Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zum Andenken Gustav Theodor Fechners.

Als ein Einziger, Unsre Zeit ist nicht cirri an Versuchen, eine Versöh¬
nung zwischen der Wissenschaft und dem Glauben zu stiften. Gelehrte Patres
und aufgeklärte Pastoren widmen sich diesem Berufe jeder auf seine Weise und
gewinnen damit ein dankbares Publikum. Aber was will das heißen? Das
Publikum hat doch nicht die letzten Folgerungen der mechanische" Naturerklarnng
gezogen; es kennt die brennende Frage nur vom Hörensagen und aus der
Zeitung. Daher läßt es sich leicht beruhigen.

Fechners "Tagesansicht" ist kein Vermittlungsversuch, sondern eine Ant¬
wort auf die Frage, wie die ideale Welt sich ansieht, nachdem die Wissenschaft
gezeigt hat, daß sie nicht ohne die materielle Welt bestehen kann. Man muß
Physiker, Psychophysikcr, Darwinist, kurz naturwissenschaftlicher Materialist sein,
sich ganz in die Nachtansicht der Welt versenken, wie Fechner es gethan hat,
man muß das Bedürfnis nach einer Tagesansicht so lebhaft empfinden, wie
Fechner es empfunden hat -- dann erst wird man imstande sein, sich in die
Tagesansicht hinein zu versetzen. Was Wunder, daß Fechner kein Publikum
gefunden hat, daß er klagen muß: "Wenn sich die Zuhörer die Ohren zuhalten,
thut der Prediger am besten, er geht von der Kanzel."

Wozu diese lange Vorrede? Über wissenschaftliche Dinge läßt sich ur¬
teilen: man kann sie darstellen, analysiren, das Wesentliche aus ihnen heraus-
Präpariren. Mit Glaubenssachen ist es anders. Eine Predigt duldet keine
Besprechung, keine Kritik; löst man sie von der Persönlichkeit des Predigers
los, so sieht man freilich den Kern; aber die Schale war das Obst. Der
Kern ist das Wesentliche, wenn es sich um die Fortpflanzung handelt; an der
Frucht kann die Schale das Wesentliche sein.

Wir müssen uns darauf beschränken, die wichtigsten metaphysischen und
religionsphilosophischen Schriften Fechners zu nennen, die Themata anzugeben,
von denen sie handeln, und die Fuder aufzuzeigen, mit denen sie an die wissen¬
schaftlichen Werke anknüpfen.

Als Fechner nach feiner Ernennung zum ordentlichen Professor der Physik
1835 in den Gasteiner Bergen Erholung suchte, schrieb er das "Büchlein vom
Leben nach dem Tode," worin er die ersten Keime seiner einheitlichen Lehre
zur Entwicklung brachte, "noch selber unklar über ihren tiefen Grund und ihre
Kräfte und über manches lallend wie ein Kind." Den Anfang zu einem
systematischen Aufbau dieser Lehre haben wir in der nach Fechners Genesung
von seiner Augenkrankheit entstandenen, 1848 erschienenen Schrift: "Nanna, oder
über das Seelenleben der Pflanzen." Unter dem ungeteilten Beifall der Frauen¬
welt und der ebenso ungeteilten Verwerfung von Seiten der Naturforscher und
Philosophen suchte Fechner zu zeigen oder annehmbar zu machen, daß die
Pflanzen eine empfindende Seele Hütten. "Wohl manches Mädchen, manche
Frau sah die Blumen, seit eine Seele ihr daraus entgegensah, selbst mit seelen¬
vollerer Augen an und scheute sich beinahe, sie abzubrechen, wars auch nur


Grcnzlwten II. 1W8. l6
Zum Andenken Gustav Theodor Fechners.

Als ein Einziger, Unsre Zeit ist nicht cirri an Versuchen, eine Versöh¬
nung zwischen der Wissenschaft und dem Glauben zu stiften. Gelehrte Patres
und aufgeklärte Pastoren widmen sich diesem Berufe jeder auf seine Weise und
gewinnen damit ein dankbares Publikum. Aber was will das heißen? Das
Publikum hat doch nicht die letzten Folgerungen der mechanische» Naturerklarnng
gezogen; es kennt die brennende Frage nur vom Hörensagen und aus der
Zeitung. Daher läßt es sich leicht beruhigen.

Fechners „Tagesansicht" ist kein Vermittlungsversuch, sondern eine Ant¬
wort auf die Frage, wie die ideale Welt sich ansieht, nachdem die Wissenschaft
gezeigt hat, daß sie nicht ohne die materielle Welt bestehen kann. Man muß
Physiker, Psychophysikcr, Darwinist, kurz naturwissenschaftlicher Materialist sein,
sich ganz in die Nachtansicht der Welt versenken, wie Fechner es gethan hat,
man muß das Bedürfnis nach einer Tagesansicht so lebhaft empfinden, wie
Fechner es empfunden hat — dann erst wird man imstande sein, sich in die
Tagesansicht hinein zu versetzen. Was Wunder, daß Fechner kein Publikum
gefunden hat, daß er klagen muß: „Wenn sich die Zuhörer die Ohren zuhalten,
thut der Prediger am besten, er geht von der Kanzel."

Wozu diese lange Vorrede? Über wissenschaftliche Dinge läßt sich ur¬
teilen: man kann sie darstellen, analysiren, das Wesentliche aus ihnen heraus-
Präpariren. Mit Glaubenssachen ist es anders. Eine Predigt duldet keine
Besprechung, keine Kritik; löst man sie von der Persönlichkeit des Predigers
los, so sieht man freilich den Kern; aber die Schale war das Obst. Der
Kern ist das Wesentliche, wenn es sich um die Fortpflanzung handelt; an der
Frucht kann die Schale das Wesentliche sein.

Wir müssen uns darauf beschränken, die wichtigsten metaphysischen und
religionsphilosophischen Schriften Fechners zu nennen, die Themata anzugeben,
von denen sie handeln, und die Fuder aufzuzeigen, mit denen sie an die wissen¬
schaftlichen Werke anknüpfen.

Als Fechner nach feiner Ernennung zum ordentlichen Professor der Physik
1835 in den Gasteiner Bergen Erholung suchte, schrieb er das „Büchlein vom
Leben nach dem Tode," worin er die ersten Keime seiner einheitlichen Lehre
zur Entwicklung brachte, „noch selber unklar über ihren tiefen Grund und ihre
Kräfte und über manches lallend wie ein Kind." Den Anfang zu einem
systematischen Aufbau dieser Lehre haben wir in der nach Fechners Genesung
von seiner Augenkrankheit entstandenen, 1848 erschienenen Schrift: „Nanna, oder
über das Seelenleben der Pflanzen." Unter dem ungeteilten Beifall der Frauen¬
welt und der ebenso ungeteilten Verwerfung von Seiten der Naturforscher und
Philosophen suchte Fechner zu zeigen oder annehmbar zu machen, daß die
Pflanzen eine empfindende Seele Hütten. „Wohl manches Mädchen, manche
Frau sah die Blumen, seit eine Seele ihr daraus entgegensah, selbst mit seelen¬
vollerer Augen an und scheute sich beinahe, sie abzubrechen, wars auch nur


Grcnzlwten II. 1W8. l6
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0129" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/202906"/>
          <fw type="header" place="top"> Zum Andenken Gustav Theodor Fechners.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_411"> Als ein Einziger, Unsre Zeit ist nicht cirri an Versuchen, eine Versöh¬<lb/>
nung zwischen der Wissenschaft und dem Glauben zu stiften. Gelehrte Patres<lb/>
und aufgeklärte Pastoren widmen sich diesem Berufe jeder auf seine Weise und<lb/>
gewinnen damit ein dankbares Publikum. Aber was will das heißen? Das<lb/>
Publikum hat doch nicht die letzten Folgerungen der mechanische» Naturerklarnng<lb/>
gezogen; es kennt die brennende Frage nur vom Hörensagen und aus der<lb/>
Zeitung.  Daher läßt es sich leicht beruhigen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_412"> Fechners &#x201E;Tagesansicht" ist kein Vermittlungsversuch, sondern eine Ant¬<lb/>
wort auf die Frage, wie die ideale Welt sich ansieht, nachdem die Wissenschaft<lb/>
gezeigt hat, daß sie nicht ohne die materielle Welt bestehen kann. Man muß<lb/>
Physiker, Psychophysikcr, Darwinist, kurz naturwissenschaftlicher Materialist sein,<lb/>
sich ganz in die Nachtansicht der Welt versenken, wie Fechner es gethan hat,<lb/>
man muß das Bedürfnis nach einer Tagesansicht so lebhaft empfinden, wie<lb/>
Fechner es empfunden hat &#x2014; dann erst wird man imstande sein, sich in die<lb/>
Tagesansicht hinein zu versetzen. Was Wunder, daß Fechner kein Publikum<lb/>
gefunden hat, daß er klagen muß: &#x201E;Wenn sich die Zuhörer die Ohren zuhalten,<lb/>
thut der Prediger am besten, er geht von der Kanzel."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_413"> Wozu diese lange Vorrede? Über wissenschaftliche Dinge läßt sich ur¬<lb/>
teilen: man kann sie darstellen, analysiren, das Wesentliche aus ihnen heraus-<lb/>
Präpariren. Mit Glaubenssachen ist es anders. Eine Predigt duldet keine<lb/>
Besprechung, keine Kritik; löst man sie von der Persönlichkeit des Predigers<lb/>
los, so sieht man freilich den Kern; aber die Schale war das Obst. Der<lb/>
Kern ist das Wesentliche, wenn es sich um die Fortpflanzung handelt; an der<lb/>
Frucht kann die Schale das Wesentliche sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_414"> Wir müssen uns darauf beschränken, die wichtigsten metaphysischen und<lb/>
religionsphilosophischen Schriften Fechners zu nennen, die Themata anzugeben,<lb/>
von denen sie handeln, und die Fuder aufzuzeigen, mit denen sie an die wissen¬<lb/>
schaftlichen Werke anknüpfen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_415" next="#ID_416"> Als Fechner nach feiner Ernennung zum ordentlichen Professor der Physik<lb/>
1835 in den Gasteiner Bergen Erholung suchte, schrieb er das &#x201E;Büchlein vom<lb/>
Leben nach dem Tode," worin er die ersten Keime seiner einheitlichen Lehre<lb/>
zur Entwicklung brachte, &#x201E;noch selber unklar über ihren tiefen Grund und ihre<lb/>
Kräfte und über manches lallend wie ein Kind." Den Anfang zu einem<lb/>
systematischen Aufbau dieser Lehre haben wir in der nach Fechners Genesung<lb/>
von seiner Augenkrankheit entstandenen, 1848 erschienenen Schrift: &#x201E;Nanna, oder<lb/>
über das Seelenleben der Pflanzen." Unter dem ungeteilten Beifall der Frauen¬<lb/>
welt und der ebenso ungeteilten Verwerfung von Seiten der Naturforscher und<lb/>
Philosophen suchte Fechner zu zeigen oder annehmbar zu machen, daß die<lb/>
Pflanzen eine empfindende Seele Hütten. &#x201E;Wohl manches Mädchen, manche<lb/>
Frau sah die Blumen, seit eine Seele ihr daraus entgegensah, selbst mit seelen¬<lb/>
vollerer Augen an und scheute sich beinahe, sie abzubrechen, wars auch nur</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grcnzlwten II. 1W8. l6</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0129] Zum Andenken Gustav Theodor Fechners. Als ein Einziger, Unsre Zeit ist nicht cirri an Versuchen, eine Versöh¬ nung zwischen der Wissenschaft und dem Glauben zu stiften. Gelehrte Patres und aufgeklärte Pastoren widmen sich diesem Berufe jeder auf seine Weise und gewinnen damit ein dankbares Publikum. Aber was will das heißen? Das Publikum hat doch nicht die letzten Folgerungen der mechanische» Naturerklarnng gezogen; es kennt die brennende Frage nur vom Hörensagen und aus der Zeitung. Daher läßt es sich leicht beruhigen. Fechners „Tagesansicht" ist kein Vermittlungsversuch, sondern eine Ant¬ wort auf die Frage, wie die ideale Welt sich ansieht, nachdem die Wissenschaft gezeigt hat, daß sie nicht ohne die materielle Welt bestehen kann. Man muß Physiker, Psychophysikcr, Darwinist, kurz naturwissenschaftlicher Materialist sein, sich ganz in die Nachtansicht der Welt versenken, wie Fechner es gethan hat, man muß das Bedürfnis nach einer Tagesansicht so lebhaft empfinden, wie Fechner es empfunden hat — dann erst wird man imstande sein, sich in die Tagesansicht hinein zu versetzen. Was Wunder, daß Fechner kein Publikum gefunden hat, daß er klagen muß: „Wenn sich die Zuhörer die Ohren zuhalten, thut der Prediger am besten, er geht von der Kanzel." Wozu diese lange Vorrede? Über wissenschaftliche Dinge läßt sich ur¬ teilen: man kann sie darstellen, analysiren, das Wesentliche aus ihnen heraus- Präpariren. Mit Glaubenssachen ist es anders. Eine Predigt duldet keine Besprechung, keine Kritik; löst man sie von der Persönlichkeit des Predigers los, so sieht man freilich den Kern; aber die Schale war das Obst. Der Kern ist das Wesentliche, wenn es sich um die Fortpflanzung handelt; an der Frucht kann die Schale das Wesentliche sein. Wir müssen uns darauf beschränken, die wichtigsten metaphysischen und religionsphilosophischen Schriften Fechners zu nennen, die Themata anzugeben, von denen sie handeln, und die Fuder aufzuzeigen, mit denen sie an die wissen¬ schaftlichen Werke anknüpfen. Als Fechner nach feiner Ernennung zum ordentlichen Professor der Physik 1835 in den Gasteiner Bergen Erholung suchte, schrieb er das „Büchlein vom Leben nach dem Tode," worin er die ersten Keime seiner einheitlichen Lehre zur Entwicklung brachte, „noch selber unklar über ihren tiefen Grund und ihre Kräfte und über manches lallend wie ein Kind." Den Anfang zu einem systematischen Aufbau dieser Lehre haben wir in der nach Fechners Genesung von seiner Augenkrankheit entstandenen, 1848 erschienenen Schrift: „Nanna, oder über das Seelenleben der Pflanzen." Unter dem ungeteilten Beifall der Frauen¬ welt und der ebenso ungeteilten Verwerfung von Seiten der Naturforscher und Philosophen suchte Fechner zu zeigen oder annehmbar zu machen, daß die Pflanzen eine empfindende Seele Hütten. „Wohl manches Mädchen, manche Frau sah die Blumen, seit eine Seele ihr daraus entgegensah, selbst mit seelen¬ vollerer Augen an und scheute sich beinahe, sie abzubrechen, wars auch nur Grcnzlwten II. 1W8. l6

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/129
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/129>, abgerufen am 28.07.2024.