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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Poetische Theorien und Theorie der Poesie.

blühenden Zustandes unserm poetischen Organismus zu erhalte", und sollten
unsre Bemühungen auch keinen andern Erfolg haben als die Erweiterung unsrer
wissenschaftlichen Erkenntnis.

Das ist wohl die Triebfeder in dem wiedererwachten Interesse der litte¬
rarisch gebildeten an der Poetik, ihren überkommenen Regeln und deren recht¬
mäßiger Anwendung, ihren alten Problemen und neuen Fragen. Man täusche
sich nicht mit dem Trugbilde einer rein beobachtenden, zu allem Ja und Amen
Sagenden kritischen Haltung. Der Widersinn liegt im Worte. Seine Entstehung
erklärt sich leicht aus der heute beliebten Übertragung naturwissenschaftlicher
Prinzipien auf die Erkenntnis geistiger Verhältnisse. Die Gesetzmäßigkeit, welche
hier angestrebt wird, ist ganz andrer Natur, indem sie nämlich immer zugleich
etwas praktisches, auf unser ferneres Thun und Treiben einflußgewinnendes
um sich hat. Ein neues Naturgesetz, welches die Wissenschaft entdeckt, selbst
wenn die Mechanik sich seiner bemächtigen und eine nützliche Einrichtung daran
hängen kann, ändert im wesentlichen nichts im Charakter der menschlichen Dinge.
Die Natur geht ihren großen, stillen Gang fort, und ob der Mechaniker auch
seinen Wagen an ihre Dampfkraft kettet oder der Sonne Licht für sein Bildnis
ausnutzt -- der Mensch im Eisenbahnwagen und auf der Photographie ist der¬
selbe, wie früher in Kutsche und Sänfte, auf Holzschnitt oder Silhouette. Der
Dampf bleibt für ihn der Dampf, ob er nun Räder bewegt oder nicht, und
die Sonne sieht er im Osten aufgehen, wenn er auch tausendmal gelernt hat,
daß sie nicht aufgeht. Ein bewährtes Prinzip dagegen, das die Geisteswissen-
schaft aufstellt, erringt den unermeßlichsten Einfluß auf unser Denken und Thun
und -- da es zugleich meist der Vater naturwissenschaftlicher Entdeckungen
wird und die gesellschaftlichen Einrichtungen (bis auf die Mode herab) be¬
stimmt -- auch auf die äußere Gestaltung der menschlichen Angelegenheiten.
Die christliche Welt hat ein andres Ansehen als die heidnische, die Renaissance
ein andres als das Mittelalter, das Zeitalter der kritischen Philosophie ein
andres als das der Scholastik u. s. w. Darum knüpft sich an jedes geistige
Prinzip der Kampf der Meinung, und während die Naturwissenschaft nur in¬
soweit von ihm berührt wird, als geistige Prinzipien an ihr in Frage kommen,
ist der ganze Betrieb der Geisteswissenschaft eine einzige, andauernde Schlacht,
von der selbst das fernste Winkelchen nicht unberührt bleibt. Das ist immer
so gewesen und wird trotz oder gerade wegen des Liebäugelns mit den gesetz¬
lichen Zuständen der Naturwissenschaften gerade heutzutage so bleiben. Und
das mögen besonders diejenigen gelegentlich beherzigen, welche die geistigste der
Geisteswissenschaften, die Kunstwissenschaft, in eine Art von Mineralogie zu
wandeln bestrebt sind, und an ihren feinsten, zartesten Zweig, die Poetik, wuchtige,
naturwissenschaftliche Wörter, wie "Mechanik der Gesellschaft," "Physiologie
der Phantasie" und dergleichen wunderliche Früchte der abblühenden natur¬
wissenschaftlichen Mode hängen.


Poetische Theorien und Theorie der Poesie.

blühenden Zustandes unserm poetischen Organismus zu erhalte», und sollten
unsre Bemühungen auch keinen andern Erfolg haben als die Erweiterung unsrer
wissenschaftlichen Erkenntnis.

Das ist wohl die Triebfeder in dem wiedererwachten Interesse der litte¬
rarisch gebildeten an der Poetik, ihren überkommenen Regeln und deren recht¬
mäßiger Anwendung, ihren alten Problemen und neuen Fragen. Man täusche
sich nicht mit dem Trugbilde einer rein beobachtenden, zu allem Ja und Amen
Sagenden kritischen Haltung. Der Widersinn liegt im Worte. Seine Entstehung
erklärt sich leicht aus der heute beliebten Übertragung naturwissenschaftlicher
Prinzipien auf die Erkenntnis geistiger Verhältnisse. Die Gesetzmäßigkeit, welche
hier angestrebt wird, ist ganz andrer Natur, indem sie nämlich immer zugleich
etwas praktisches, auf unser ferneres Thun und Treiben einflußgewinnendes
um sich hat. Ein neues Naturgesetz, welches die Wissenschaft entdeckt, selbst
wenn die Mechanik sich seiner bemächtigen und eine nützliche Einrichtung daran
hängen kann, ändert im wesentlichen nichts im Charakter der menschlichen Dinge.
Die Natur geht ihren großen, stillen Gang fort, und ob der Mechaniker auch
seinen Wagen an ihre Dampfkraft kettet oder der Sonne Licht für sein Bildnis
ausnutzt — der Mensch im Eisenbahnwagen und auf der Photographie ist der¬
selbe, wie früher in Kutsche und Sänfte, auf Holzschnitt oder Silhouette. Der
Dampf bleibt für ihn der Dampf, ob er nun Räder bewegt oder nicht, und
die Sonne sieht er im Osten aufgehen, wenn er auch tausendmal gelernt hat,
daß sie nicht aufgeht. Ein bewährtes Prinzip dagegen, das die Geisteswissen-
schaft aufstellt, erringt den unermeßlichsten Einfluß auf unser Denken und Thun
und — da es zugleich meist der Vater naturwissenschaftlicher Entdeckungen
wird und die gesellschaftlichen Einrichtungen (bis auf die Mode herab) be¬
stimmt — auch auf die äußere Gestaltung der menschlichen Angelegenheiten.
Die christliche Welt hat ein andres Ansehen als die heidnische, die Renaissance
ein andres als das Mittelalter, das Zeitalter der kritischen Philosophie ein
andres als das der Scholastik u. s. w. Darum knüpft sich an jedes geistige
Prinzip der Kampf der Meinung, und während die Naturwissenschaft nur in¬
soweit von ihm berührt wird, als geistige Prinzipien an ihr in Frage kommen,
ist der ganze Betrieb der Geisteswissenschaft eine einzige, andauernde Schlacht,
von der selbst das fernste Winkelchen nicht unberührt bleibt. Das ist immer
so gewesen und wird trotz oder gerade wegen des Liebäugelns mit den gesetz¬
lichen Zuständen der Naturwissenschaften gerade heutzutage so bleiben. Und
das mögen besonders diejenigen gelegentlich beherzigen, welche die geistigste der
Geisteswissenschaften, die Kunstwissenschaft, in eine Art von Mineralogie zu
wandeln bestrebt sind, und an ihren feinsten, zartesten Zweig, die Poetik, wuchtige,
naturwissenschaftliche Wörter, wie „Mechanik der Gesellschaft," „Physiologie
der Phantasie" und dergleichen wunderliche Früchte der abblühenden natur¬
wissenschaftlichen Mode hängen.


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[0645] Poetische Theorien und Theorie der Poesie. blühenden Zustandes unserm poetischen Organismus zu erhalte», und sollten unsre Bemühungen auch keinen andern Erfolg haben als die Erweiterung unsrer wissenschaftlichen Erkenntnis. Das ist wohl die Triebfeder in dem wiedererwachten Interesse der litte¬ rarisch gebildeten an der Poetik, ihren überkommenen Regeln und deren recht¬ mäßiger Anwendung, ihren alten Problemen und neuen Fragen. Man täusche sich nicht mit dem Trugbilde einer rein beobachtenden, zu allem Ja und Amen Sagenden kritischen Haltung. Der Widersinn liegt im Worte. Seine Entstehung erklärt sich leicht aus der heute beliebten Übertragung naturwissenschaftlicher Prinzipien auf die Erkenntnis geistiger Verhältnisse. Die Gesetzmäßigkeit, welche hier angestrebt wird, ist ganz andrer Natur, indem sie nämlich immer zugleich etwas praktisches, auf unser ferneres Thun und Treiben einflußgewinnendes um sich hat. Ein neues Naturgesetz, welches die Wissenschaft entdeckt, selbst wenn die Mechanik sich seiner bemächtigen und eine nützliche Einrichtung daran hängen kann, ändert im wesentlichen nichts im Charakter der menschlichen Dinge. Die Natur geht ihren großen, stillen Gang fort, und ob der Mechaniker auch seinen Wagen an ihre Dampfkraft kettet oder der Sonne Licht für sein Bildnis ausnutzt — der Mensch im Eisenbahnwagen und auf der Photographie ist der¬ selbe, wie früher in Kutsche und Sänfte, auf Holzschnitt oder Silhouette. Der Dampf bleibt für ihn der Dampf, ob er nun Räder bewegt oder nicht, und die Sonne sieht er im Osten aufgehen, wenn er auch tausendmal gelernt hat, daß sie nicht aufgeht. Ein bewährtes Prinzip dagegen, das die Geisteswissen- schaft aufstellt, erringt den unermeßlichsten Einfluß auf unser Denken und Thun und — da es zugleich meist der Vater naturwissenschaftlicher Entdeckungen wird und die gesellschaftlichen Einrichtungen (bis auf die Mode herab) be¬ stimmt — auch auf die äußere Gestaltung der menschlichen Angelegenheiten. Die christliche Welt hat ein andres Ansehen als die heidnische, die Renaissance ein andres als das Mittelalter, das Zeitalter der kritischen Philosophie ein andres als das der Scholastik u. s. w. Darum knüpft sich an jedes geistige Prinzip der Kampf der Meinung, und während die Naturwissenschaft nur in¬ soweit von ihm berührt wird, als geistige Prinzipien an ihr in Frage kommen, ist der ganze Betrieb der Geisteswissenschaft eine einzige, andauernde Schlacht, von der selbst das fernste Winkelchen nicht unberührt bleibt. Das ist immer so gewesen und wird trotz oder gerade wegen des Liebäugelns mit den gesetz¬ lichen Zuständen der Naturwissenschaften gerade heutzutage so bleiben. Und das mögen besonders diejenigen gelegentlich beherzigen, welche die geistigste der Geisteswissenschaften, die Kunstwissenschaft, in eine Art von Mineralogie zu wandeln bestrebt sind, und an ihren feinsten, zartesten Zweig, die Poetik, wuchtige, naturwissenschaftliche Wörter, wie „Mechanik der Gesellschaft," „Physiologie der Phantasie" und dergleichen wunderliche Früchte der abblühenden natur¬ wissenschaftlichen Mode hängen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/645>, abgerufen am 21.10.2024.