Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Denkmäler der griechischen und römischen Skulptur.

Winckelmann für seine Zeit gelöst hatte, unter andern Verhältnissen gerecht zu
werden. Vielleicht ist es unmöglich, so hört man und so möchte man wenigstens
in unserm litterarisch so massenhaft produzirenden Zeitalter glauben. In der
That, die Aufgabe wird mit jedem Jahre schwieriger und gewinnt im Ver¬
hältnis zu dem sich stetig mehrenden Denkmälervorrat an Ausdehnung. Die
Folge ist, daß man sich ausschließlich auf Einzeluntersuchungen kunstgeschicht¬
licher, knnstmytholvgischer, topographischer und kunstästhetischer Art beschränkt
und der Deutung der einzelnen Dcnkmälerklassen ein weites Feld eingeräumt hat.
Bevor das Haus gebaut werden kann, müssen die Steine beHauen, muß das Ma¬
terial zusammengetragen und gesichtet sein. Da fehlt es begreiflicherweise nicht an
Versuchen, das Material, um bei dem gewählten Bilde zu bleiben, auf dem Plane
so vor aller Augen auszubreiten, daß es jeder selbst sehen und untersuchen kann.

Das Ziel einer jeden kunstgeschichtlichen Untersuchung ist auf dem Ver¬
ständnis der Form aufgebaut. Zu diesem leitet die Kenntnis der Quellen, der
Denkmäler. "Wenn wir vom Philologen erwarten -- so äußert sich einmal
Heinrich Brunn --, daß er vor allem seine Autoren als die Quellen seiner
Wissenschaft eifrig studire, so sollen wir ebenso vom Archäologen erwarten, daß
er sich in erster Linie mit seinen Quellen, d. h. mit den Monumenten, in um¬
fassender Weise vertraut mache. Wenn der Philolog seine Autoren so viel als
möglich aus sich selbst, aus ihren individuelle,: Eigentümlichkeiten erklärt, so
erscheint es doch selbstverständlich, daß auch der Archäologe bei der Erklärung
vom Monument selbst ausgehe." Diese Wahrheit scheint naiv, weil selbst¬
verständlich zu sein. Brunn weiß aber, warum er zwischen Kunstgelehrten und
Schriftgelehrten unterscheidet.

Der Anblick der Denkmäler in den Originalen ist, wenn auch von den
meiste" Archäologen größere Studienreisen unternommen werden, doch manchem
unmöglich, vielen im gegebenen Falle versagt. Zur Unterstützung des Urteils,
zur Ermöglichung des Vergleiches verschiedner Denkmäler untereinander bedarf
jeder, selbst der, welcher an der Quelle sitzt, bestimmter Hilfsmittel, der Nach¬
bildungen, sei es in Abgüsse" oder in Wiedergabe durch die verschiedensten
künstlerischen und technischen Verfahren bewerkstelligten graphischen Mittel. Nun
ersetzen zwar die Sammlungen von Gipsabgüssen, wie sie in einer systematisch, sei
es historisch oder typvlogisch, angeordneten Ausmahl namentlich die Universitäten
besitzen, die Originale am vollständigsten, insofern sie eine getreue Wiedergabe
der Form und all ihrer Einzelheiten ermöglichen und ein Urteil, abgesehen
von der Art des verarbeiteten Materials und etwa vorhandener Ergänzungen,
wie am Original gestatten. Indessen ist die Zahl dieser Sammlungen noch
verhältnismäßig gering, ihr Bestand infolge äußerer Umstände verhältnismäßig
klein und ihre Benutzung beschrüukt. Eine Wiedergabe der Monumente durch
graphische Mittel kann man, selbst wenn man das größte Museum von Ab¬
güssen zur Verfügung hat, nicht entbehren.


Denkmäler der griechischen und römischen Skulptur.

Winckelmann für seine Zeit gelöst hatte, unter andern Verhältnissen gerecht zu
werden. Vielleicht ist es unmöglich, so hört man und so möchte man wenigstens
in unserm litterarisch so massenhaft produzirenden Zeitalter glauben. In der
That, die Aufgabe wird mit jedem Jahre schwieriger und gewinnt im Ver¬
hältnis zu dem sich stetig mehrenden Denkmälervorrat an Ausdehnung. Die
Folge ist, daß man sich ausschließlich auf Einzeluntersuchungen kunstgeschicht¬
licher, knnstmytholvgischer, topographischer und kunstästhetischer Art beschränkt
und der Deutung der einzelnen Dcnkmälerklassen ein weites Feld eingeräumt hat.
Bevor das Haus gebaut werden kann, müssen die Steine beHauen, muß das Ma¬
terial zusammengetragen und gesichtet sein. Da fehlt es begreiflicherweise nicht an
Versuchen, das Material, um bei dem gewählten Bilde zu bleiben, auf dem Plane
so vor aller Augen auszubreiten, daß es jeder selbst sehen und untersuchen kann.

Das Ziel einer jeden kunstgeschichtlichen Untersuchung ist auf dem Ver¬
ständnis der Form aufgebaut. Zu diesem leitet die Kenntnis der Quellen, der
Denkmäler. „Wenn wir vom Philologen erwarten — so äußert sich einmal
Heinrich Brunn —, daß er vor allem seine Autoren als die Quellen seiner
Wissenschaft eifrig studire, so sollen wir ebenso vom Archäologen erwarten, daß
er sich in erster Linie mit seinen Quellen, d. h. mit den Monumenten, in um¬
fassender Weise vertraut mache. Wenn der Philolog seine Autoren so viel als
möglich aus sich selbst, aus ihren individuelle,: Eigentümlichkeiten erklärt, so
erscheint es doch selbstverständlich, daß auch der Archäologe bei der Erklärung
vom Monument selbst ausgehe." Diese Wahrheit scheint naiv, weil selbst¬
verständlich zu sein. Brunn weiß aber, warum er zwischen Kunstgelehrten und
Schriftgelehrten unterscheidet.

Der Anblick der Denkmäler in den Originalen ist, wenn auch von den
meiste» Archäologen größere Studienreisen unternommen werden, doch manchem
unmöglich, vielen im gegebenen Falle versagt. Zur Unterstützung des Urteils,
zur Ermöglichung des Vergleiches verschiedner Denkmäler untereinander bedarf
jeder, selbst der, welcher an der Quelle sitzt, bestimmter Hilfsmittel, der Nach¬
bildungen, sei es in Abgüsse» oder in Wiedergabe durch die verschiedensten
künstlerischen und technischen Verfahren bewerkstelligten graphischen Mittel. Nun
ersetzen zwar die Sammlungen von Gipsabgüssen, wie sie in einer systematisch, sei
es historisch oder typvlogisch, angeordneten Ausmahl namentlich die Universitäten
besitzen, die Originale am vollständigsten, insofern sie eine getreue Wiedergabe
der Form und all ihrer Einzelheiten ermöglichen und ein Urteil, abgesehen
von der Art des verarbeiteten Materials und etwa vorhandener Ergänzungen,
wie am Original gestatten. Indessen ist die Zahl dieser Sammlungen noch
verhältnismäßig gering, ihr Bestand infolge äußerer Umstände verhältnismäßig
klein und ihre Benutzung beschrüukt. Eine Wiedergabe der Monumente durch
graphische Mittel kann man, selbst wenn man das größte Museum von Ab¬
güssen zur Verfügung hat, nicht entbehren.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0655" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/202754"/>
          <fw type="header" place="top"> Denkmäler der griechischen und römischen Skulptur.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2295" prev="#ID_2294"> Winckelmann für seine Zeit gelöst hatte, unter andern Verhältnissen gerecht zu<lb/>
werden. Vielleicht ist es unmöglich, so hört man und so möchte man wenigstens<lb/>
in unserm litterarisch so massenhaft produzirenden Zeitalter glauben. In der<lb/>
That, die Aufgabe wird mit jedem Jahre schwieriger und gewinnt im Ver¬<lb/>
hältnis zu dem sich stetig mehrenden Denkmälervorrat an Ausdehnung. Die<lb/>
Folge ist, daß man sich ausschließlich auf Einzeluntersuchungen kunstgeschicht¬<lb/>
licher, knnstmytholvgischer, topographischer und kunstästhetischer Art beschränkt<lb/>
und der Deutung der einzelnen Dcnkmälerklassen ein weites Feld eingeräumt hat.<lb/>
Bevor das Haus gebaut werden kann, müssen die Steine beHauen, muß das Ma¬<lb/>
terial zusammengetragen und gesichtet sein. Da fehlt es begreiflicherweise nicht an<lb/>
Versuchen, das Material, um bei dem gewählten Bilde zu bleiben, auf dem Plane<lb/>
so vor aller Augen auszubreiten, daß es jeder selbst sehen und untersuchen kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2296"> Das Ziel einer jeden kunstgeschichtlichen Untersuchung ist auf dem Ver¬<lb/>
ständnis der Form aufgebaut. Zu diesem leitet die Kenntnis der Quellen, der<lb/>
Denkmäler. &#x201E;Wenn wir vom Philologen erwarten &#x2014; so äußert sich einmal<lb/>
Heinrich Brunn &#x2014;, daß er vor allem seine Autoren als die Quellen seiner<lb/>
Wissenschaft eifrig studire, so sollen wir ebenso vom Archäologen erwarten, daß<lb/>
er sich in erster Linie mit seinen Quellen, d. h. mit den Monumenten, in um¬<lb/>
fassender Weise vertraut mache. Wenn der Philolog seine Autoren so viel als<lb/>
möglich aus sich selbst, aus ihren individuelle,: Eigentümlichkeiten erklärt, so<lb/>
erscheint es doch selbstverständlich, daß auch der Archäologe bei der Erklärung<lb/>
vom Monument selbst ausgehe." Diese Wahrheit scheint naiv, weil selbst¬<lb/>
verständlich zu sein. Brunn weiß aber, warum er zwischen Kunstgelehrten und<lb/>
Schriftgelehrten unterscheidet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2297"> Der Anblick der Denkmäler in den Originalen ist, wenn auch von den<lb/>
meiste» Archäologen größere Studienreisen unternommen werden, doch manchem<lb/>
unmöglich, vielen im gegebenen Falle versagt. Zur Unterstützung des Urteils,<lb/>
zur Ermöglichung des Vergleiches verschiedner Denkmäler untereinander bedarf<lb/>
jeder, selbst der, welcher an der Quelle sitzt, bestimmter Hilfsmittel, der Nach¬<lb/>
bildungen, sei es in Abgüsse» oder in Wiedergabe durch die verschiedensten<lb/>
künstlerischen und technischen Verfahren bewerkstelligten graphischen Mittel. Nun<lb/>
ersetzen zwar die Sammlungen von Gipsabgüssen, wie sie in einer systematisch, sei<lb/>
es historisch oder typvlogisch, angeordneten Ausmahl namentlich die Universitäten<lb/>
besitzen, die Originale am vollständigsten, insofern sie eine getreue Wiedergabe<lb/>
der Form und all ihrer Einzelheiten ermöglichen und ein Urteil, abgesehen<lb/>
von der Art des verarbeiteten Materials und etwa vorhandener Ergänzungen,<lb/>
wie am Original gestatten. Indessen ist die Zahl dieser Sammlungen noch<lb/>
verhältnismäßig gering, ihr Bestand infolge äußerer Umstände verhältnismäßig<lb/>
klein und ihre Benutzung beschrüukt. Eine Wiedergabe der Monumente durch<lb/>
graphische Mittel kann man, selbst wenn man das größte Museum von Ab¬<lb/>
güssen zur Verfügung hat, nicht entbehren.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0655] Denkmäler der griechischen und römischen Skulptur. Winckelmann für seine Zeit gelöst hatte, unter andern Verhältnissen gerecht zu werden. Vielleicht ist es unmöglich, so hört man und so möchte man wenigstens in unserm litterarisch so massenhaft produzirenden Zeitalter glauben. In der That, die Aufgabe wird mit jedem Jahre schwieriger und gewinnt im Ver¬ hältnis zu dem sich stetig mehrenden Denkmälervorrat an Ausdehnung. Die Folge ist, daß man sich ausschließlich auf Einzeluntersuchungen kunstgeschicht¬ licher, knnstmytholvgischer, topographischer und kunstästhetischer Art beschränkt und der Deutung der einzelnen Dcnkmälerklassen ein weites Feld eingeräumt hat. Bevor das Haus gebaut werden kann, müssen die Steine beHauen, muß das Ma¬ terial zusammengetragen und gesichtet sein. Da fehlt es begreiflicherweise nicht an Versuchen, das Material, um bei dem gewählten Bilde zu bleiben, auf dem Plane so vor aller Augen auszubreiten, daß es jeder selbst sehen und untersuchen kann. Das Ziel einer jeden kunstgeschichtlichen Untersuchung ist auf dem Ver¬ ständnis der Form aufgebaut. Zu diesem leitet die Kenntnis der Quellen, der Denkmäler. „Wenn wir vom Philologen erwarten — so äußert sich einmal Heinrich Brunn —, daß er vor allem seine Autoren als die Quellen seiner Wissenschaft eifrig studire, so sollen wir ebenso vom Archäologen erwarten, daß er sich in erster Linie mit seinen Quellen, d. h. mit den Monumenten, in um¬ fassender Weise vertraut mache. Wenn der Philolog seine Autoren so viel als möglich aus sich selbst, aus ihren individuelle,: Eigentümlichkeiten erklärt, so erscheint es doch selbstverständlich, daß auch der Archäologe bei der Erklärung vom Monument selbst ausgehe." Diese Wahrheit scheint naiv, weil selbst¬ verständlich zu sein. Brunn weiß aber, warum er zwischen Kunstgelehrten und Schriftgelehrten unterscheidet. Der Anblick der Denkmäler in den Originalen ist, wenn auch von den meiste» Archäologen größere Studienreisen unternommen werden, doch manchem unmöglich, vielen im gegebenen Falle versagt. Zur Unterstützung des Urteils, zur Ermöglichung des Vergleiches verschiedner Denkmäler untereinander bedarf jeder, selbst der, welcher an der Quelle sitzt, bestimmter Hilfsmittel, der Nach¬ bildungen, sei es in Abgüsse» oder in Wiedergabe durch die verschiedensten künstlerischen und technischen Verfahren bewerkstelligten graphischen Mittel. Nun ersetzen zwar die Sammlungen von Gipsabgüssen, wie sie in einer systematisch, sei es historisch oder typvlogisch, angeordneten Ausmahl namentlich die Universitäten besitzen, die Originale am vollständigsten, insofern sie eine getreue Wiedergabe der Form und all ihrer Einzelheiten ermöglichen und ein Urteil, abgesehen von der Art des verarbeiteten Materials und etwa vorhandener Ergänzungen, wie am Original gestatten. Indessen ist die Zahl dieser Sammlungen noch verhältnismäßig gering, ihr Bestand infolge äußerer Umstände verhältnismäßig klein und ihre Benutzung beschrüukt. Eine Wiedergabe der Monumente durch graphische Mittel kann man, selbst wenn man das größte Museum von Ab¬ güssen zur Verfügung hat, nicht entbehren.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/655
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/655>, abgerufen am 28.09.2024.