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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Ricks Lyhne.

Farben und Linien ertränkt: so ergriff die Geschichte des Knaben Gefühle und
Gedanken, eigne wie fremde, ergriff Menschen und Begebenheiten, Leben und
Bücher, so gut sie sie ergreifen konnte. Es war gleichsam ein Leben, das
neben dem wirklichen Leben gespielt wurde, es war ein trautes, heimliches Ver¬
steck, wo sich so süß von den wildesten Abenteuern träumen ließ, es war ein
Märchengarten, der sich auf den leisesten Wink öffnete, der den Knaben einließ
in seine ganze Herrlichkeit, der alle andern ausschloß. Von oben war dieser
Garten durch säuselnde Palmen geschlossen, und unten zwischen Blumen aus
Sonne und Blättern auf Sternen, auf Korallenzweigen, da eröffneten sich
tausend Wege zu allen Ländern und allen Zeiten; schlug man den einen Weg
ein, so gelangte man hierhin, und auf dem andern gelangte man dorthin -- zu
Aladdin, zu Robinson Crusoe, zu Vaulunder und Henrik Magnard, zu Ricks
Kliu und Mungo Park, zu Peter Simpel und zu Odysseus -- und sobald
man es nnr wünschte, war man wieder daheim.

Ungefähr einen Monat nach Ricks' zwölften Geburtstage waren zwei neue
Gesichter auf Lönborggaard erschienen.

Das eine war das des neuen Hauslehrers, das andre gehörte Edele
Lyhne.

Der Hauslehrer, Herr Bigum, war Kandidat der Theologie und stand auf
der Schwelle der Vierziger. Er war klein, aber kräftig, von fast lasttiermäßigem
Bau, mit breiter Brust, hochschultrig und stiernackig. Seine Arme waren lang,
die Beine stark und kurz, die Füße breit. Sein Gang war langsam, schwer
und energisch, seine Armbewegungen waren unbestimmt, ausdruckslos und er¬
forderten viel Platz. Er war rotbärtig wie ein Wilder, und seine Haut war
mit Sommersprossen bedeckt. Seine große, hohe Stirn war flach wie eine
Wand, zwischen den Augenbrauen hatte er ein paar lotrechte Runzeln, die
Nase war kurz und plump, der Mund groß mit dicken, frischen Lippen. Das
schönste an ihm waren seine Augen, sie waren hell, sanft und klar. An den
Bewegungen der Augäpfel konnte man sehen, daß er ein wenig schwerhörig
war. Dies verhinderte ihn aber nicht, die Musik zu lieben und ein leiden¬
schaftlicher Violinspieler zu sein; denn er sagte, man höre die Töne nicht
mit den Ohren allein, der ganze Körper höre, die Augen, die Finger, die
Füße, und ließe uns auch das Ohr einmal im Stich, würde doch die Hand
den rechten Ton zu finden wissen, auch ohne Hilfe des Gehörs. Und
schließlich seien doch alle hörbaren Töne falsch, wem aber einmal die Gnaden¬
gabe der Töne beschert sei, der besitze in seinem Innern ein unsichtbares In¬
strument, gegen das die herrlichste Cremoneser Geige nur wie die Nalebaß-
violine der Wilden sei, und auf diesem Instrumente spiele die Seele, auf seinen
Saiten erklangen die idealen Töne, und auf ihm hätten die großen Tondichter
ihre unsterblichen Werke komponirt. Die äußerliche Musik, die die Luft der
Wirklichkeit durchbebt und die man mit den Ohren vernimmt, sei nur eine arm-


Ricks Lyhne.

Farben und Linien ertränkt: so ergriff die Geschichte des Knaben Gefühle und
Gedanken, eigne wie fremde, ergriff Menschen und Begebenheiten, Leben und
Bücher, so gut sie sie ergreifen konnte. Es war gleichsam ein Leben, das
neben dem wirklichen Leben gespielt wurde, es war ein trautes, heimliches Ver¬
steck, wo sich so süß von den wildesten Abenteuern träumen ließ, es war ein
Märchengarten, der sich auf den leisesten Wink öffnete, der den Knaben einließ
in seine ganze Herrlichkeit, der alle andern ausschloß. Von oben war dieser
Garten durch säuselnde Palmen geschlossen, und unten zwischen Blumen aus
Sonne und Blättern auf Sternen, auf Korallenzweigen, da eröffneten sich
tausend Wege zu allen Ländern und allen Zeiten; schlug man den einen Weg
ein, so gelangte man hierhin, und auf dem andern gelangte man dorthin — zu
Aladdin, zu Robinson Crusoe, zu Vaulunder und Henrik Magnard, zu Ricks
Kliu und Mungo Park, zu Peter Simpel und zu Odysseus — und sobald
man es nnr wünschte, war man wieder daheim.

Ungefähr einen Monat nach Ricks' zwölften Geburtstage waren zwei neue
Gesichter auf Lönborggaard erschienen.

Das eine war das des neuen Hauslehrers, das andre gehörte Edele
Lyhne.

Der Hauslehrer, Herr Bigum, war Kandidat der Theologie und stand auf
der Schwelle der Vierziger. Er war klein, aber kräftig, von fast lasttiermäßigem
Bau, mit breiter Brust, hochschultrig und stiernackig. Seine Arme waren lang,
die Beine stark und kurz, die Füße breit. Sein Gang war langsam, schwer
und energisch, seine Armbewegungen waren unbestimmt, ausdruckslos und er¬
forderten viel Platz. Er war rotbärtig wie ein Wilder, und seine Haut war
mit Sommersprossen bedeckt. Seine große, hohe Stirn war flach wie eine
Wand, zwischen den Augenbrauen hatte er ein paar lotrechte Runzeln, die
Nase war kurz und plump, der Mund groß mit dicken, frischen Lippen. Das
schönste an ihm waren seine Augen, sie waren hell, sanft und klar. An den
Bewegungen der Augäpfel konnte man sehen, daß er ein wenig schwerhörig
war. Dies verhinderte ihn aber nicht, die Musik zu lieben und ein leiden¬
schaftlicher Violinspieler zu sein; denn er sagte, man höre die Töne nicht
mit den Ohren allein, der ganze Körper höre, die Augen, die Finger, die
Füße, und ließe uns auch das Ohr einmal im Stich, würde doch die Hand
den rechten Ton zu finden wissen, auch ohne Hilfe des Gehörs. Und
schließlich seien doch alle hörbaren Töne falsch, wem aber einmal die Gnaden¬
gabe der Töne beschert sei, der besitze in seinem Innern ein unsichtbares In¬
strument, gegen das die herrlichste Cremoneser Geige nur wie die Nalebaß-
violine der Wilden sei, und auf diesem Instrumente spiele die Seele, auf seinen
Saiten erklangen die idealen Töne, und auf ihm hätten die großen Tondichter
ihre unsterblichen Werke komponirt. Die äußerliche Musik, die die Luft der
Wirklichkeit durchbebt und die man mit den Ohren vernimmt, sei nur eine arm-


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[0103] Ricks Lyhne. Farben und Linien ertränkt: so ergriff die Geschichte des Knaben Gefühle und Gedanken, eigne wie fremde, ergriff Menschen und Begebenheiten, Leben und Bücher, so gut sie sie ergreifen konnte. Es war gleichsam ein Leben, das neben dem wirklichen Leben gespielt wurde, es war ein trautes, heimliches Ver¬ steck, wo sich so süß von den wildesten Abenteuern träumen ließ, es war ein Märchengarten, der sich auf den leisesten Wink öffnete, der den Knaben einließ in seine ganze Herrlichkeit, der alle andern ausschloß. Von oben war dieser Garten durch säuselnde Palmen geschlossen, und unten zwischen Blumen aus Sonne und Blättern auf Sternen, auf Korallenzweigen, da eröffneten sich tausend Wege zu allen Ländern und allen Zeiten; schlug man den einen Weg ein, so gelangte man hierhin, und auf dem andern gelangte man dorthin — zu Aladdin, zu Robinson Crusoe, zu Vaulunder und Henrik Magnard, zu Ricks Kliu und Mungo Park, zu Peter Simpel und zu Odysseus — und sobald man es nnr wünschte, war man wieder daheim. Ungefähr einen Monat nach Ricks' zwölften Geburtstage waren zwei neue Gesichter auf Lönborggaard erschienen. Das eine war das des neuen Hauslehrers, das andre gehörte Edele Lyhne. Der Hauslehrer, Herr Bigum, war Kandidat der Theologie und stand auf der Schwelle der Vierziger. Er war klein, aber kräftig, von fast lasttiermäßigem Bau, mit breiter Brust, hochschultrig und stiernackig. Seine Arme waren lang, die Beine stark und kurz, die Füße breit. Sein Gang war langsam, schwer und energisch, seine Armbewegungen waren unbestimmt, ausdruckslos und er¬ forderten viel Platz. Er war rotbärtig wie ein Wilder, und seine Haut war mit Sommersprossen bedeckt. Seine große, hohe Stirn war flach wie eine Wand, zwischen den Augenbrauen hatte er ein paar lotrechte Runzeln, die Nase war kurz und plump, der Mund groß mit dicken, frischen Lippen. Das schönste an ihm waren seine Augen, sie waren hell, sanft und klar. An den Bewegungen der Augäpfel konnte man sehen, daß er ein wenig schwerhörig war. Dies verhinderte ihn aber nicht, die Musik zu lieben und ein leiden¬ schaftlicher Violinspieler zu sein; denn er sagte, man höre die Töne nicht mit den Ohren allein, der ganze Körper höre, die Augen, die Finger, die Füße, und ließe uns auch das Ohr einmal im Stich, würde doch die Hand den rechten Ton zu finden wissen, auch ohne Hilfe des Gehörs. Und schließlich seien doch alle hörbaren Töne falsch, wem aber einmal die Gnaden¬ gabe der Töne beschert sei, der besitze in seinem Innern ein unsichtbares In¬ strument, gegen das die herrlichste Cremoneser Geige nur wie die Nalebaß- violine der Wilden sei, und auf diesem Instrumente spiele die Seele, auf seinen Saiten erklangen die idealen Töne, und auf ihm hätten die großen Tondichter ihre unsterblichen Werke komponirt. Die äußerliche Musik, die die Luft der Wirklichkeit durchbebt und die man mit den Ohren vernimmt, sei nur eine arm-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/103>, abgerufen am 01.09.2024.