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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Ideen von ^789-

stützte. Dieser alte Hauptbau mochte immerhin ausgebessert und ausgeflickt
werden, er blieb in der Hauptsache erhalten, wurde nach und nach erweitert
und durch Ansätze, deren Zweckmäßigkeit durch Erfahrung erwiesen schien, den
Bedürfnissen der Bewohner angepaßt. Keines dieser Gebäude ist auf einmal
errichtet worden nach einem neuen Muster und nach Maßgabe reiner Vernunft¬
ideen. Vielleicht sind wir zu der Annahme genötigt, daß es nur auf diesem
Wege möglich ist, sich dauernd wohnlich einzurichten, und daß die plötzliche Er¬
findung einer neuen, angemessenen, dauerhaften Staatsverfassung eine Aufgabe
ist, welche die Kräfte des menschlichen Geistes übersteigt. Wen" die Verfassung,
deren wir bedürfen, besteht, so müssen wir sie entdecken; es hilft nichts, darüber
abstimmen zu lassen. Natur und Geschichte haben schon für uns gewählt.
Uns bleibt nur übrig, uns nach ihnen zu richten, denn so viel steht fest, sie
werden sich nach uns nicht richten. Die soziale und politische Form, in welcher
ein Volk sich einrichten und verbleiben will, ist nicht seiner Willkür überlassen,
sondern ein- für allemal bestimmt durch seinen Charakter und seine Vergangen¬
heit. Wenn wir je dazu kommen, die unsrige zu finden, so wird dies nur
dadurch gelingen, daß wir uns selbst studiren; je genauer wir wissen, was wir
sind, desto sicherer werden wir ausfindig machen, was uns zukommt. Daher
muß man die bisher üblichen Methoden umkehren und erst versuche", sich ein
treues Bild von der Nation zu machen, ehe man an die Ausarbeitung einer
Verfassung für dieselbe geht. Ohne Zweifel ist die erstere Aufgabe eine bei
weitem längere und schwierigere. Wie viel Zeit, wie viel Studien braucht es,
wie viel sich gegenseitig berichtigende Beobachtungen, wie viel Forschungen in
Gegenwart und Vergangenheit, auf allen Gebieten des Denkens und Handelns,
um eine genaue und vollständige Vorstellung zu bekommen von einem großen
Volke, das schon so viele Geschlechter durchlebt hat und noch in voller Lebens¬
kraft dasteht! Indessen, es giebt kein andres Mittel, um zu vermeiden, daß
man auf falscher Grundlage baut, nachdem mau ins Blaue hinein den Entwurf
gemacht hat. Ich wenigstens beschloß bei mir, wenn ich eines Tages mich
daran machen wollte, mir eine politische Meinung zu bilden, zu allererst mir
Klarheit zu verschaffen über die Frage: Was ist Frankreich?"

Die liberale Partei in Deutschland, welche ja während ihrer ersten Ent¬
wicklungsjahre allerdings vielfach befangen war in den abstrakten Lehren
vom Verfassungsstaat, darf sich das Zeugnis geben, daß gerade sie früher
als andre die Frage stellte: Auf welche Verfassung weist Deutschlands bisherige
Entwicklung? Wie richtig sie diese Frage beantwortete, dafür haben wir heute
den unerschütterlichen Beweis der Thatsachen. Das deutsche Reich ist errichtet,
indem es als an eine felsenfeste Stütze sich anlehnt an das preußische König¬
tum, den "ursprünglichen und massiven Kern" des politischen Gebäudes, worin
die deutsche Nation Wohnung genommen hat. Weit leichter als denjenigen,
welcher bei Begründung des Reiches ihre Manneskwft mit einsetzten, ist es


Die Ideen von ^789-

stützte. Dieser alte Hauptbau mochte immerhin ausgebessert und ausgeflickt
werden, er blieb in der Hauptsache erhalten, wurde nach und nach erweitert
und durch Ansätze, deren Zweckmäßigkeit durch Erfahrung erwiesen schien, den
Bedürfnissen der Bewohner angepaßt. Keines dieser Gebäude ist auf einmal
errichtet worden nach einem neuen Muster und nach Maßgabe reiner Vernunft¬
ideen. Vielleicht sind wir zu der Annahme genötigt, daß es nur auf diesem
Wege möglich ist, sich dauernd wohnlich einzurichten, und daß die plötzliche Er¬
findung einer neuen, angemessenen, dauerhaften Staatsverfassung eine Aufgabe
ist, welche die Kräfte des menschlichen Geistes übersteigt. Wen» die Verfassung,
deren wir bedürfen, besteht, so müssen wir sie entdecken; es hilft nichts, darüber
abstimmen zu lassen. Natur und Geschichte haben schon für uns gewählt.
Uns bleibt nur übrig, uns nach ihnen zu richten, denn so viel steht fest, sie
werden sich nach uns nicht richten. Die soziale und politische Form, in welcher
ein Volk sich einrichten und verbleiben will, ist nicht seiner Willkür überlassen,
sondern ein- für allemal bestimmt durch seinen Charakter und seine Vergangen¬
heit. Wenn wir je dazu kommen, die unsrige zu finden, so wird dies nur
dadurch gelingen, daß wir uns selbst studiren; je genauer wir wissen, was wir
sind, desto sicherer werden wir ausfindig machen, was uns zukommt. Daher
muß man die bisher üblichen Methoden umkehren und erst versuche», sich ein
treues Bild von der Nation zu machen, ehe man an die Ausarbeitung einer
Verfassung für dieselbe geht. Ohne Zweifel ist die erstere Aufgabe eine bei
weitem längere und schwierigere. Wie viel Zeit, wie viel Studien braucht es,
wie viel sich gegenseitig berichtigende Beobachtungen, wie viel Forschungen in
Gegenwart und Vergangenheit, auf allen Gebieten des Denkens und Handelns,
um eine genaue und vollständige Vorstellung zu bekommen von einem großen
Volke, das schon so viele Geschlechter durchlebt hat und noch in voller Lebens¬
kraft dasteht! Indessen, es giebt kein andres Mittel, um zu vermeiden, daß
man auf falscher Grundlage baut, nachdem mau ins Blaue hinein den Entwurf
gemacht hat. Ich wenigstens beschloß bei mir, wenn ich eines Tages mich
daran machen wollte, mir eine politische Meinung zu bilden, zu allererst mir
Klarheit zu verschaffen über die Frage: Was ist Frankreich?"

Die liberale Partei in Deutschland, welche ja während ihrer ersten Ent¬
wicklungsjahre allerdings vielfach befangen war in den abstrakten Lehren
vom Verfassungsstaat, darf sich das Zeugnis geben, daß gerade sie früher
als andre die Frage stellte: Auf welche Verfassung weist Deutschlands bisherige
Entwicklung? Wie richtig sie diese Frage beantwortete, dafür haben wir heute
den unerschütterlichen Beweis der Thatsachen. Das deutsche Reich ist errichtet,
indem es als an eine felsenfeste Stütze sich anlehnt an das preußische König¬
tum, den „ursprünglichen und massiven Kern" des politischen Gebäudes, worin
die deutsche Nation Wohnung genommen hat. Weit leichter als denjenigen,
welcher bei Begründung des Reiches ihre Manneskwft mit einsetzten, ist es


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/642>, abgerufen am 28.09.2024.