Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

iisdem" müssen wir Hermann Baumgart nun einmal nennen, obwohl es ein ab¬
scheuliches Wort ist und wir uns verwahren, diejenige Wertschätzung damit zu
verbinden, welche es zu einem polemischen Lieblingsworte aller nähern und
entfernten Verwandten des Materialismus gemacht hat. Aber wir müssen ihn
so nennen, weil seine Kritik Kants und Schillers beweist, daß er sich nicht mit
dem Idealismus in eins setzen mag. Wenn wir ihn richtig auffassen (s. be¬
sonders S. 721 f.), so trennt ihn von der idealistischen Ästhetik die Ausschließung
des pathologischen, des Gefühlsclements. Bei ihm arbeitet in der Kunst fort¬
während der ganze Apparat innerer Kräfte und "Energien," welche die Welt,
und natürlich auch die kleine Welt, das Kunstwerk, gestaltet, und daher weiß er
sich in Kants großartigen Abschluß der Ästhetik im freien, interesselosen Kunst¬
urteil nicht zu finden. Und mit einer wahren Wonne klammert er sich dann
an Ausdrücke wie "ästhetisches Vergnügen," "moralisches Gefühl," um Schiller
und Kant Widersprüche und ungenügende "kritische Scheidungen" nachzuweisen.
Dagegen führt er nnn seinen Aristoteles, ausgestattet mit der Unfehlbarkeits¬
tiara seiner Erklärungen (^riLtotvIsirr InlÄlidilvln), ins Treffen: wie der so
wohl gewußt hat, daß die "Freude" sich immer an die Thätigkeit ("Energie")
knüpft und die "höchste Freude" immer an die größte Thätigkeit, und daß das
Kunstwerk daher "Freude" erzeuge, und eine "unschädliche," wenn es mittelmäßig
ist (welche, wenn es schlecht ist?)! daß Aristoteles aber auch wieder Recht hat, wenn
er ein andermal sagt, das Kunstwerk ziele durchaus nicht auf "Lust" ab u. s. w. Der
Leser wird wohl daran schon merken, wie der Hase kunst, nämlich in ein Revier,
in dem die Wortstreite in Blüte stehen, und wir wollen ihn nicht zu der "freu¬
digen Thätigkeit" einladen, uns dahin zu folgen. Viel leichter wird es, in das
ihnen zu Grnnde liegende Thatsächliche einzudringen, wenn er versucht, sich
daraus nur ein Gesamtbild der darin verborgenen treibenden Kraft -- sagen
wir mit Baumgart der "Energien," die ihm bei allen Dingen die Hauptsache
sind -- zu gewinnen. Denn mit Umkehrung des bekannten Spruches: Wie
jemandes Gott ist, so ist er selbst! Und so wird er schließlich erkennen, daß
diesen Wortstreiten ein wirklicher Gegensatz zu Grunde liegt; nur daß er beileibe
nicht in den heftig bestrittenen Worten liegt, sondern in der Natur des streit¬
samen Beurteilers.

Man kann den Spiritualismus als den nicht zur kritischen Erkenntnis
seiner selbst gelangten (oder gelangen wollenden) natürlichen Idealismus be¬
zeichnen. Im Spiritualismus liegt die Grundanschauung, alle Keime zum
Idealismus. Der Idealismus ist ihnen gleichsam vermaterialisirt. Was dort
Idee ist, wird hier zur realen Substanz, die in allem Geschehen verborgen, aber
thatsächlich wirkt, was dort reale Erscheinung ist, wird hier zum nichtigen Schein,
hinter dem der eigentliche "Sinn" nur wichtig ist, zum Symbol. Der Spiri¬
tualismus ist demnach eine vortreffliche Grundlage für die Religion und eine
gewisse Seite der Kunst, aber in der Wissenschaft führt er -- wohin? Nun


GnnMnl I. 1888. 81

iisdem" müssen wir Hermann Baumgart nun einmal nennen, obwohl es ein ab¬
scheuliches Wort ist und wir uns verwahren, diejenige Wertschätzung damit zu
verbinden, welche es zu einem polemischen Lieblingsworte aller nähern und
entfernten Verwandten des Materialismus gemacht hat. Aber wir müssen ihn
so nennen, weil seine Kritik Kants und Schillers beweist, daß er sich nicht mit
dem Idealismus in eins setzen mag. Wenn wir ihn richtig auffassen (s. be¬
sonders S. 721 f.), so trennt ihn von der idealistischen Ästhetik die Ausschließung
des pathologischen, des Gefühlsclements. Bei ihm arbeitet in der Kunst fort¬
während der ganze Apparat innerer Kräfte und „Energien," welche die Welt,
und natürlich auch die kleine Welt, das Kunstwerk, gestaltet, und daher weiß er
sich in Kants großartigen Abschluß der Ästhetik im freien, interesselosen Kunst¬
urteil nicht zu finden. Und mit einer wahren Wonne klammert er sich dann
an Ausdrücke wie „ästhetisches Vergnügen," „moralisches Gefühl," um Schiller
und Kant Widersprüche und ungenügende „kritische Scheidungen" nachzuweisen.
Dagegen führt er nnn seinen Aristoteles, ausgestattet mit der Unfehlbarkeits¬
tiara seiner Erklärungen (^riLtotvIsirr InlÄlidilvln), ins Treffen: wie der so
wohl gewußt hat, daß die „Freude" sich immer an die Thätigkeit („Energie")
knüpft und die „höchste Freude" immer an die größte Thätigkeit, und daß das
Kunstwerk daher „Freude" erzeuge, und eine „unschädliche," wenn es mittelmäßig
ist (welche, wenn es schlecht ist?)! daß Aristoteles aber auch wieder Recht hat, wenn
er ein andermal sagt, das Kunstwerk ziele durchaus nicht auf „Lust" ab u. s. w. Der
Leser wird wohl daran schon merken, wie der Hase kunst, nämlich in ein Revier,
in dem die Wortstreite in Blüte stehen, und wir wollen ihn nicht zu der „freu¬
digen Thätigkeit" einladen, uns dahin zu folgen. Viel leichter wird es, in das
ihnen zu Grnnde liegende Thatsächliche einzudringen, wenn er versucht, sich
daraus nur ein Gesamtbild der darin verborgenen treibenden Kraft — sagen
wir mit Baumgart der „Energien," die ihm bei allen Dingen die Hauptsache
sind — zu gewinnen. Denn mit Umkehrung des bekannten Spruches: Wie
jemandes Gott ist, so ist er selbst! Und so wird er schließlich erkennen, daß
diesen Wortstreiten ein wirklicher Gegensatz zu Grunde liegt; nur daß er beileibe
nicht in den heftig bestrittenen Worten liegt, sondern in der Natur des streit¬
samen Beurteilers.

Man kann den Spiritualismus als den nicht zur kritischen Erkenntnis
seiner selbst gelangten (oder gelangen wollenden) natürlichen Idealismus be¬
zeichnen. Im Spiritualismus liegt die Grundanschauung, alle Keime zum
Idealismus. Der Idealismus ist ihnen gleichsam vermaterialisirt. Was dort
Idee ist, wird hier zur realen Substanz, die in allem Geschehen verborgen, aber
thatsächlich wirkt, was dort reale Erscheinung ist, wird hier zum nichtigen Schein,
hinter dem der eigentliche „Sinn" nur wichtig ist, zum Symbol. Der Spiri¬
tualismus ist demnach eine vortreffliche Grundlage für die Religion und eine
gewisse Seite der Kunst, aber in der Wissenschaft führt er — wohin? Nun


GnnMnl I. 1888. 81
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0649" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/202748"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_2281" prev="#ID_2280"> iisdem" müssen wir Hermann Baumgart nun einmal nennen, obwohl es ein ab¬<lb/>
scheuliches Wort ist und wir uns verwahren, diejenige Wertschätzung damit zu<lb/>
verbinden, welche es zu einem polemischen Lieblingsworte aller nähern und<lb/>
entfernten Verwandten des Materialismus gemacht hat. Aber wir müssen ihn<lb/>
so nennen, weil seine Kritik Kants und Schillers beweist, daß er sich nicht mit<lb/>
dem Idealismus in eins setzen mag. Wenn wir ihn richtig auffassen (s. be¬<lb/>
sonders S. 721 f.), so trennt ihn von der idealistischen Ästhetik die Ausschließung<lb/>
des pathologischen, des Gefühlsclements. Bei ihm arbeitet in der Kunst fort¬<lb/>
während der ganze Apparat innerer Kräfte und &#x201E;Energien," welche die Welt,<lb/>
und natürlich auch die kleine Welt, das Kunstwerk, gestaltet, und daher weiß er<lb/>
sich in Kants großartigen Abschluß der Ästhetik im freien, interesselosen Kunst¬<lb/>
urteil nicht zu finden. Und mit einer wahren Wonne klammert er sich dann<lb/>
an Ausdrücke wie &#x201E;ästhetisches Vergnügen," &#x201E;moralisches Gefühl," um Schiller<lb/>
und Kant Widersprüche und ungenügende &#x201E;kritische Scheidungen" nachzuweisen.<lb/>
Dagegen führt er nnn seinen Aristoteles, ausgestattet mit der Unfehlbarkeits¬<lb/>
tiara seiner Erklärungen (^riLtotvIsirr InlÄlidilvln), ins Treffen: wie der so<lb/>
wohl gewußt hat, daß die &#x201E;Freude" sich immer an die Thätigkeit (&#x201E;Energie")<lb/>
knüpft und die &#x201E;höchste Freude" immer an die größte Thätigkeit, und daß das<lb/>
Kunstwerk daher &#x201E;Freude" erzeuge, und eine &#x201E;unschädliche," wenn es mittelmäßig<lb/>
ist (welche, wenn es schlecht ist?)! daß Aristoteles aber auch wieder Recht hat, wenn<lb/>
er ein andermal sagt, das Kunstwerk ziele durchaus nicht auf &#x201E;Lust" ab u. s. w. Der<lb/>
Leser wird wohl daran schon merken, wie der Hase kunst, nämlich in ein Revier,<lb/>
in dem die Wortstreite in Blüte stehen, und wir wollen ihn nicht zu der &#x201E;freu¬<lb/>
digen Thätigkeit" einladen, uns dahin zu folgen. Viel leichter wird es, in das<lb/>
ihnen zu Grnnde liegende Thatsächliche einzudringen, wenn er versucht, sich<lb/>
daraus nur ein Gesamtbild der darin verborgenen treibenden Kraft &#x2014; sagen<lb/>
wir mit Baumgart der &#x201E;Energien," die ihm bei allen Dingen die Hauptsache<lb/>
sind &#x2014; zu gewinnen. Denn mit Umkehrung des bekannten Spruches: Wie<lb/>
jemandes Gott ist, so ist er selbst! Und so wird er schließlich erkennen, daß<lb/>
diesen Wortstreiten ein wirklicher Gegensatz zu Grunde liegt; nur daß er beileibe<lb/>
nicht in den heftig bestrittenen Worten liegt, sondern in der Natur des streit¬<lb/>
samen Beurteilers.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2282" next="#ID_2283"> Man kann den Spiritualismus als den nicht zur kritischen Erkenntnis<lb/>
seiner selbst gelangten (oder gelangen wollenden) natürlichen Idealismus be¬<lb/>
zeichnen. Im Spiritualismus liegt die Grundanschauung, alle Keime zum<lb/>
Idealismus. Der Idealismus ist ihnen gleichsam vermaterialisirt. Was dort<lb/>
Idee ist, wird hier zur realen Substanz, die in allem Geschehen verborgen, aber<lb/>
thatsächlich wirkt, was dort reale Erscheinung ist, wird hier zum nichtigen Schein,<lb/>
hinter dem der eigentliche &#x201E;Sinn" nur wichtig ist, zum Symbol. Der Spiri¬<lb/>
tualismus ist demnach eine vortreffliche Grundlage für die Religion und eine<lb/>
gewisse Seite der Kunst, aber in der Wissenschaft führt er &#x2014; wohin? Nun</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> GnnMnl I. 1888. 81</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0649] iisdem" müssen wir Hermann Baumgart nun einmal nennen, obwohl es ein ab¬ scheuliches Wort ist und wir uns verwahren, diejenige Wertschätzung damit zu verbinden, welche es zu einem polemischen Lieblingsworte aller nähern und entfernten Verwandten des Materialismus gemacht hat. Aber wir müssen ihn so nennen, weil seine Kritik Kants und Schillers beweist, daß er sich nicht mit dem Idealismus in eins setzen mag. Wenn wir ihn richtig auffassen (s. be¬ sonders S. 721 f.), so trennt ihn von der idealistischen Ästhetik die Ausschließung des pathologischen, des Gefühlsclements. Bei ihm arbeitet in der Kunst fort¬ während der ganze Apparat innerer Kräfte und „Energien," welche die Welt, und natürlich auch die kleine Welt, das Kunstwerk, gestaltet, und daher weiß er sich in Kants großartigen Abschluß der Ästhetik im freien, interesselosen Kunst¬ urteil nicht zu finden. Und mit einer wahren Wonne klammert er sich dann an Ausdrücke wie „ästhetisches Vergnügen," „moralisches Gefühl," um Schiller und Kant Widersprüche und ungenügende „kritische Scheidungen" nachzuweisen. Dagegen führt er nnn seinen Aristoteles, ausgestattet mit der Unfehlbarkeits¬ tiara seiner Erklärungen (^riLtotvIsirr InlÄlidilvln), ins Treffen: wie der so wohl gewußt hat, daß die „Freude" sich immer an die Thätigkeit („Energie") knüpft und die „höchste Freude" immer an die größte Thätigkeit, und daß das Kunstwerk daher „Freude" erzeuge, und eine „unschädliche," wenn es mittelmäßig ist (welche, wenn es schlecht ist?)! daß Aristoteles aber auch wieder Recht hat, wenn er ein andermal sagt, das Kunstwerk ziele durchaus nicht auf „Lust" ab u. s. w. Der Leser wird wohl daran schon merken, wie der Hase kunst, nämlich in ein Revier, in dem die Wortstreite in Blüte stehen, und wir wollen ihn nicht zu der „freu¬ digen Thätigkeit" einladen, uns dahin zu folgen. Viel leichter wird es, in das ihnen zu Grnnde liegende Thatsächliche einzudringen, wenn er versucht, sich daraus nur ein Gesamtbild der darin verborgenen treibenden Kraft — sagen wir mit Baumgart der „Energien," die ihm bei allen Dingen die Hauptsache sind — zu gewinnen. Denn mit Umkehrung des bekannten Spruches: Wie jemandes Gott ist, so ist er selbst! Und so wird er schließlich erkennen, daß diesen Wortstreiten ein wirklicher Gegensatz zu Grunde liegt; nur daß er beileibe nicht in den heftig bestrittenen Worten liegt, sondern in der Natur des streit¬ samen Beurteilers. Man kann den Spiritualismus als den nicht zur kritischen Erkenntnis seiner selbst gelangten (oder gelangen wollenden) natürlichen Idealismus be¬ zeichnen. Im Spiritualismus liegt die Grundanschauung, alle Keime zum Idealismus. Der Idealismus ist ihnen gleichsam vermaterialisirt. Was dort Idee ist, wird hier zur realen Substanz, die in allem Geschehen verborgen, aber thatsächlich wirkt, was dort reale Erscheinung ist, wird hier zum nichtigen Schein, hinter dem der eigentliche „Sinn" nur wichtig ist, zum Symbol. Der Spiri¬ tualismus ist demnach eine vortreffliche Grundlage für die Religion und eine gewisse Seite der Kunst, aber in der Wissenschaft führt er — wohin? Nun GnnMnl I. 1888. 81

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/649
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/649>, abgerufen am 28.09.2024.