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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Ricks Lyhne.

noch gute Weile damit hatte, daß dies alles erst kommen würde, nachdem er
groß geworden.

Wie die Traumgebilde und Traumtöne einer Nacht am hellen Tage wieder¬
kehren und in Nebelgestalt den Gedanken anrufen können, sodaß dieser eine
flüchtige Sekunde gleichsam lauscht und sich staunend fragt, ob es wohl wirklich
gerufen habe -- so zogen die Vorstellungen von jener traumhaften Zukunft
leise über Ricks Lyhnes Kindheitstagc hin und erinnerten ihn ohn Unterlaß,
daß dieser glücklichen Zeit ein Ziel gesteckt sei, und daß sie eines Tags nicht
mehr sein werde.

Dies Bewußtsein erzeugte den brennenden Wunsch, das Kindheitsleben in
seiner ganzen Fülle zu genießen, es mit allen Sinnen einzusaugen, keinen
Tropfen zu vergeuden, auch nicht einen einzigen, und so kam es, daß eine Innig¬
keit in seinen Spielen lag, die sich unter dem Drucke des beängstigenden Gefühls,
daß ihm die Zeit entrann, ohne daß er aus ihren reichen Wogen alles, was sie
Welle auf Welle brachte, hatte bergen können, zu einer wahren Leidenschaft
steigerte. Er konnte sich an die Erde werfen und vor Verzweiflung schluchzen,
wenn er sich einmal an einem Ferientage langweilte, weil ihm irgend etwas
fehlte, ein Spielkamerad, Erfindungsgabe oder gutes Wetter. Aus diesem
Grunde ging er auch stets so ungern zu Bette, weil der Schlaf das Ereignis¬
lose, das völlig Empfindungslose war. Aber es war nicht immer so.

Es geschah auch wohl, daß er ermüdete, daß seine Phantasie nicht die ge¬
ringsten Farben mehr besaß. Dann fühlte er sich unsagbar elend, er fühlte
sich zu klein, zu nichtig für jme ehrgeizigen Träume, ja es schien ihm, als sei
er ein unwürdiger Lügner, der sich in frechem Übermut den Schein gegeben habe,
als liebe er das Große und Edle, als verstehe er es, während er doch in Wirklich¬
keit das Alltägliche liebte, während alle niedrigen Wünsche und Begierden in
ihm lebten; oft sogar war es ihm, als empfinde er den ganzen Klassenhaß
der niedrig gebornen gegen die höhergestellten, als würde er sich mit Wonne
an der Steinigung dieser Herren beteiligen können, die aus edleren Geblüt waren
als er, und die es wußten, daß sie es waren.

In solchen Zeiten mied er seine Mutter, und mit einem Gefühl, als
folge er einem weniger edeln Instinkt, hielt er sich zu dem Vater. Er hatte
dann ein williges Ohr und einen empfänglichen Sinn für alle an der Erde
klebenden Gedanken und traumlosen Erklärungen desselben. Und er fühlte sich
so wohl bei dem Vater, war so glücklich, daß er beinahe vergaß, es sei dies der¬
selbe Vater, auf den er sonst von den Zinnen seines Traumschlosses als einen
Uncbeubürtigcn mitleidig herabgesehen hatte.

Freilich stand dies alles vor seinem kindlichen Bewußtsein nicht mit der
Klarheit und Bestimmtheit, die ihm durch das ausgesprochene Wort verliehen
wird; es war in einer nicht greifbaren, erst werdenden Form vorhanden, gleichsam
unfertig, ungeboren, nicht unähnlich der wunderbaren Pflanzenwelt auf dem


Ricks Lyhne.

noch gute Weile damit hatte, daß dies alles erst kommen würde, nachdem er
groß geworden.

Wie die Traumgebilde und Traumtöne einer Nacht am hellen Tage wieder¬
kehren und in Nebelgestalt den Gedanken anrufen können, sodaß dieser eine
flüchtige Sekunde gleichsam lauscht und sich staunend fragt, ob es wohl wirklich
gerufen habe — so zogen die Vorstellungen von jener traumhaften Zukunft
leise über Ricks Lyhnes Kindheitstagc hin und erinnerten ihn ohn Unterlaß,
daß dieser glücklichen Zeit ein Ziel gesteckt sei, und daß sie eines Tags nicht
mehr sein werde.

Dies Bewußtsein erzeugte den brennenden Wunsch, das Kindheitsleben in
seiner ganzen Fülle zu genießen, es mit allen Sinnen einzusaugen, keinen
Tropfen zu vergeuden, auch nicht einen einzigen, und so kam es, daß eine Innig¬
keit in seinen Spielen lag, die sich unter dem Drucke des beängstigenden Gefühls,
daß ihm die Zeit entrann, ohne daß er aus ihren reichen Wogen alles, was sie
Welle auf Welle brachte, hatte bergen können, zu einer wahren Leidenschaft
steigerte. Er konnte sich an die Erde werfen und vor Verzweiflung schluchzen,
wenn er sich einmal an einem Ferientage langweilte, weil ihm irgend etwas
fehlte, ein Spielkamerad, Erfindungsgabe oder gutes Wetter. Aus diesem
Grunde ging er auch stets so ungern zu Bette, weil der Schlaf das Ereignis¬
lose, das völlig Empfindungslose war. Aber es war nicht immer so.

Es geschah auch wohl, daß er ermüdete, daß seine Phantasie nicht die ge¬
ringsten Farben mehr besaß. Dann fühlte er sich unsagbar elend, er fühlte
sich zu klein, zu nichtig für jme ehrgeizigen Träume, ja es schien ihm, als sei
er ein unwürdiger Lügner, der sich in frechem Übermut den Schein gegeben habe,
als liebe er das Große und Edle, als verstehe er es, während er doch in Wirklich¬
keit das Alltägliche liebte, während alle niedrigen Wünsche und Begierden in
ihm lebten; oft sogar war es ihm, als empfinde er den ganzen Klassenhaß
der niedrig gebornen gegen die höhergestellten, als würde er sich mit Wonne
an der Steinigung dieser Herren beteiligen können, die aus edleren Geblüt waren
als er, und die es wußten, daß sie es waren.

In solchen Zeiten mied er seine Mutter, und mit einem Gefühl, als
folge er einem weniger edeln Instinkt, hielt er sich zu dem Vater. Er hatte
dann ein williges Ohr und einen empfänglichen Sinn für alle an der Erde
klebenden Gedanken und traumlosen Erklärungen desselben. Und er fühlte sich
so wohl bei dem Vater, war so glücklich, daß er beinahe vergaß, es sei dies der¬
selbe Vater, auf den er sonst von den Zinnen seines Traumschlosses als einen
Uncbeubürtigcn mitleidig herabgesehen hatte.

Freilich stand dies alles vor seinem kindlichen Bewußtsein nicht mit der
Klarheit und Bestimmtheit, die ihm durch das ausgesprochene Wort verliehen
wird; es war in einer nicht greifbaren, erst werdenden Form vorhanden, gleichsam
unfertig, ungeboren, nicht unähnlich der wunderbaren Pflanzenwelt auf dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/100>, abgerufen am 01.09.2024.