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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Poetische Theorien und Theorie der Poesie.

künftigen Geschlechtern gemacht, zu erkennen, in welchen Einrichtungen, Gesetzen
und Maßnahmen das deutsche Volk die sichersten Bürgschaften seines Fort-
schreitens und Gedeihens findet, nachdem jetzt die Ziele der nationalen Ent¬
wicklung um so viel deutlicher zu Tage liegen. Gewaltig wird auch noch lange
Zeit das Beispiel der Männer nachwirken, durch deren politische Weisheit und
Kraft vornehmlich das Vaterland auf die Höhe gehoben worden ist, ans der es
sich befindet. Durch geschichtliche Thaten und Ereignisse von unvergleichlicher
Großartigkeit ist in Deutschland die Denkweise der Zeit bestimmt worden;
wäre es möglich, daß sie des geschichtlichen Sinnes auch nur annähernd in dem
Maße ermangeln könnte, wie dieser Sinn der Denkweise der Aufklcirungszcit
fremd blieb! Das Jahrhundert, welches seit 1789 dahingegangen ist, hat ge¬
lernt, daß in der Geschichte des menschlichen Fortschritts auch der Irrtum seine
bedeutsame Stellung hat, es hat treu und sorgsam die relativen Wahrheiten
weiter entwickelt, welche ihr durch das Gedankensystem der Aufklärung über¬
liefert sein mochten, aber es hat auch rüstigen Mutes Bahnen betreten, auf
welchen ihm andre Leuchten strahlen als die "Ideen von 1789." Unerschütterlich
vor allem steht der Glaube, daß die Gedanken, welche der Nation frommen
sollen, aus den Tiefen des Geistes und Herzens der Nation geboren sein müssen.
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poetische Theorien und Theorie der Poesie.

as Wort Poetik wird seit einiger Zeit in den litteraturwissen¬
schaftlichen und den (in Deutschland mit ihnen immer besonders
eng verbundenen) höhern litterarischen Kreisen wieder merkwürdig
oft genannt. Über ein Jahrhundert lang hat es dort in einem
sehr zweifelhaften, halb an Ladenjünglingsdilettantismus, halb an
Schullehrerseminar erinnernden Gerüche gestanden. Es klebte an dem Worte
etwas vou dem trüben Dunst der Handwerkslampe. mit dem die alte Hexe
Stubenpoesie die deutsche Dichtung betäubt hatte, vom eintönigen Spinurads-
trott der weiland "Poeterey":


Lange, lange Lehrgedichte,
Die spinne ich recht mit Fleiß,
Flächscne Heldengedichte
Die haspl' ich schnellerweis'.

Poetische Theorien und Theorie der Poesie.

künftigen Geschlechtern gemacht, zu erkennen, in welchen Einrichtungen, Gesetzen
und Maßnahmen das deutsche Volk die sichersten Bürgschaften seines Fort-
schreitens und Gedeihens findet, nachdem jetzt die Ziele der nationalen Ent¬
wicklung um so viel deutlicher zu Tage liegen. Gewaltig wird auch noch lange
Zeit das Beispiel der Männer nachwirken, durch deren politische Weisheit und
Kraft vornehmlich das Vaterland auf die Höhe gehoben worden ist, ans der es
sich befindet. Durch geschichtliche Thaten und Ereignisse von unvergleichlicher
Großartigkeit ist in Deutschland die Denkweise der Zeit bestimmt worden;
wäre es möglich, daß sie des geschichtlichen Sinnes auch nur annähernd in dem
Maße ermangeln könnte, wie dieser Sinn der Denkweise der Aufklcirungszcit
fremd blieb! Das Jahrhundert, welches seit 1789 dahingegangen ist, hat ge¬
lernt, daß in der Geschichte des menschlichen Fortschritts auch der Irrtum seine
bedeutsame Stellung hat, es hat treu und sorgsam die relativen Wahrheiten
weiter entwickelt, welche ihr durch das Gedankensystem der Aufklärung über¬
liefert sein mochten, aber es hat auch rüstigen Mutes Bahnen betreten, auf
welchen ihm andre Leuchten strahlen als die „Ideen von 1789." Unerschütterlich
vor allem steht der Glaube, daß die Gedanken, welche der Nation frommen
sollen, aus den Tiefen des Geistes und Herzens der Nation geboren sein müssen.
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poetische Theorien und Theorie der Poesie.

as Wort Poetik wird seit einiger Zeit in den litteraturwissen¬
schaftlichen und den (in Deutschland mit ihnen immer besonders
eng verbundenen) höhern litterarischen Kreisen wieder merkwürdig
oft genannt. Über ein Jahrhundert lang hat es dort in einem
sehr zweifelhaften, halb an Ladenjünglingsdilettantismus, halb an
Schullehrerseminar erinnernden Gerüche gestanden. Es klebte an dem Worte
etwas vou dem trüben Dunst der Handwerkslampe. mit dem die alte Hexe
Stubenpoesie die deutsche Dichtung betäubt hatte, vom eintönigen Spinurads-
trott der weiland „Poeterey":


Lange, lange Lehrgedichte,
Die spinne ich recht mit Fleiß,
Flächscne Heldengedichte
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[0643] Poetische Theorien und Theorie der Poesie. künftigen Geschlechtern gemacht, zu erkennen, in welchen Einrichtungen, Gesetzen und Maßnahmen das deutsche Volk die sichersten Bürgschaften seines Fort- schreitens und Gedeihens findet, nachdem jetzt die Ziele der nationalen Ent¬ wicklung um so viel deutlicher zu Tage liegen. Gewaltig wird auch noch lange Zeit das Beispiel der Männer nachwirken, durch deren politische Weisheit und Kraft vornehmlich das Vaterland auf die Höhe gehoben worden ist, ans der es sich befindet. Durch geschichtliche Thaten und Ereignisse von unvergleichlicher Großartigkeit ist in Deutschland die Denkweise der Zeit bestimmt worden; wäre es möglich, daß sie des geschichtlichen Sinnes auch nur annähernd in dem Maße ermangeln könnte, wie dieser Sinn der Denkweise der Aufklcirungszcit fremd blieb! Das Jahrhundert, welches seit 1789 dahingegangen ist, hat ge¬ lernt, daß in der Geschichte des menschlichen Fortschritts auch der Irrtum seine bedeutsame Stellung hat, es hat treu und sorgsam die relativen Wahrheiten weiter entwickelt, welche ihr durch das Gedankensystem der Aufklärung über¬ liefert sein mochten, aber es hat auch rüstigen Mutes Bahnen betreten, auf welchen ihm andre Leuchten strahlen als die „Ideen von 1789." Unerschütterlich vor allem steht der Glaube, daß die Gedanken, welche der Nation frommen sollen, aus den Tiefen des Geistes und Herzens der Nation geboren sein müssen. I^ö8 Krundös xöns6öL vlenricmt clef vosurs. poetische Theorien und Theorie der Poesie. as Wort Poetik wird seit einiger Zeit in den litteraturwissen¬ schaftlichen und den (in Deutschland mit ihnen immer besonders eng verbundenen) höhern litterarischen Kreisen wieder merkwürdig oft genannt. Über ein Jahrhundert lang hat es dort in einem sehr zweifelhaften, halb an Ladenjünglingsdilettantismus, halb an Schullehrerseminar erinnernden Gerüche gestanden. Es klebte an dem Worte etwas vou dem trüben Dunst der Handwerkslampe. mit dem die alte Hexe Stubenpoesie die deutsche Dichtung betäubt hatte, vom eintönigen Spinurads- trott der weiland „Poeterey": Lange, lange Lehrgedichte, Die spinne ich recht mit Fleiß, Flächscne Heldengedichte Die haspl' ich schnellerweis'.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/643>, abgerufen am 28.09.2024.