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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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6>um Andenken Gustav Theodor Fechners.

Mittel für die Cholera" (1832), "Vergleichende Anatomie der Engel" (1825),
"Vier Paradoxa" (1846), einige Scherzrätsel u. s. w. In derselben Sammlung
sind auch zwei Abhandlungen wieder abgedruckt, die von Fechners Beziehungen
zur schönen Litteratur Zeugnis ablegen: eine Charakteristik Friedrich Rückerts,
die zu dem Besten gehört, was über Rückert je gesagt und geschrieben worden
ist, und "Heinrich Heine als Lyriker," ebenfalls eine Charakteristik von bleibendem
Wert für die Litteraturgeschichte und eine Musterleistung litterarischer Kritik.

Fechner zeigt eine gewisse geistige Verwandtschaft mit Rückert, wie in dein
erwähnten Aufsatz, so auch in dem Bändchen seiner, einem reichen Empfindungs¬
leben entquollenen "Gedichte" (1841), und die an Rückert erinnernden Vers¬
zeilen, ebenso wie die im Fechnerschen Geiste gehaltenen ästhetischen Betrachtungen
verraten, daß Fechner auch der Verfasser eines kurz vor seinem Tode anonym
erschienenen höchst launigen Schriftchens: "Zur Kritik des Leipziger Mende-
brunnens" ist.

F. A. Lange hat dnrch die Geschichte des Materialismus dem Vorurteil
entgegentreten wollen, welches in der mechanischen Naturerklärung den Feind
jeder idealistischen Weltweisheit sieht. Es ist kein Zweifel, daß Langes Buch
einen durchschlagenden Erfolg gehabt hat; gehört es doch zu den gelesensten
philosophischen Schriften. Aber das Vorurteil, das es zerstören wollte, besteht
trotzdem fort und wird fortbestehen, so lange die Naturforscher lehren, daß es
keine Erkenntnis gebe außer der mathematisch-physikalischen Erklärung der Er-
scheinungswelt, daß die Annahme einer Schöpfung von Substanz oder Kraft
ans nichts die zuverlässigsten Erkenntnismittel über den Haufen werfen würde,
und daß keine Regung unsrer Gedanken und des Willens unabhängig von
einem lebendigen Träger der sogenannten geistigen Vorgänge, unabhängig von
einem Gehirn, bestehen und sich ereignen könne.

Der Naturforscher braucht nur hinter seine Lehrsätze einen Punkt zu setzen,
so nimmt man ihn für einen Materialisten, indem man den Punkt ausdeutet:
also siud die Gedanken, Gefühle, Vorsätze, sind alle geistigen Regungen Gehirn-
fnnttionen und nichts als das; stirbt das Gehirn, so stirbt der Geist mit;
Gott ist für die mechanische Weltauffassung überflüssig. So wird das Vor¬
urteil lebendig erhalten, zumal da nur selten der Naturforscher daran erinnern
wird, daß der Punkt nur ein Punkt sein soll, und nicht ein Anknüpfungspunkt
einer neuen Gedankenreihe.

Für manchen Naturforscher wird eine ideale Welt neben der materiellen
Welt Wirklichkeit und Bedeutung haben; aber Amt und Beruf lassen nicht zu,
sich in den Zusammenhang beider Welten tiefer hineinzudenken, als zur eignen
Befriedigung nötig ist; darüber etwas allgemeines auszumachen, wird er meinen,
sei Sache der Philosophen oder Theologen. Und wer möchte sich zutrauen,
wozu Fechner als ein Einziger Mut und Kraft besaß, Naturforscher, Philosoph
und Prediger zugleich zu sein!


6>um Andenken Gustav Theodor Fechners.

Mittel für die Cholera" (1832), „Vergleichende Anatomie der Engel" (1825),
„Vier Paradoxa" (1846), einige Scherzrätsel u. s. w. In derselben Sammlung
sind auch zwei Abhandlungen wieder abgedruckt, die von Fechners Beziehungen
zur schönen Litteratur Zeugnis ablegen: eine Charakteristik Friedrich Rückerts,
die zu dem Besten gehört, was über Rückert je gesagt und geschrieben worden
ist, und „Heinrich Heine als Lyriker," ebenfalls eine Charakteristik von bleibendem
Wert für die Litteraturgeschichte und eine Musterleistung litterarischer Kritik.

Fechner zeigt eine gewisse geistige Verwandtschaft mit Rückert, wie in dein
erwähnten Aufsatz, so auch in dem Bändchen seiner, einem reichen Empfindungs¬
leben entquollenen „Gedichte" (1841), und die an Rückert erinnernden Vers¬
zeilen, ebenso wie die im Fechnerschen Geiste gehaltenen ästhetischen Betrachtungen
verraten, daß Fechner auch der Verfasser eines kurz vor seinem Tode anonym
erschienenen höchst launigen Schriftchens: „Zur Kritik des Leipziger Mende-
brunnens" ist.

F. A. Lange hat dnrch die Geschichte des Materialismus dem Vorurteil
entgegentreten wollen, welches in der mechanischen Naturerklärung den Feind
jeder idealistischen Weltweisheit sieht. Es ist kein Zweifel, daß Langes Buch
einen durchschlagenden Erfolg gehabt hat; gehört es doch zu den gelesensten
philosophischen Schriften. Aber das Vorurteil, das es zerstören wollte, besteht
trotzdem fort und wird fortbestehen, so lange die Naturforscher lehren, daß es
keine Erkenntnis gebe außer der mathematisch-physikalischen Erklärung der Er-
scheinungswelt, daß die Annahme einer Schöpfung von Substanz oder Kraft
ans nichts die zuverlässigsten Erkenntnismittel über den Haufen werfen würde,
und daß keine Regung unsrer Gedanken und des Willens unabhängig von
einem lebendigen Träger der sogenannten geistigen Vorgänge, unabhängig von
einem Gehirn, bestehen und sich ereignen könne.

Der Naturforscher braucht nur hinter seine Lehrsätze einen Punkt zu setzen,
so nimmt man ihn für einen Materialisten, indem man den Punkt ausdeutet:
also siud die Gedanken, Gefühle, Vorsätze, sind alle geistigen Regungen Gehirn-
fnnttionen und nichts als das; stirbt das Gehirn, so stirbt der Geist mit;
Gott ist für die mechanische Weltauffassung überflüssig. So wird das Vor¬
urteil lebendig erhalten, zumal da nur selten der Naturforscher daran erinnern
wird, daß der Punkt nur ein Punkt sein soll, und nicht ein Anknüpfungspunkt
einer neuen Gedankenreihe.

Für manchen Naturforscher wird eine ideale Welt neben der materiellen
Welt Wirklichkeit und Bedeutung haben; aber Amt und Beruf lassen nicht zu,
sich in den Zusammenhang beider Welten tiefer hineinzudenken, als zur eignen
Befriedigung nötig ist; darüber etwas allgemeines auszumachen, wird er meinen,
sei Sache der Philosophen oder Theologen. Und wer möchte sich zutrauen,
wozu Fechner als ein Einziger Mut und Kraft besaß, Naturforscher, Philosoph
und Prediger zugleich zu sein!


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/128>, abgerufen am 28.07.2024.