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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Der Totentanz der Minister in Oaris.

demokratischen Neid und aus Streberei, die zu jedem Machthaber, jedem Mini¬
sterium über kurz oder lang, gewöhnlich schon nach wenige" Wochen die Stellung
einnimmt, welche sich in dem Worte ausdrückt: Ode WI ano ,jo irr'/ nnztw. Das
wird zweifellos so fortgehen, so lange die Republik in Frankreich das Leben
behält. Selbst bedeutende Geister wie Thiers und Gambetta wurden bald un¬
möglich. Ebenso erging es Ferry, dem geschicktesten französischen Staatsmanne
nach ihnen. Das zuletzt gestürzte Kabinet Tirard war ein Erzeugnis der Ver¬
legenheit, das nach langen Wehen geboren wurde und dem man schon ein
kurzes Leben weissagte. Diese Annahme schien täuschen zu wollen; denn es
fristete sich das Dasein vom 11. Dezember v. I. bis in die letzte Mürzwvchc
d. I., und man beseitigte es vorzüglich deshalb so plötzlich, weil man mit Über¬
raschung bemerkte, daß es sich durch kluge Maßregeln in immer weitern Kreisen
Beliebtheit erworben hatte und darauf gestützt eine größere Thatkraft entwickelte,
als es für die Pläne der Kammerpartcien wünschenswert erschien. Der Ehr¬
geiz dieser Cliquen begriff, daß man nicht länger zögern durfte, wenn das
Ministerium nicht festwurzeln sollte, und so ergriff mau die erste beste Ge¬
legenheit oder. genauer besehen, so brach man den ersten besten Vorwand vom
Zaune, um Tirard und seine Amtsgenossen zu Falle zu bringen. Der Streich
gelang: Tirard ist beiseite geschoben, und Flvquet hat sich auf sein Fauteuil
gesetzt. Wird er sich viel länger darauf behaupten als die Mehrzahl seiner
Vorgänger im Rate des Präsidenten? Bei jeder neuen Krisis sind jetzt die
einzigen Politiker, die als unmöglich für den Posten des Kabinetsleitcrs an¬
gesehen werden müssen, die, mit denen man es bereits versucht hat. Unter denen,
mit welchen man es noch nicht versucht hat, nimmt Floquet eine hervorragende
Stellung ein, indem er bisher Präsident der Deputirtenkammer war. Sonst
weiß man von ihm nicht viel mehr, als daß er 1867 dem Zaren Alexander II.
bei dessen Anwesenheit in Paris ein ungezognes Vivs 1a?o1ognö! zurief, daß
er vor kurzem eine Versöhnungskvmödie mit dem Botschafter des schwer be¬
leidigten Rußland abspielte, und daß er eine Zeit lang Mitglied der Kommune
war und deshalb von Thiers verhaftet wurde. Man hielt bisher dafür, seine
Beleidigung des Kaisers Alexander habe ihm geschadet, da es, so lange in Paris
der Aberglaube herrscht, ein Bündnis mit den Russen sei möglich, sich selbst¬
verständlich verbot, ihn zum Ministerpräsidenten zu wählen, weshalb er denn
auch zehn Jahre auf diesen Posten warten mußte. Der Verzug ist ihm aber
gut bekommen; denn während Gambetta, Ferry, Freycinet und ein halbes Dutzend
andre von weniger Ruf und Gewicht im Amte die außer demselben erworbene
Popularität verbrauchten und verloren, hat er sich diesen Besitz im kühlen
Schatten des Zustandes eines Nichtangestellten und Unverantwortlichen frisch
und unversehrt erhalten. Frankreich hatte keine Gelegenheit, seiner überdrüssig
zu werden. Nun ist die Reihe an ihn gekommen. Nachdem Rußland ihm ver¬
geben hat, darf er jetzt sein Glück auch mit dem Regieren versuchen, was in


Grmztwlen II. 1888. 18
Der Totentanz der Minister in Oaris.

demokratischen Neid und aus Streberei, die zu jedem Machthaber, jedem Mini¬
sterium über kurz oder lang, gewöhnlich schon nach wenige» Wochen die Stellung
einnimmt, welche sich in dem Worte ausdrückt: Ode WI ano ,jo irr'/ nnztw. Das
wird zweifellos so fortgehen, so lange die Republik in Frankreich das Leben
behält. Selbst bedeutende Geister wie Thiers und Gambetta wurden bald un¬
möglich. Ebenso erging es Ferry, dem geschicktesten französischen Staatsmanne
nach ihnen. Das zuletzt gestürzte Kabinet Tirard war ein Erzeugnis der Ver¬
legenheit, das nach langen Wehen geboren wurde und dem man schon ein
kurzes Leben weissagte. Diese Annahme schien täuschen zu wollen; denn es
fristete sich das Dasein vom 11. Dezember v. I. bis in die letzte Mürzwvchc
d. I., und man beseitigte es vorzüglich deshalb so plötzlich, weil man mit Über¬
raschung bemerkte, daß es sich durch kluge Maßregeln in immer weitern Kreisen
Beliebtheit erworben hatte und darauf gestützt eine größere Thatkraft entwickelte,
als es für die Pläne der Kammerpartcien wünschenswert erschien. Der Ehr¬
geiz dieser Cliquen begriff, daß man nicht länger zögern durfte, wenn das
Ministerium nicht festwurzeln sollte, und so ergriff mau die erste beste Ge¬
legenheit oder. genauer besehen, so brach man den ersten besten Vorwand vom
Zaune, um Tirard und seine Amtsgenossen zu Falle zu bringen. Der Streich
gelang: Tirard ist beiseite geschoben, und Flvquet hat sich auf sein Fauteuil
gesetzt. Wird er sich viel länger darauf behaupten als die Mehrzahl seiner
Vorgänger im Rate des Präsidenten? Bei jeder neuen Krisis sind jetzt die
einzigen Politiker, die als unmöglich für den Posten des Kabinetsleitcrs an¬
gesehen werden müssen, die, mit denen man es bereits versucht hat. Unter denen,
mit welchen man es noch nicht versucht hat, nimmt Floquet eine hervorragende
Stellung ein, indem er bisher Präsident der Deputirtenkammer war. Sonst
weiß man von ihm nicht viel mehr, als daß er 1867 dem Zaren Alexander II.
bei dessen Anwesenheit in Paris ein ungezognes Vivs 1a?o1ognö! zurief, daß
er vor kurzem eine Versöhnungskvmödie mit dem Botschafter des schwer be¬
leidigten Rußland abspielte, und daß er eine Zeit lang Mitglied der Kommune
war und deshalb von Thiers verhaftet wurde. Man hielt bisher dafür, seine
Beleidigung des Kaisers Alexander habe ihm geschadet, da es, so lange in Paris
der Aberglaube herrscht, ein Bündnis mit den Russen sei möglich, sich selbst¬
verständlich verbot, ihn zum Ministerpräsidenten zu wählen, weshalb er denn
auch zehn Jahre auf diesen Posten warten mußte. Der Verzug ist ihm aber
gut bekommen; denn während Gambetta, Ferry, Freycinet und ein halbes Dutzend
andre von weniger Ruf und Gewicht im Amte die außer demselben erworbene
Popularität verbrauchten und verloren, hat er sich diesen Besitz im kühlen
Schatten des Zustandes eines Nichtangestellten und Unverantwortlichen frisch
und unversehrt erhalten. Frankreich hatte keine Gelegenheit, seiner überdrüssig
zu werden. Nun ist die Reihe an ihn gekommen. Nachdem Rußland ihm ver¬
geben hat, darf er jetzt sein Glück auch mit dem Regieren versuchen, was in


Grmztwlen II. 1888. 18
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[0145] Der Totentanz der Minister in Oaris. demokratischen Neid und aus Streberei, die zu jedem Machthaber, jedem Mini¬ sterium über kurz oder lang, gewöhnlich schon nach wenige» Wochen die Stellung einnimmt, welche sich in dem Worte ausdrückt: Ode WI ano ,jo irr'/ nnztw. Das wird zweifellos so fortgehen, so lange die Republik in Frankreich das Leben behält. Selbst bedeutende Geister wie Thiers und Gambetta wurden bald un¬ möglich. Ebenso erging es Ferry, dem geschicktesten französischen Staatsmanne nach ihnen. Das zuletzt gestürzte Kabinet Tirard war ein Erzeugnis der Ver¬ legenheit, das nach langen Wehen geboren wurde und dem man schon ein kurzes Leben weissagte. Diese Annahme schien täuschen zu wollen; denn es fristete sich das Dasein vom 11. Dezember v. I. bis in die letzte Mürzwvchc d. I., und man beseitigte es vorzüglich deshalb so plötzlich, weil man mit Über¬ raschung bemerkte, daß es sich durch kluge Maßregeln in immer weitern Kreisen Beliebtheit erworben hatte und darauf gestützt eine größere Thatkraft entwickelte, als es für die Pläne der Kammerpartcien wünschenswert erschien. Der Ehr¬ geiz dieser Cliquen begriff, daß man nicht länger zögern durfte, wenn das Ministerium nicht festwurzeln sollte, und so ergriff mau die erste beste Ge¬ legenheit oder. genauer besehen, so brach man den ersten besten Vorwand vom Zaune, um Tirard und seine Amtsgenossen zu Falle zu bringen. Der Streich gelang: Tirard ist beiseite geschoben, und Flvquet hat sich auf sein Fauteuil gesetzt. Wird er sich viel länger darauf behaupten als die Mehrzahl seiner Vorgänger im Rate des Präsidenten? Bei jeder neuen Krisis sind jetzt die einzigen Politiker, die als unmöglich für den Posten des Kabinetsleitcrs an¬ gesehen werden müssen, die, mit denen man es bereits versucht hat. Unter denen, mit welchen man es noch nicht versucht hat, nimmt Floquet eine hervorragende Stellung ein, indem er bisher Präsident der Deputirtenkammer war. Sonst weiß man von ihm nicht viel mehr, als daß er 1867 dem Zaren Alexander II. bei dessen Anwesenheit in Paris ein ungezognes Vivs 1a?o1ognö! zurief, daß er vor kurzem eine Versöhnungskvmödie mit dem Botschafter des schwer be¬ leidigten Rußland abspielte, und daß er eine Zeit lang Mitglied der Kommune war und deshalb von Thiers verhaftet wurde. Man hielt bisher dafür, seine Beleidigung des Kaisers Alexander habe ihm geschadet, da es, so lange in Paris der Aberglaube herrscht, ein Bündnis mit den Russen sei möglich, sich selbst¬ verständlich verbot, ihn zum Ministerpräsidenten zu wählen, weshalb er denn auch zehn Jahre auf diesen Posten warten mußte. Der Verzug ist ihm aber gut bekommen; denn während Gambetta, Ferry, Freycinet und ein halbes Dutzend andre von weniger Ruf und Gewicht im Amte die außer demselben erworbene Popularität verbrauchten und verloren, hat er sich diesen Besitz im kühlen Schatten des Zustandes eines Nichtangestellten und Unverantwortlichen frisch und unversehrt erhalten. Frankreich hatte keine Gelegenheit, seiner überdrüssig zu werden. Nun ist die Reihe an ihn gekommen. Nachdem Rußland ihm ver¬ geben hat, darf er jetzt sein Glück auch mit dem Regieren versuchen, was in Grmztwlen II. 1888. 18

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/145>, abgerufen am 27.07.2024.