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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Poetische Theorien und Theorie der Poesie.

Mein Kater mant Tragödie,
Mein Rad hat lyrischen Schwung,
Meine Spindel spielt Komödie
Mit Tanzbelustigung.

(Uhland.)

Die von Lessing aus dem Schlafe geküßte, von Goethe befreite Prinzessin
Dichtkunst wollte von der alten Muhme Poetik, der sie so schlimme Dinge
Schuld gab, nichts mehr hören. Allein sie bedachte nicht, daß die schwatzhafte,
parfümirte und mit bunten Wortflittern behängte Hofdame, die nunmehr ihr
volles Vertrauen genoß, die Ästhetik, um kein Haar besser, in vieler Hinsicht
aber weit schlimmer war, als die immerhin blutsverwandte und ihr ausschließlich
ergebene Vorgängerin. Die Ästhetik hatte tausenderlei Beziehungen, mit der
Malerei, mit der Musik u. s. w., sie schielte immer zugleich auf diese hin, wenn
sie die Poesie im Auge hatte, und aus Furcht, es irgendwie nicht zu treffen
oder irgendwo anzustoßen, wurde sie immer kahler, flacher und allgemeiner.
Vor allem war da die Gebieterin der Ästhetik, die Philosophie. Sie hatte es
nun einmal der deutschen Poesie angethan. Und so lange ließ sie sich von ihr
mit Weisheitstränklein und Begriffsspeisen bewirten, bis es ihr immer wüster
im Kopfe und immer öder im Herzen wurde und es allerlei ästhetischen Wind¬
beuteln gelang, sie an ganz verdächtige Orte und in die allerschlechteste Gesell¬
schaft zu bringen. Hatte die Poetik sie in die internationale Studirstube ge¬
führt, so führte die Ästhetik sie in die fadesten Salons internationalen,
gelangweilten Geckentums. Hatte sie damals mit ihrer Herkunft ihrer Freiheit
vergessen, so vergaß sie jetzt ihren Adel und ihre Herkunft; blühten ihr damals
die aschgrauen Gespinnste "langer, langer Lehrgedichte und flächserner Helden¬
gedichte," so drohte ihr nun schließlich der Abgrund des Feuilletons, des Sen¬
sationsromans und des Salondramas.

In solchen Nöten ist es natürlich, daß man sich wieder der alten Wärterin
erinnert, die bei all ihren Schrullen und Übeln Seiten doch den großen Vorzug
der Gewissenhaftigkeit und der ausschließlichen Pflege ihres Schützlings besaß.
Vielleicht auch gerade wegen jener frühern Erziehungsresultate. Sie sind den
jetzigen Zuständen so entgegengesetzt; da mag sich wohl im Stillen die Hoffnung
regen, ein Übel durch das andre zu heilen und mit dieser allopathischen Be¬
handlung den mittlern, gesunden Zustand allmählich herbeizuführen. Freilich
hat man inzwischen gelernt, daß in poetischen wie in andern Dingen der Arzt
kein Gott ist, der aus einem hinfälligen Organismus blühendes Leben hervor¬
zaubern kann. Es kommt am letzten Ende auf den Organismus selber an, auf
einen erneuten Lebcnstrieb, das produktive Talent, das Genie, damit er wieder
aufstehe und in Kraft und Schönheit wandle. Den Gottschedischen Traum von
einer Erschaffung der Poesie mit gutem Willen und gründlichen Regeln träumen
wir nicht mehr. Aber wir sind trotzdem unsrer ärztlichen Pflicht eingedenk,
wir wollen wenigstens alles thun, um die Möglichkeit eines gesunden und


Poetische Theorien und Theorie der Poesie.

Mein Kater mant Tragödie,
Mein Rad hat lyrischen Schwung,
Meine Spindel spielt Komödie
Mit Tanzbelustigung.

(Uhland.)

Die von Lessing aus dem Schlafe geküßte, von Goethe befreite Prinzessin
Dichtkunst wollte von der alten Muhme Poetik, der sie so schlimme Dinge
Schuld gab, nichts mehr hören. Allein sie bedachte nicht, daß die schwatzhafte,
parfümirte und mit bunten Wortflittern behängte Hofdame, die nunmehr ihr
volles Vertrauen genoß, die Ästhetik, um kein Haar besser, in vieler Hinsicht
aber weit schlimmer war, als die immerhin blutsverwandte und ihr ausschließlich
ergebene Vorgängerin. Die Ästhetik hatte tausenderlei Beziehungen, mit der
Malerei, mit der Musik u. s. w., sie schielte immer zugleich auf diese hin, wenn
sie die Poesie im Auge hatte, und aus Furcht, es irgendwie nicht zu treffen
oder irgendwo anzustoßen, wurde sie immer kahler, flacher und allgemeiner.
Vor allem war da die Gebieterin der Ästhetik, die Philosophie. Sie hatte es
nun einmal der deutschen Poesie angethan. Und so lange ließ sie sich von ihr
mit Weisheitstränklein und Begriffsspeisen bewirten, bis es ihr immer wüster
im Kopfe und immer öder im Herzen wurde und es allerlei ästhetischen Wind¬
beuteln gelang, sie an ganz verdächtige Orte und in die allerschlechteste Gesell¬
schaft zu bringen. Hatte die Poetik sie in die internationale Studirstube ge¬
führt, so führte die Ästhetik sie in die fadesten Salons internationalen,
gelangweilten Geckentums. Hatte sie damals mit ihrer Herkunft ihrer Freiheit
vergessen, so vergaß sie jetzt ihren Adel und ihre Herkunft; blühten ihr damals
die aschgrauen Gespinnste „langer, langer Lehrgedichte und flächserner Helden¬
gedichte," so drohte ihr nun schließlich der Abgrund des Feuilletons, des Sen¬
sationsromans und des Salondramas.

In solchen Nöten ist es natürlich, daß man sich wieder der alten Wärterin
erinnert, die bei all ihren Schrullen und Übeln Seiten doch den großen Vorzug
der Gewissenhaftigkeit und der ausschließlichen Pflege ihres Schützlings besaß.
Vielleicht auch gerade wegen jener frühern Erziehungsresultate. Sie sind den
jetzigen Zuständen so entgegengesetzt; da mag sich wohl im Stillen die Hoffnung
regen, ein Übel durch das andre zu heilen und mit dieser allopathischen Be¬
handlung den mittlern, gesunden Zustand allmählich herbeizuführen. Freilich
hat man inzwischen gelernt, daß in poetischen wie in andern Dingen der Arzt
kein Gott ist, der aus einem hinfälligen Organismus blühendes Leben hervor¬
zaubern kann. Es kommt am letzten Ende auf den Organismus selber an, auf
einen erneuten Lebcnstrieb, das produktive Talent, das Genie, damit er wieder
aufstehe und in Kraft und Schönheit wandle. Den Gottschedischen Traum von
einer Erschaffung der Poesie mit gutem Willen und gründlichen Regeln träumen
wir nicht mehr. Aber wir sind trotzdem unsrer ärztlichen Pflicht eingedenk,
wir wollen wenigstens alles thun, um die Möglichkeit eines gesunden und


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[0644] Poetische Theorien und Theorie der Poesie. Mein Kater mant Tragödie, Mein Rad hat lyrischen Schwung, Meine Spindel spielt Komödie Mit Tanzbelustigung. (Uhland.) Die von Lessing aus dem Schlafe geküßte, von Goethe befreite Prinzessin Dichtkunst wollte von der alten Muhme Poetik, der sie so schlimme Dinge Schuld gab, nichts mehr hören. Allein sie bedachte nicht, daß die schwatzhafte, parfümirte und mit bunten Wortflittern behängte Hofdame, die nunmehr ihr volles Vertrauen genoß, die Ästhetik, um kein Haar besser, in vieler Hinsicht aber weit schlimmer war, als die immerhin blutsverwandte und ihr ausschließlich ergebene Vorgängerin. Die Ästhetik hatte tausenderlei Beziehungen, mit der Malerei, mit der Musik u. s. w., sie schielte immer zugleich auf diese hin, wenn sie die Poesie im Auge hatte, und aus Furcht, es irgendwie nicht zu treffen oder irgendwo anzustoßen, wurde sie immer kahler, flacher und allgemeiner. Vor allem war da die Gebieterin der Ästhetik, die Philosophie. Sie hatte es nun einmal der deutschen Poesie angethan. Und so lange ließ sie sich von ihr mit Weisheitstränklein und Begriffsspeisen bewirten, bis es ihr immer wüster im Kopfe und immer öder im Herzen wurde und es allerlei ästhetischen Wind¬ beuteln gelang, sie an ganz verdächtige Orte und in die allerschlechteste Gesell¬ schaft zu bringen. Hatte die Poetik sie in die internationale Studirstube ge¬ führt, so führte die Ästhetik sie in die fadesten Salons internationalen, gelangweilten Geckentums. Hatte sie damals mit ihrer Herkunft ihrer Freiheit vergessen, so vergaß sie jetzt ihren Adel und ihre Herkunft; blühten ihr damals die aschgrauen Gespinnste „langer, langer Lehrgedichte und flächserner Helden¬ gedichte," so drohte ihr nun schließlich der Abgrund des Feuilletons, des Sen¬ sationsromans und des Salondramas. In solchen Nöten ist es natürlich, daß man sich wieder der alten Wärterin erinnert, die bei all ihren Schrullen und Übeln Seiten doch den großen Vorzug der Gewissenhaftigkeit und der ausschließlichen Pflege ihres Schützlings besaß. Vielleicht auch gerade wegen jener frühern Erziehungsresultate. Sie sind den jetzigen Zuständen so entgegengesetzt; da mag sich wohl im Stillen die Hoffnung regen, ein Übel durch das andre zu heilen und mit dieser allopathischen Be¬ handlung den mittlern, gesunden Zustand allmählich herbeizuführen. Freilich hat man inzwischen gelernt, daß in poetischen wie in andern Dingen der Arzt kein Gott ist, der aus einem hinfälligen Organismus blühendes Leben hervor¬ zaubern kann. Es kommt am letzten Ende auf den Organismus selber an, auf einen erneuten Lebcnstrieb, das produktive Talent, das Genie, damit er wieder aufstehe und in Kraft und Schönheit wandle. Den Gottschedischen Traum von einer Erschaffung der Poesie mit gutem Willen und gründlichen Regeln träumen wir nicht mehr. Aber wir sind trotzdem unsrer ärztlichen Pflicht eingedenk, wir wollen wenigstens alles thun, um die Möglichkeit eines gesunden und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/644>, abgerufen am 28.09.2024.