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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Willens. Es kann nicht geleugnet werden, daß bis auf die neueste Zeit eine
große Anzahl Franzosen in diesem Gedanken, daß alle Regierung nur Volks¬
auftrag sei, die glorreichste geistige Errungenschaft der Revolution von 1789
erblickt.

Ehe wir einen Blick auf Deutschland werfen, müssen wir nochmals als
Ergebnis der bisherigen Ausführung den Satz gegenwärtig halten: Die "Ideen
von 1789" sind nichts andres als die systematisch ausgebildete bürgerliche
Denkweise des achtzehnten Jahrhunderts mit Bezug auf Zustände und Be¬
dürfnisse des öffentlichen Lebens in Frankreich. Die bloße Lehre macht niemals
Revolutionen, deren Ursprung überwiegend im Willen zu suchen ist und nicht
im Intellekt. Wohl aber mag es der Fall sein, daß die Theorie nicht bloßer
Ausdruck des Denkens, sondern Formulirung eines Wollens ist, also nicht wissen¬
schaftliches System, sondern agitatorische Doktrin. Die letztere wird sich immer
mit Vorliebe in den Mantel des erstern hüllen, wovon in neuerer Zeit Ferdi¬
nand Lassalle ein besonders deutliches Beispiel geliefert hat. Reine Lehre inter-
essirt immer uur eine verschwindende Minderzahl von geistig hochstehenden, die
Masse schenkt ihr erst dann Aufmerksamkeit, wenn sie ihren Interessen Vorschub
zu leisten verspricht. Auf diese Weise kann zur Denkweise der Zeit werden, was
vordem vereinzelte Grille des Gelehrten schien. Der Maßstab und die Norm
für die revolutionäre Wirkung von Ideen liegt also in den thatsächlichen Inter¬
essen der Gesellschaft. Wie die Lehre vom Gesellschaftsvertrag einerseits ein
Gemeingut des bei den Kulturvölkern Europas in Ansehen stehenden rechts-
philosophischcn Systems war, anderseits in Frankreich durch Rousseau eine be¬
sondre Bildung erhalten hatte, so fand sich auch in den politischen und sozialen
Verhältnissen Deutschlands zum Teil Übereinstimmung mit den französischen,
zum Teil Verschiedenheit. Rechnet man dazu den Unterschied des Volkscharakters,
so wird man den Maßstab haben für den Grad, bis zu welchem die Ideen von
1789 in Deutschland zu einer Macht werden konnten. Die treibende Kraft
in Frankreich !waren die Bestrebungen des Bürgertums, sich zur herrschenden
Stellung im Staate zu erheben; die Leidenschaft, welche aufgerufen wurde, der
Haß gegen die Bevorrechteten. Zu einer Bekämpfung von Adelsvorrechten und
adlicher Nichtsnutzigkeit war in Deutschland während des ganzen achtzehnten
Jahrhunderts wahrlich Anlaß genug vorhanden. Dennoch lagen die Verhältnisse
in dieser Hinsicht hier ganz anders als in Frankreich. Vor allem kommt in
Betracht der tiefgreifende Unterschied zwischen landsässigem und reichsunmittel¬
baren Adel. Dann der Gegensatz zwischen den verrotteten Kleinstaaten und den
größern, lebensfähigern Gebieten; namentlich aber der Gegensatz Preußens zu
dem, was unter dem Namen "Reich" zusammengefaßt zu werden pflegte. Was
das französische Bürgertum in erster Linie verlangte, daß die Bevorrechteten
nicht Drohnen im Staate seien, sondern daß alle Staatsgenossen in den Dienst
der Gesellschaft genommen würden, dort eine nützliche Thätigkeit ausüben


Willens. Es kann nicht geleugnet werden, daß bis auf die neueste Zeit eine
große Anzahl Franzosen in diesem Gedanken, daß alle Regierung nur Volks¬
auftrag sei, die glorreichste geistige Errungenschaft der Revolution von 1789
erblickt.

Ehe wir einen Blick auf Deutschland werfen, müssen wir nochmals als
Ergebnis der bisherigen Ausführung den Satz gegenwärtig halten: Die „Ideen
von 1789" sind nichts andres als die systematisch ausgebildete bürgerliche
Denkweise des achtzehnten Jahrhunderts mit Bezug auf Zustände und Be¬
dürfnisse des öffentlichen Lebens in Frankreich. Die bloße Lehre macht niemals
Revolutionen, deren Ursprung überwiegend im Willen zu suchen ist und nicht
im Intellekt. Wohl aber mag es der Fall sein, daß die Theorie nicht bloßer
Ausdruck des Denkens, sondern Formulirung eines Wollens ist, also nicht wissen¬
schaftliches System, sondern agitatorische Doktrin. Die letztere wird sich immer
mit Vorliebe in den Mantel des erstern hüllen, wovon in neuerer Zeit Ferdi¬
nand Lassalle ein besonders deutliches Beispiel geliefert hat. Reine Lehre inter-
essirt immer uur eine verschwindende Minderzahl von geistig hochstehenden, die
Masse schenkt ihr erst dann Aufmerksamkeit, wenn sie ihren Interessen Vorschub
zu leisten verspricht. Auf diese Weise kann zur Denkweise der Zeit werden, was
vordem vereinzelte Grille des Gelehrten schien. Der Maßstab und die Norm
für die revolutionäre Wirkung von Ideen liegt also in den thatsächlichen Inter¬
essen der Gesellschaft. Wie die Lehre vom Gesellschaftsvertrag einerseits ein
Gemeingut des bei den Kulturvölkern Europas in Ansehen stehenden rechts-
philosophischcn Systems war, anderseits in Frankreich durch Rousseau eine be¬
sondre Bildung erhalten hatte, so fand sich auch in den politischen und sozialen
Verhältnissen Deutschlands zum Teil Übereinstimmung mit den französischen,
zum Teil Verschiedenheit. Rechnet man dazu den Unterschied des Volkscharakters,
so wird man den Maßstab haben für den Grad, bis zu welchem die Ideen von
1789 in Deutschland zu einer Macht werden konnten. Die treibende Kraft
in Frankreich !waren die Bestrebungen des Bürgertums, sich zur herrschenden
Stellung im Staate zu erheben; die Leidenschaft, welche aufgerufen wurde, der
Haß gegen die Bevorrechteten. Zu einer Bekämpfung von Adelsvorrechten und
adlicher Nichtsnutzigkeit war in Deutschland während des ganzen achtzehnten
Jahrhunderts wahrlich Anlaß genug vorhanden. Dennoch lagen die Verhältnisse
in dieser Hinsicht hier ganz anders als in Frankreich. Vor allem kommt in
Betracht der tiefgreifende Unterschied zwischen landsässigem und reichsunmittel¬
baren Adel. Dann der Gegensatz zwischen den verrotteten Kleinstaaten und den
größern, lebensfähigern Gebieten; namentlich aber der Gegensatz Preußens zu
dem, was unter dem Namen „Reich" zusammengefaßt zu werden pflegte. Was
das französische Bürgertum in erster Linie verlangte, daß die Bevorrechteten
nicht Drohnen im Staate seien, sondern daß alle Staatsgenossen in den Dienst
der Gesellschaft genommen würden, dort eine nützliche Thätigkeit ausüben


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/638>, abgerufen am 28.09.2024.