaiserreich in seinen letzten
Jahren bekämpften, sind jetzt ebenfalls von der Bühne verschwunden. Thiers,
Jules Favre, Gambetta sind tot, Jules Simon ist im Senate kalt gestellt,
Ferry hat sich unmöglich gemacht. Die Knaben, die 1870 noch in der Schule
die Fibel studirten, sind jetzt die hauptsächlichen bewegenden Kräfte. Das ist
die Geschichte des modernen Frankreichs. Augenblicklich aber kommt zu der sich
wiederum regenden nervösen Unruhe der Nation noch etwas: der Widerstreit


vor Totcnwnz der Minister in Paris.

schwing ein, 1870, nach Sedan, erfreute man sich des letzten gründlichen, und
so wäre jetzt die Zeit erfüllt, und es müßte von Rechts wegen wieder einen
geben. Das steht wie eine mystische Naturnotwendigkeit alls, erklärt sich aber
ans der Thatsache, daß in Frankreich ein neues Geschlecht aufgewachsen ist,
welches 137K ans Kindern bestand, die nichts oder wenig Bleibendes vom
Kriege, der Belagerung von Paris und der Kommune erlebt und erfahren haben.
Was sie später durch Lektüre und bildliche Darstellung davon kennen lernten,
waren nicht die Schläge und Niederlagen, die Schrecken und Verluste, welche
das Land damals erlitten hatte, sondern die Großthaten, die es verrichtet, der
Heldensinn, den es entwickelt hatte, die Macht, die es trotz allem angeblich ge¬
wesen war, wobei es an Erdichtung und Übertreibung nicht mangelte. Die z»
Männern erwachsenen Kinder schlössen dann: Wenn Frankreich sich damals so
heroisch schlug und „Bismarck beinahe erdrückt hätte, obwohl es übel vor¬
bereitet und allüberall verraten war," was würde es nicht leisten, welche Triumphe
nicht feiern, wenn es jetzt Gelegenheit fände, sich abermals mit den Deutschen
zu messen! Dasselbe rückblickende Selbstgefühl folgte den Niederlagen von 1814
und 1815 nach anderthalb Jahrzehnten. 1830 lebte der Bonapartismus ge¬
waltig wieder auf, und ohne die Schlauheit Ludwig Philipps wäre schon damals
das Kaisertum wieder ausgerufen worden. Zehn Jahre später durfte er es
wagen, die Leiche des großen Korsen nach Paris zurückzuführen und mit Pomp
dort zu bestatten. Der Enthusiasmus war ungeheuer. Man dachte nnr noch
an den Helden, den Sieger, seine Glorie war wie ein Feuer, das alle andern
Erinnerungen verzehrte. Die Schrecken seiner langen Kriege, seine erschöpfenden
Rekrutirungen, die beiden Invasionen, die er dem Lande zugezogen, verschwamme»
in dem lichten Dunste der Legende, mit welcher Liederdichter, Dramatiker, Roman¬
schreiber und Historiker aller Art die halbmythische Gestalt Napoleons verklärt
hatten. Als Ludwig Philipp den Thron bestieg, versicherte man der Welt mit
tiefinnerster Überzeugung, daß der konstitutionelle König das beste Bollwerk
gegen die Revolution sei, aber als die achtzehn verhängnisvollen Jahre verflossen
waren, war Frankreich richtig des Parlamentarismus und des Friedens über¬
drüssig und stürzte sich mit leichtem Herzen kopfüber in eine neue Revolution.
Die jetzt fast herkömmlich gewordene Periode der Akteurs in der Umwälzung
von 1830 hatte sie zuletzt eben von der Bühne abtreten und jüngern, hei߬
blütigern Leuten Platz machen sehen, die begierig waren, selbst eine Revolution
ins Werk zu setzen. Die Leute, welche das zweite Kaiserreich in seinen letzten
Jahren bekämpften, sind jetzt ebenfalls von der Bühne verschwunden. Thiers,
Jules Favre, Gambetta sind tot, Jules Simon ist im Senate kalt gestellt,
Ferry hat sich unmöglich gemacht. Die Knaben, die 1870 noch in der Schule
die Fibel studirten, sind jetzt die hauptsächlichen bewegenden Kräfte. Das ist
die Geschichte des modernen Frankreichs. Augenblicklich aber kommt zu der sich
wiederum regenden nervösen Unruhe der Nation noch etwas: der Widerstreit


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0147" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/202924"/>
          <fw type="header" place="top"> vor Totcnwnz der Minister in Paris.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_494" prev="#ID_493" next="#ID_495"> schwing ein, 1870, nach Sedan, erfreute man sich des letzten gründlichen, und<lb/>
so wäre jetzt die Zeit erfüllt, und es müßte von Rechts wegen wieder einen<lb/>
geben. Das steht wie eine mystische Naturnotwendigkeit alls, erklärt sich aber<lb/>
ans der Thatsache, daß in Frankreich ein neues Geschlecht aufgewachsen ist,<lb/>
welches 137K ans Kindern bestand, die nichts oder wenig Bleibendes vom<lb/>
Kriege, der Belagerung von Paris und der Kommune erlebt und erfahren haben.<lb/>
Was sie später durch Lektüre und bildliche Darstellung davon kennen lernten,<lb/>
waren nicht die Schläge und Niederlagen, die Schrecken und Verluste, welche<lb/>
das Land damals erlitten hatte, sondern die Großthaten, die es verrichtet, der<lb/>
Heldensinn, den es entwickelt hatte, die Macht, die es trotz allem angeblich ge¬<lb/>
wesen war, wobei es an Erdichtung und Übertreibung nicht mangelte. Die z»<lb/>
Männern erwachsenen Kinder schlössen dann: Wenn Frankreich sich damals so<lb/>
heroisch schlug und &#x201E;Bismarck beinahe erdrückt hätte, obwohl es übel vor¬<lb/>
bereitet und allüberall verraten war," was würde es nicht leisten, welche Triumphe<lb/>
nicht feiern, wenn es jetzt Gelegenheit fände, sich abermals mit den Deutschen<lb/>
zu messen! Dasselbe rückblickende Selbstgefühl folgte den Niederlagen von 1814<lb/>
und 1815 nach anderthalb Jahrzehnten. 1830 lebte der Bonapartismus ge¬<lb/>
waltig wieder auf, und ohne die Schlauheit Ludwig Philipps wäre schon damals<lb/>
das Kaisertum wieder ausgerufen worden. Zehn Jahre später durfte er es<lb/>
wagen, die Leiche des großen Korsen nach Paris zurückzuführen und mit Pomp<lb/>
dort zu bestatten. Der Enthusiasmus war ungeheuer. Man dachte nnr noch<lb/>
an den Helden, den Sieger, seine Glorie war wie ein Feuer, das alle andern<lb/>
Erinnerungen verzehrte. Die Schrecken seiner langen Kriege, seine erschöpfenden<lb/>
Rekrutirungen, die beiden Invasionen, die er dem Lande zugezogen, verschwamme»<lb/>
in dem lichten Dunste der Legende, mit welcher Liederdichter, Dramatiker, Roman¬<lb/>
schreiber und Historiker aller Art die halbmythische Gestalt Napoleons verklärt<lb/>
hatten. Als Ludwig Philipp den Thron bestieg, versicherte man der Welt mit<lb/>
tiefinnerster Überzeugung, daß der konstitutionelle König das beste Bollwerk<lb/>
gegen die Revolution sei, aber als die achtzehn verhängnisvollen Jahre verflossen<lb/>
waren, war Frankreich richtig des Parlamentarismus und des Friedens über¬<lb/>
drüssig und stürzte sich mit leichtem Herzen kopfüber in eine neue Revolution.<lb/>
Die jetzt fast herkömmlich gewordene Periode der Akteurs in der Umwälzung<lb/>
von 1830 hatte sie zuletzt eben von der Bühne abtreten und jüngern, hei߬<lb/>
blütigern Leuten Platz machen sehen, die begierig waren, selbst eine Revolution<lb/>
ins Werk zu setzen. Die Leute, welche das zweite Kaiserreich in seinen letzten<lb/>
Jahren bekämpften, sind jetzt ebenfalls von der Bühne verschwunden. Thiers,<lb/>
Jules Favre, Gambetta sind tot, Jules Simon ist im Senate kalt gestellt,<lb/>
Ferry hat sich unmöglich gemacht. Die Knaben, die 1870 noch in der Schule<lb/>
die Fibel studirten, sind jetzt die hauptsächlichen bewegenden Kräfte. Das ist<lb/>
die Geschichte des modernen Frankreichs. Augenblicklich aber kommt zu der sich<lb/>
wiederum regenden nervösen Unruhe der Nation noch etwas: der Widerstreit</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0147] vor Totcnwnz der Minister in Paris. schwing ein, 1870, nach Sedan, erfreute man sich des letzten gründlichen, und so wäre jetzt die Zeit erfüllt, und es müßte von Rechts wegen wieder einen geben. Das steht wie eine mystische Naturnotwendigkeit alls, erklärt sich aber ans der Thatsache, daß in Frankreich ein neues Geschlecht aufgewachsen ist, welches 137K ans Kindern bestand, die nichts oder wenig Bleibendes vom Kriege, der Belagerung von Paris und der Kommune erlebt und erfahren haben. Was sie später durch Lektüre und bildliche Darstellung davon kennen lernten, waren nicht die Schläge und Niederlagen, die Schrecken und Verluste, welche das Land damals erlitten hatte, sondern die Großthaten, die es verrichtet, der Heldensinn, den es entwickelt hatte, die Macht, die es trotz allem angeblich ge¬ wesen war, wobei es an Erdichtung und Übertreibung nicht mangelte. Die z» Männern erwachsenen Kinder schlössen dann: Wenn Frankreich sich damals so heroisch schlug und „Bismarck beinahe erdrückt hätte, obwohl es übel vor¬ bereitet und allüberall verraten war," was würde es nicht leisten, welche Triumphe nicht feiern, wenn es jetzt Gelegenheit fände, sich abermals mit den Deutschen zu messen! Dasselbe rückblickende Selbstgefühl folgte den Niederlagen von 1814 und 1815 nach anderthalb Jahrzehnten. 1830 lebte der Bonapartismus ge¬ waltig wieder auf, und ohne die Schlauheit Ludwig Philipps wäre schon damals das Kaisertum wieder ausgerufen worden. Zehn Jahre später durfte er es wagen, die Leiche des großen Korsen nach Paris zurückzuführen und mit Pomp dort zu bestatten. Der Enthusiasmus war ungeheuer. Man dachte nnr noch an den Helden, den Sieger, seine Glorie war wie ein Feuer, das alle andern Erinnerungen verzehrte. Die Schrecken seiner langen Kriege, seine erschöpfenden Rekrutirungen, die beiden Invasionen, die er dem Lande zugezogen, verschwamme» in dem lichten Dunste der Legende, mit welcher Liederdichter, Dramatiker, Roman¬ schreiber und Historiker aller Art die halbmythische Gestalt Napoleons verklärt hatten. Als Ludwig Philipp den Thron bestieg, versicherte man der Welt mit tiefinnerster Überzeugung, daß der konstitutionelle König das beste Bollwerk gegen die Revolution sei, aber als die achtzehn verhängnisvollen Jahre verflossen waren, war Frankreich richtig des Parlamentarismus und des Friedens über¬ drüssig und stürzte sich mit leichtem Herzen kopfüber in eine neue Revolution. Die jetzt fast herkömmlich gewordene Periode der Akteurs in der Umwälzung von 1830 hatte sie zuletzt eben von der Bühne abtreten und jüngern, hei߬ blütigern Leuten Platz machen sehen, die begierig waren, selbst eine Revolution ins Werk zu setzen. Die Leute, welche das zweite Kaiserreich in seinen letzten Jahren bekämpften, sind jetzt ebenfalls von der Bühne verschwunden. Thiers, Jules Favre, Gambetta sind tot, Jules Simon ist im Senate kalt gestellt, Ferry hat sich unmöglich gemacht. Die Knaben, die 1870 noch in der Schule die Fibel studirten, sind jetzt die hauptsächlichen bewegenden Kräfte. Das ist die Geschichte des modernen Frankreichs. Augenblicklich aber kommt zu der sich wiederum regenden nervösen Unruhe der Nation noch etwas: der Widerstreit

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/147
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/147>, abgerufen am 28.07.2024.