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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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In den Parlamentsferien.

er Parlamente hat sich eine unbehagliche Stimmung bemächtigt.
Überall Seufzer und laute Klagen über Mangel an Achtung
und Anerkennung, über Schmälerung des Einflusses, ja es ist
ein wahrer Wetteifer entbrannt, den Preis der Ohnmacht jeder
einzelnen Versammlung zuzuleiten. Wer trägt die Schuld an
diesem Winter des Mißvergnügens? In erster Linie, darüber sind die Oppo¬
sitionen in allen Ländern einig, die Regierungen, die sich Tag und Nacht mit
listigen Anschlägen gegen die in der Allmacht des Parlaments verkörperte Volks¬
freiheit tragen. Wenn man die nämlichen Beschuldigungen dort, wo "Reaktionäre"
oder "Moderados" oder "Progressiven" oder "Radikale" am Nuder stehen,
vernimmt, so wird das Vorhandensein anarchistischer Parteien begreiflich, denn
offenbar ist kein Charakter und keine Überzeugung stark genug, um dem unheil¬
vollen Einflüsse der Negierungsluft zu widerstehen; oder, wie das erst in jüngster
Zeit der einstige Unversöhnliche Tisza und der einstige Revolutionär Crispi
ausgedrückt haben: vom Ministerstuhle aus sieht man die Dinge anders an als
von der Oppositionsbank. Aber wenn die Regierungen die Hauptschuldigen sind,
so erhalten sie häufig das Volk als Mitangeklagten, das Volk, welches zu lau,
zu gleichgiltig gegen seine teuersten Interessen ist. Es giebt nur wenige lebende
Sprachen in Europa, in welchen nicht in letzter Zeit solche Anklageschriften ab¬
gefaßt worden wären.

Und leugnen läßt sich allerdings nicht, daß Zwiespalt zwischen Ministern
und Abgeordneten in der Auffassung der Stellung eines Parlaments im Staats¬
organismus fast überall an der Tagesordnung ist, und daß anderseits ebenso
allgemein der größte Teil der Bevölkerungen deutlich zu erkennen giebt, daß
ihm die parlamentarischen Verhandlungen nicht mehr so viel bedeuten wie


Grenzboten II. 1888. 13


In den Parlamentsferien.

er Parlamente hat sich eine unbehagliche Stimmung bemächtigt.
Überall Seufzer und laute Klagen über Mangel an Achtung
und Anerkennung, über Schmälerung des Einflusses, ja es ist
ein wahrer Wetteifer entbrannt, den Preis der Ohnmacht jeder
einzelnen Versammlung zuzuleiten. Wer trägt die Schuld an
diesem Winter des Mißvergnügens? In erster Linie, darüber sind die Oppo¬
sitionen in allen Ländern einig, die Regierungen, die sich Tag und Nacht mit
listigen Anschlägen gegen die in der Allmacht des Parlaments verkörperte Volks¬
freiheit tragen. Wenn man die nämlichen Beschuldigungen dort, wo „Reaktionäre"
oder „Moderados" oder „Progressiven" oder „Radikale" am Nuder stehen,
vernimmt, so wird das Vorhandensein anarchistischer Parteien begreiflich, denn
offenbar ist kein Charakter und keine Überzeugung stark genug, um dem unheil¬
vollen Einflüsse der Negierungsluft zu widerstehen; oder, wie das erst in jüngster
Zeit der einstige Unversöhnliche Tisza und der einstige Revolutionär Crispi
ausgedrückt haben: vom Ministerstuhle aus sieht man die Dinge anders an als
von der Oppositionsbank. Aber wenn die Regierungen die Hauptschuldigen sind,
so erhalten sie häufig das Volk als Mitangeklagten, das Volk, welches zu lau,
zu gleichgiltig gegen seine teuersten Interessen ist. Es giebt nur wenige lebende
Sprachen in Europa, in welchen nicht in letzter Zeit solche Anklageschriften ab¬
gefaßt worden wären.

Und leugnen läßt sich allerdings nicht, daß Zwiespalt zwischen Ministern
und Abgeordneten in der Auffassung der Stellung eines Parlaments im Staats¬
organismus fast überall an der Tagesordnung ist, und daß anderseits ebenso
allgemein der größte Teil der Bevölkerungen deutlich zu erkennen giebt, daß
ihm die parlamentarischen Verhandlungen nicht mehr so viel bedeuten wie


Grenzboten II. 1888. 13
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[0105] [Abbildung] In den Parlamentsferien. er Parlamente hat sich eine unbehagliche Stimmung bemächtigt. Überall Seufzer und laute Klagen über Mangel an Achtung und Anerkennung, über Schmälerung des Einflusses, ja es ist ein wahrer Wetteifer entbrannt, den Preis der Ohnmacht jeder einzelnen Versammlung zuzuleiten. Wer trägt die Schuld an diesem Winter des Mißvergnügens? In erster Linie, darüber sind die Oppo¬ sitionen in allen Ländern einig, die Regierungen, die sich Tag und Nacht mit listigen Anschlägen gegen die in der Allmacht des Parlaments verkörperte Volks¬ freiheit tragen. Wenn man die nämlichen Beschuldigungen dort, wo „Reaktionäre" oder „Moderados" oder „Progressiven" oder „Radikale" am Nuder stehen, vernimmt, so wird das Vorhandensein anarchistischer Parteien begreiflich, denn offenbar ist kein Charakter und keine Überzeugung stark genug, um dem unheil¬ vollen Einflüsse der Negierungsluft zu widerstehen; oder, wie das erst in jüngster Zeit der einstige Unversöhnliche Tisza und der einstige Revolutionär Crispi ausgedrückt haben: vom Ministerstuhle aus sieht man die Dinge anders an als von der Oppositionsbank. Aber wenn die Regierungen die Hauptschuldigen sind, so erhalten sie häufig das Volk als Mitangeklagten, das Volk, welches zu lau, zu gleichgiltig gegen seine teuersten Interessen ist. Es giebt nur wenige lebende Sprachen in Europa, in welchen nicht in letzter Zeit solche Anklageschriften ab¬ gefaßt worden wären. Und leugnen läßt sich allerdings nicht, daß Zwiespalt zwischen Ministern und Abgeordneten in der Auffassung der Stellung eines Parlaments im Staats¬ organismus fast überall an der Tagesordnung ist, und daß anderseits ebenso allgemein der größte Teil der Bevölkerungen deutlich zu erkennen giebt, daß ihm die parlamentarischen Verhandlungen nicht mehr so viel bedeuten wie Grenzboten II. 1888. 13

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/105>, abgerufen am 01.09.2024.