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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Der Boulangerismus in Paris.

hielte, bis zu der Altersgrenze für Divisionsgenerale in Nichtaktivität lassen.
Diese Grenze ist das fünfundsechzigste Jahr, und da Boulanger jetzt einund¬
fünfzig Jahre zählt, so könnte er vierzehn Jahre in seiner jetzigen Kaltstellung
verbleiben müssen. Sein Gehalt nebst Zubehör, bisher 30000 Franks, beträgt
in Zukunft nur den vierten Teil dessen, und er verliert überdies seine Senio-
rität und seine Rechte als Soldat. Die Freunde der Regierung sagen nun,
diese Strafe sei völlig in der Ordnung. Der General habe nicht nur des Un¬
gehorsams sich schuldig gemacht, sondern auch Täuschung seiner Vorgesetzten ver¬
übt, indem er seine Briefe an den Kriegsminister falsch datirt habe, um den
Schein zu erwecken, er befinde sich in Clermont, während er in Wahrheit in
Paris war. Aber was schlimmer ist, man hat Mitteilungen in der Hand, aus
denen mit Bestimmtheit hervorgeht, daß der General sich mit den Reaktionären
zum Sturze der Republik verständigt hat, weshalb ihm auch viele derselben bei
Wahlen ihre Stimme gegeben haben. Hätte man ihm den Befehl über das
dreizehnte Armeekorps gelassen, so wäre sehr wahrscheinlich über kurz oder lang
ein Pronunciamento von ihm versucht worden. Andre entgegnen: Der Vorwurf
des Ungehorsams gegen den Kriegsminister Logerot ist allerdings begründet;
denn Boulanger ist dreimal heimlich nach Paris gereist, obwohl ihm vom Mi"
nister der dazu erforderliche Urlaub verweigert worden war. Doch stehen ihm
mildernde Umstände zur Seite. Er wollte, wie er behauptet, bei diesen Reisen
seine schwer erkrankte Frau besuchen. Ein deutscher Offizier hätte darin un¬
möglich eine Entschuldigung für Verstöße gegen die Disziplin gesucht. Im
französischen Heere aber scheinen Gefühle bei solchen Gelegenheiten herkömmlich
mehr Geltung zu haben. Ferner macht Boulanger in seiner Verteidigung darauf
aufmerksam, daß ihm der erbetene Urlaub versagt worden sei, während man
ihn andern Korpskommandanten bereitwillig gewährt habe, und behauptet, er
sei ihm nur deshalb verweigert worden, weil die Regierung sich geärgert habe,
daß ihm bei den Abgeordnetenwahlen so viele Stimmen zugefallen seien. That¬
sache ist, daß es bei Generalen in der Provinz üblich ist, nach Paris zu fahren,
sobald es ihnen gefällt, und man führt aus den letzten Wochen ein Beispiel
an, wo ein halbes Dutzend derselben das Hauptquartier ihres Armeekorps ver¬
lassen hatte und bei einer Pariser Abendgesellschaft zugegen war. Auch an
der Verbindung des Generals mit den Parteien der Rechten scheint etwas zu
sein, obwohl er noch heute eine Anzahl von eifrigen Mitgliedern der äußersten
Linken des Abgeordnetenhauses zu Anhängern zählt und die radikale Presse sich
seiner Sache mit Hitze annimmt. Aber jene parlamentarischen Anhänger drohten
zwar mit einer Jnterpellation der Minister in Betreff der Gründe seiner Ma߬
regelung, unterließen jedoch lange, sie auszuführen, und die Vermutung ist be¬
rechtigt, daß sie sich davon abhalten ließen, weil sie Enthüllungen fürchteten.
Nehmen wir aber auch an, daß Tirard und seine Kollegen guten Grund hatten,
den General als verdächtig anzusehen, so fragt sich doch, ob es politisch weise


Der Boulangerismus in Paris.

hielte, bis zu der Altersgrenze für Divisionsgenerale in Nichtaktivität lassen.
Diese Grenze ist das fünfundsechzigste Jahr, und da Boulanger jetzt einund¬
fünfzig Jahre zählt, so könnte er vierzehn Jahre in seiner jetzigen Kaltstellung
verbleiben müssen. Sein Gehalt nebst Zubehör, bisher 30000 Franks, beträgt
in Zukunft nur den vierten Teil dessen, und er verliert überdies seine Senio-
rität und seine Rechte als Soldat. Die Freunde der Regierung sagen nun,
diese Strafe sei völlig in der Ordnung. Der General habe nicht nur des Un¬
gehorsams sich schuldig gemacht, sondern auch Täuschung seiner Vorgesetzten ver¬
übt, indem er seine Briefe an den Kriegsminister falsch datirt habe, um den
Schein zu erwecken, er befinde sich in Clermont, während er in Wahrheit in
Paris war. Aber was schlimmer ist, man hat Mitteilungen in der Hand, aus
denen mit Bestimmtheit hervorgeht, daß der General sich mit den Reaktionären
zum Sturze der Republik verständigt hat, weshalb ihm auch viele derselben bei
Wahlen ihre Stimme gegeben haben. Hätte man ihm den Befehl über das
dreizehnte Armeekorps gelassen, so wäre sehr wahrscheinlich über kurz oder lang
ein Pronunciamento von ihm versucht worden. Andre entgegnen: Der Vorwurf
des Ungehorsams gegen den Kriegsminister Logerot ist allerdings begründet;
denn Boulanger ist dreimal heimlich nach Paris gereist, obwohl ihm vom Mi«
nister der dazu erforderliche Urlaub verweigert worden war. Doch stehen ihm
mildernde Umstände zur Seite. Er wollte, wie er behauptet, bei diesen Reisen
seine schwer erkrankte Frau besuchen. Ein deutscher Offizier hätte darin un¬
möglich eine Entschuldigung für Verstöße gegen die Disziplin gesucht. Im
französischen Heere aber scheinen Gefühle bei solchen Gelegenheiten herkömmlich
mehr Geltung zu haben. Ferner macht Boulanger in seiner Verteidigung darauf
aufmerksam, daß ihm der erbetene Urlaub versagt worden sei, während man
ihn andern Korpskommandanten bereitwillig gewährt habe, und behauptet, er
sei ihm nur deshalb verweigert worden, weil die Regierung sich geärgert habe,
daß ihm bei den Abgeordnetenwahlen so viele Stimmen zugefallen seien. That¬
sache ist, daß es bei Generalen in der Provinz üblich ist, nach Paris zu fahren,
sobald es ihnen gefällt, und man führt aus den letzten Wochen ein Beispiel
an, wo ein halbes Dutzend derselben das Hauptquartier ihres Armeekorps ver¬
lassen hatte und bei einer Pariser Abendgesellschaft zugegen war. Auch an
der Verbindung des Generals mit den Parteien der Rechten scheint etwas zu
sein, obwohl er noch heute eine Anzahl von eifrigen Mitgliedern der äußersten
Linken des Abgeordnetenhauses zu Anhängern zählt und die radikale Presse sich
seiner Sache mit Hitze annimmt. Aber jene parlamentarischen Anhänger drohten
zwar mit einer Jnterpellation der Minister in Betreff der Gründe seiner Ma߬
regelung, unterließen jedoch lange, sie auszuführen, und die Vermutung ist be¬
rechtigt, daß sie sich davon abhalten ließen, weil sie Enthüllungen fürchteten.
Nehmen wir aber auch an, daß Tirard und seine Kollegen guten Grund hatten,
den General als verdächtig anzusehen, so fragt sich doch, ob es politisch weise


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/12>, abgerufen am 28.07.2024.