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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Poetische Theorie" und Theorie der Poesie.

die Sucht, sie mehr bedeuten, mehr scheinen zu lassen, als sie selbst sein und
vertreten wollten. Man erreicht damit immer das Entgegengesetzte jener Ab¬
sicht, man trübt und schwächt ihr Licht, statt es zu erhöhen und zu verbreiten.
Aristoteles, der glückliche erste Besitzergreifer der beobachtenden Wissenschaft,
noch nicht belastet mit den: Staube der Bibliotheken aller Jahrhunderte, noch
nicht umnebelt von dem Qualm der Kontroversen, der Spitzfindigkeiten und
Paradoxen, kann uns, wie die Alten überhaupt, immer zum geistigen Jung¬
brunnen dienen, in dem wir die stumpfen Sinne kräftigen, überlästigen Ballast
wegwerfen können, um immer wieder von neuem frisch an die Dinge heran¬
zutreten. Und Goethe, das große Auge der modernen Welt, in der Zeit höchster
Wirrnis ein Geschenk der Vorsehung, um uns in ihr zurechtzufinden, soll uns
fortan ein Weiser sein auf die Höhen des Lebens, selbst im dunkelsten Thale.
Schüttet man aber in den Jungbrunnen der Alten den ganzen Kessel seitheriger
Anschauungen und Diftelcien hinein und stattet das Goethischc Auge mit der
Brille aus, vor der es einen so großen Abscheu hatte, el! dann behalte man
Jungbrunnen und Leitstern für sich, dann lasse man uns lieber auf die eigne
Kraft vertrauen, und "verwirre das Gefühl uns nicht." Dies aber geschieht,
wenn man die Alten zu Autoritäten für ganz moderne Anschauungen und Em¬
pfindungen stempelt und Goethe, ja nicht bloß ihn, sogar Shakespeare, den
menschlichsten der Dichter, zum überlegenen Allegoristen macht, der eigentlich
immer etwas andres meint und "hyponoirt," als er sagt und darstellt. Sicherlich
ist jede Zeile in Goethes und Shakespeares Meisterwerken "bedeutend." Aber
es wäre schrecklich, wenn jedes Wort, jede Szene darin "bedeutsam" wäre und
uns veranlaßte, einen ganz andern übersinnlichen Sinn damit zu verbinden als
den rein menschlichen, den selbst der schlichte Bauersmann in seiner Weise daraus
entnehmen kann. Ob nun Shakespeare in seinem "Sturm" uns eigentlich ein
ästhetisches Kolleg hält, ob die Insel das "Zanbereiland der Phantasie" be¬
deutet, Ariel "den Wahnglauben der Poesie," Prospero den "Kunstverstand" u.s.w.
(S, 370 ff.), das ist uns höchst gleichgiltig. Wenn wir offen reden sollen, es
wäre uns sogar höchst ärgerlich. Die Dichtung ist kein Rätsclspicl, und die.
welche Geschmack daran finden, sie dazu zu benutzen, sollten ihre Gesellschafts¬
spiele mindestens privatim veranstalten.

Die Hartnäckigkeit, mit der gerade wieder einmal in letzter Zeit die Versuche
hierzu auftraten, möge die Entschiedenheit dieser Abwehr entschuldigen. Man
hat mit ihnen schon zu traurige Erfahrungen gemacht. Sie haben es stets
mit Virtuosität verstanden, die Dichtung in den Augen ernster Leute herab¬
zusetzen, und wir haben heute wahrhaftig das Gegenteil nötig. Gerade ein so
liebevoller Ausleger, zugleich mit Gelehrsamkeit und Geschmack ausgestattet, kann
hierzu verleiten, auch da, wo er selbst sich von seiner Sucht frei erhält. Denn
auch bei denjenigen Dichtungen, die er mit seinem Rätselschlüsfel völlig verschont,
merkt man auf Schritt und Tritt, wie ihm die Hand darnach zuckt. Man


Poetische Theorie» und Theorie der Poesie.

die Sucht, sie mehr bedeuten, mehr scheinen zu lassen, als sie selbst sein und
vertreten wollten. Man erreicht damit immer das Entgegengesetzte jener Ab¬
sicht, man trübt und schwächt ihr Licht, statt es zu erhöhen und zu verbreiten.
Aristoteles, der glückliche erste Besitzergreifer der beobachtenden Wissenschaft,
noch nicht belastet mit den: Staube der Bibliotheken aller Jahrhunderte, noch
nicht umnebelt von dem Qualm der Kontroversen, der Spitzfindigkeiten und
Paradoxen, kann uns, wie die Alten überhaupt, immer zum geistigen Jung¬
brunnen dienen, in dem wir die stumpfen Sinne kräftigen, überlästigen Ballast
wegwerfen können, um immer wieder von neuem frisch an die Dinge heran¬
zutreten. Und Goethe, das große Auge der modernen Welt, in der Zeit höchster
Wirrnis ein Geschenk der Vorsehung, um uns in ihr zurechtzufinden, soll uns
fortan ein Weiser sein auf die Höhen des Lebens, selbst im dunkelsten Thale.
Schüttet man aber in den Jungbrunnen der Alten den ganzen Kessel seitheriger
Anschauungen und Diftelcien hinein und stattet das Goethischc Auge mit der
Brille aus, vor der es einen so großen Abscheu hatte, el! dann behalte man
Jungbrunnen und Leitstern für sich, dann lasse man uns lieber auf die eigne
Kraft vertrauen, und „verwirre das Gefühl uns nicht." Dies aber geschieht,
wenn man die Alten zu Autoritäten für ganz moderne Anschauungen und Em¬
pfindungen stempelt und Goethe, ja nicht bloß ihn, sogar Shakespeare, den
menschlichsten der Dichter, zum überlegenen Allegoristen macht, der eigentlich
immer etwas andres meint und „hyponoirt," als er sagt und darstellt. Sicherlich
ist jede Zeile in Goethes und Shakespeares Meisterwerken „bedeutend." Aber
es wäre schrecklich, wenn jedes Wort, jede Szene darin „bedeutsam" wäre und
uns veranlaßte, einen ganz andern übersinnlichen Sinn damit zu verbinden als
den rein menschlichen, den selbst der schlichte Bauersmann in seiner Weise daraus
entnehmen kann. Ob nun Shakespeare in seinem „Sturm" uns eigentlich ein
ästhetisches Kolleg hält, ob die Insel das „Zanbereiland der Phantasie" be¬
deutet, Ariel „den Wahnglauben der Poesie," Prospero den „Kunstverstand" u.s.w.
(S, 370 ff.), das ist uns höchst gleichgiltig. Wenn wir offen reden sollen, es
wäre uns sogar höchst ärgerlich. Die Dichtung ist kein Rätsclspicl, und die.
welche Geschmack daran finden, sie dazu zu benutzen, sollten ihre Gesellschafts¬
spiele mindestens privatim veranstalten.

Die Hartnäckigkeit, mit der gerade wieder einmal in letzter Zeit die Versuche
hierzu auftraten, möge die Entschiedenheit dieser Abwehr entschuldigen. Man
hat mit ihnen schon zu traurige Erfahrungen gemacht. Sie haben es stets
mit Virtuosität verstanden, die Dichtung in den Augen ernster Leute herab¬
zusetzen, und wir haben heute wahrhaftig das Gegenteil nötig. Gerade ein so
liebevoller Ausleger, zugleich mit Gelehrsamkeit und Geschmack ausgestattet, kann
hierzu verleiten, auch da, wo er selbst sich von seiner Sucht frei erhält. Denn
auch bei denjenigen Dichtungen, die er mit seinem Rätselschlüsfel völlig verschont,
merkt man auf Schritt und Tritt, wie ihm die Hand darnach zuckt. Man


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[0651] Poetische Theorie» und Theorie der Poesie. die Sucht, sie mehr bedeuten, mehr scheinen zu lassen, als sie selbst sein und vertreten wollten. Man erreicht damit immer das Entgegengesetzte jener Ab¬ sicht, man trübt und schwächt ihr Licht, statt es zu erhöhen und zu verbreiten. Aristoteles, der glückliche erste Besitzergreifer der beobachtenden Wissenschaft, noch nicht belastet mit den: Staube der Bibliotheken aller Jahrhunderte, noch nicht umnebelt von dem Qualm der Kontroversen, der Spitzfindigkeiten und Paradoxen, kann uns, wie die Alten überhaupt, immer zum geistigen Jung¬ brunnen dienen, in dem wir die stumpfen Sinne kräftigen, überlästigen Ballast wegwerfen können, um immer wieder von neuem frisch an die Dinge heran¬ zutreten. Und Goethe, das große Auge der modernen Welt, in der Zeit höchster Wirrnis ein Geschenk der Vorsehung, um uns in ihr zurechtzufinden, soll uns fortan ein Weiser sein auf die Höhen des Lebens, selbst im dunkelsten Thale. Schüttet man aber in den Jungbrunnen der Alten den ganzen Kessel seitheriger Anschauungen und Diftelcien hinein und stattet das Goethischc Auge mit der Brille aus, vor der es einen so großen Abscheu hatte, el! dann behalte man Jungbrunnen und Leitstern für sich, dann lasse man uns lieber auf die eigne Kraft vertrauen, und „verwirre das Gefühl uns nicht." Dies aber geschieht, wenn man die Alten zu Autoritäten für ganz moderne Anschauungen und Em¬ pfindungen stempelt und Goethe, ja nicht bloß ihn, sogar Shakespeare, den menschlichsten der Dichter, zum überlegenen Allegoristen macht, der eigentlich immer etwas andres meint und „hyponoirt," als er sagt und darstellt. Sicherlich ist jede Zeile in Goethes und Shakespeares Meisterwerken „bedeutend." Aber es wäre schrecklich, wenn jedes Wort, jede Szene darin „bedeutsam" wäre und uns veranlaßte, einen ganz andern übersinnlichen Sinn damit zu verbinden als den rein menschlichen, den selbst der schlichte Bauersmann in seiner Weise daraus entnehmen kann. Ob nun Shakespeare in seinem „Sturm" uns eigentlich ein ästhetisches Kolleg hält, ob die Insel das „Zanbereiland der Phantasie" be¬ deutet, Ariel „den Wahnglauben der Poesie," Prospero den „Kunstverstand" u.s.w. (S, 370 ff.), das ist uns höchst gleichgiltig. Wenn wir offen reden sollen, es wäre uns sogar höchst ärgerlich. Die Dichtung ist kein Rätsclspicl, und die. welche Geschmack daran finden, sie dazu zu benutzen, sollten ihre Gesellschafts¬ spiele mindestens privatim veranstalten. Die Hartnäckigkeit, mit der gerade wieder einmal in letzter Zeit die Versuche hierzu auftraten, möge die Entschiedenheit dieser Abwehr entschuldigen. Man hat mit ihnen schon zu traurige Erfahrungen gemacht. Sie haben es stets mit Virtuosität verstanden, die Dichtung in den Augen ernster Leute herab¬ zusetzen, und wir haben heute wahrhaftig das Gegenteil nötig. Gerade ein so liebevoller Ausleger, zugleich mit Gelehrsamkeit und Geschmack ausgestattet, kann hierzu verleiten, auch da, wo er selbst sich von seiner Sucht frei erhält. Denn auch bei denjenigen Dichtungen, die er mit seinem Rätselschlüsfel völlig verschont, merkt man auf Schritt und Tritt, wie ihm die Hand darnach zuckt. Man

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/651>, abgerufen am 28.09.2024.